"Keine Minute, in der du nicht auf einem Bildschirm bist"
- "Keine Minute, in der du nicht auf einem Bildschirm bist"
- Machtfrage zwischen Konzernen und KP China
- Möglichkeiten und Grenzen eines Journalisten in China
- Auf einer Seite lesen
Der Journalist Christoph Giesen über Smartphones, regionale Corona-Apps und den kommunistischen Kapitalismus in China
Christoph Giesen, Journalist und China-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, ist Surveillance-Studies-Preisträger 2021. Der Preis wird vom Surveillance-Studies-Forschungsnetzwerk vergeben, das Preisgeld von Telepolis gestiftet. Mit seinem Text "Wir können Dich sehen" zur Überwachung in China hat er die Jury überzeugen können.
Nils Zurawski hat mit Christoph Giesen über die Hintergründe des Textes, die Überwachung in China und seine Arbeit als ausländischer Journalist in Peking gesprochen.
Bei dem Interview handelt es sich um eine gekürzte Version des Gespräches, die ausführliche Version können Sie im Podcast Berichte aus Panoptopia nachhören.
Was Sie in Ihrem Artikel schildern, klingt so, als wenn man in China keine Fußfessel am Bein hat, aber dafür eine in der Tasche, in Form eines Smartphones.
Christoph Giesen: Genau. Dazu mal ein Beispiel, was uns passiert ist. Als wir im letzten Jahr unsere Visa verlängert haben, haben wir für unseren älteren Sohn den Pass erneuert, weil das Bild bereits veraltet war und die verbleibende Laufzeit zu kurz war. Kinderpässe werden hier in der Botschaft ausgestellt. Mit dem neuen Pass wollten wir dann ein neues Visum beantragen. Bei der ganzen Familie außer unserem älteren Sohn war das kein Problem.
Bei ihm sagten die Behörden, dass er mit seinem Pass nicht im System sei. Ich entgegnete, das sei kein Problem, ich würde einfach nochmal zur Polizei gehen, ihn erneut anmelden und käme in ein paar Stunden wieder. Ich hatte dann von der Polizei ein Dokument, auf dem geschrieben stand, dass er angemeldet sei. Die Visumsbehörde fand ihn dennoch nicht in ihrem System.
Sie schlugen dann folgende Praxis vor: "Geht in ein Hotel und checkt ein, dann nehmen die euch automatisch in das System." Wenn Ausländer in Hotels einchecken, werden ihre Pässe gescannt, automatisch an die Polizei weitergeleitet und im Polizeicomputer gespeichert. Meine Frau hat das dann tatsächlich versucht, bevor das Visum ablaufen würde.
Im Hotel sagten sie allerdings, dass sie das nicht machen könnten, da der Fünfjährige keine Gesundheitsapp habe. Meine Frau erwiderte, er sei fünf Jahre alt sei und habe eben kein Handy. Das Hotel entgegnete, dass er dann nicht übernachten könnte. Im nächsten Hotel haben sie das Gleiche erzählt und irgendwann ist sie dann wieder zur Visumsbehörde zurück und hat denen gesagt, das sei dann jetzt deren Problem.
Fünfzehn Minuten bevor die Behörde schloss, haben sie eine Ausnahme gemacht. Es war klar deren Fehler, dann aber kommen sie mit so einer unpraktischen Idee, wie mit dem Hotel und erwarten von einem Fünfjährigen eine solche App. Jeder hat nun mal so eine App.
Als Wuhan wieder öffnete, konnte man sich ohne die Apps gar nicht bewegen. Ohne Apps keine Taxis oder U-Bahnen. Meine Peking-App funktionierte in Wuhan aber nicht. Die Apps sind regional organisiert. Und in Wuhan erkannten sie keine ausländischen Pässe in den Apps.
Was dazu geführt hat, dass ich nur mit meiner chinesischen Mitarbeiterin Taxi fahren konnte, U-Bahn ging gar nicht. Nachdem sie vorzeitig abreisen musste, saß ich fünf Tage da und konnte Wuhan nur auf zwei Wegen erkunden: Zum einen mit dem Team vom ZDF, das in meinem Hotel saß, oder mit einem Leihfahrrad, weil ich ja weder U-Bahn noch Taxi nutzen konnte. Und Wuhan ist so groß, dass man da nicht die ganze Zeit laufen kann. Aber ich hatte meine Recherchen abgeschlossen und das mit Humor genommen.
Das System ist da radikal. Für ältere Leute war das besonders hart. Leute, die bis dahin keine Smartphones hatten, brauchten jetzt so ein Ding. Und man musste denen erklären, welche Tasten zu drücken waren, was man wo scannen musste und was zu tun war, um ganz normal mit dem Bus zu fahren.
Da habe ich herzzerreißende Szenen gesehen mit Rentnern, die gerade aus dem Lockdown kamen und plötzlich vom Busfahrer nicht mehr mitgenommen, dafür von ihm angeschnauzt wurden. Da ist über Nacht ein System über das Land gekommen, was mit einer totalen Selbstverständlichkeit umgesetzt wird. Jeder scannt ständig irgendwelche QR-Codes und weiß gar nicht mehr, wofür die eigentlich stehen.
Datenschutz nur bei Konzernen
In Deutschland gäbe es da Protest oder zumindest Kritik an einem so umfassenden System. Ist es für die Chinesen nicht wichtig, dass sie wissen, wofür so ein QR-Code steht?
Christoph Giesen: Nein. Es gibt momentan zwar eine Bewegung für Datenschutz, aber da geht es nur um Firmen und den möglichen Missbrauch der Daten durch andere Firmen. Gerade geht die Regierung gegen Alibaba und solche Internetkonzerne vor, was allerdings eher ein Machtkampf ist, der da stattfinden, denn in diesem Land soll keine Organisation so mächtig werden wie die Kommunistische Partei Chinas.
Und was ihnen gerade aufgeht, ist, dass sie mit den vielen Apps, auch diesen Gesundheitsapps, aber auch aufgrund der universellen Einsetzbarkeit anderer Apps, zum Beispiel von Alipay oder Wechat – dass damit digitale Ökosysteme geschaffen worden sind, deren Besitzer sehr viel Macht über die Chinesen haben.
So kann man über Alipay risikofrei Kredite abschließen. Wirkliche Sicherheiten werden nicht benötigt. Wenn du zu einer Bank gehst und denen sagst, dass du deinen Kredit nicht zurückzahlen kannst, dann bekämst du in Deutschland einen Schufa-Eintrag und dein Leben ginge weiter. Was die beiden Konzerne Alibaba mit Alipay sowie Tencent mit WeChat haben, ist ein Machtinstrument, mit dem sie dich in die soziale Verbannung schicken, in dem sie dich für die jeweiligen Apps sperren.
Wenn du aber bei WeChat raus bist, dann zahlst Du nur noch per Bargeld und die Leute schauen dich komisch an, als seist du aus dem 20. Jahrhundert. Du kannst nicht mehr mit deinen Freunden kommunizieren, du kannst auch nicht mehr in viele Einrichtungen gehen, weil Du diesen Code nicht mehr vorzeigen kannst. Und dieser Code wird gerade ausgebaut, da werden Covid-Tests eingetragen und neuerdings Impfzertifikate. Der Code wird nur dann grün gefärbt, wenn du geimpft bist. Wenn er nicht grün ist, kannst Du weder Bahn fahren noch fliegen.
Ist das bereits mit dem Sozialkreditsystem verbunden?
Christoph Giesen: Nein, ist er nicht, aber das ist jederzeit denkbar. Diese Gesundheits-Apps sind, wie in meinem Text beschrieben, zeitnah nach Wuhan entstanden. Die erste Funktionalität der Apps war, herauszufinden, wer sich in Wuhan nach Ausbruch von Corona wann wo aufgehalten hat. Und das ist ausgebaut worden.
Mit der interessanten Konsequenz, dass es erst mal einen Flickenteppich gegeben hat, denn jede Stadt und Provinz hat ihre eigenen Apps programmiert. In vielen Provinzen funktioniert das nicht, weil du dich als Ausländer nicht registrieren kannst. Da reicht es zu sagen, ich habe die Pekinger App und das wird dann akzeptiert.
Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski sprechen in ihrem 2021 mit dem Surveillace-Studies-Publikationspreis prämierten Text von einer "programmierten Alternativlosigkeit", von elektronischer Weltaneignung und letztlich ist das auch das, was Sie in Ihrem Text beschreiben, oder?
Christoph Giesen: Mein Punkt ist diese totale Überwachung. Es gibt keine Minute, in der du nicht auf irgendeinem Bildschirm bist. Da hängt an jeder Ecke eine Kamera. Wenn ich bei mir aus der Tür rauslaufe, ist auf meine Tür eine Kamera gerichtet, sie können also sehen, wenn ich das Haus verlasse oder ankomme. Unser Wohnkomplex ist komplett überwacht. Es sind 100.000, wenn nicht Millionen Kameras angebracht und ich frage mich, wer das alles auswertet …
Was bedeutet das für Ihre Arbeit, Ihre Kontakte als Journalist?
Christoph Giesen: Wir gehen davon aus, dass ausgewertet wird, mit wem ich mich treffe. Die allererste Frage deshalb ist, wie man es mit der Kontaktanbahnung mit Leuten macht, die man noch nicht kennt. Das ist momentan der schwierige Akt. Wenn man eine Quelle hast, mit der man reden will, schrieb man Nachrichten auf Signal: "Kaffee?" Und dann kommst du erst mit dem Thema. Das ist der Weg, wenn die Leute Dir vertrauen sollen.
Aber dann brauchst du wieder Orte, an denen du dich treffen kannst, wo du sicher sein kannst, dass du nicht gefilmt wirst. Was sich anbietet, sind Situation, wo es laut ist: Partys in Botschaften oder in einem Auto mit getönten Scheiben, in dem laute Musik läuft. Der klassische Spaziergang im Park kann hier aufgenommen und dokumentiert werden, davon muss ich einfach ausgehen.
Die Frage ist vorwiegend die der Kontaktanbahnung, denn viele der Apps funktionieren nicht mehr. Signal ist seit Februar gesperrt. VPN funktioniert, aber dann kannst du nicht mehr neue Nummern registrieren, da Du die SMS zur Bestätigung nicht mehr bekommst. Das gilt auch für Whatsapp. Alles, was eine End-zu-Ende-Verschlüsselung hat, funktioniert nicht mehr.
Es wird viel über Wechat kommunizieren. Aber dann liest der Staat mit. Und bei Wechat musst du höllisch aufpassen, was du selbst postest. Wenn man allzu kritisches Zeug reinschreibt, dann besteht die Chance, dass sie dich sperren und löschen.
Und damit verlierst du deinen Draht zu vielen chinesischen Kontakten oder aber du schließt dich von der Bezahlfunktion oder im schlimmsten Fall auch von der Möglichkeit aus, dass du deine Corona-App laufen lassen kannst. Da gibt es unterschiedliche Abstufen, aber im schlimmsten Fall bist du komplett raus. Und dann ist man einfach sozial isoliert.
Das klingt wie eine Spirale, die sich immer schneller dreht. Ist so etwas umkehrbar oder ist das jenseits eines kritischen Punktes?
Christoph Giesen: Es ist jenseits des kritischen Punktes. Die Chinesen sind der festen Überzeugung, dass sie die Geister, die sie riefen, wieder eingefangen haben. So um die Jahre 2010, 2011 herum gab es eine plötzliche neue Onlinefreiheit, die das Land so nicht kannte
Man sperrte Facebook einfach, Twitter wurde erst gar nicht zugelassen. Die Idee der chinesischen Regierung dahinter war, eigene Klone zu bauen, um notfalls dazwischen gehen und das zensieren zu können.
Und damit haben sie sich um 2010, 2011 wahnsinnig verhoben. Was passierte, war, dass ein Dienst namens Weibo aufkam, ein Mix aus Facebook und Twitter, der hervorragend funktionierte.
Die chinesische Zensur ging nun so vor, dass sie bestimmte Worte suchte, um sie zu zensieren. Die chinesische Sprache ist jedoch wahnsinnig geeignet, um das zu umschiffen. Es werden Homonyme genutzt – ähnlich klingende Worte mit anderen Bedeutungen. So wurden sie letztlich dem Ansturm nicht mehr Herr.
Deutlich wurde das nach dem Unfall eines Schnellzuges auf der Strecke Shanghai-Peking. Da gab es innerhalb von 24 Stunden bis zu 20 Millionen Kommentare und eine herrliche offene Debatte auf Weibo.
Es wurde danach versucht, so etwas sehr drakonisch in den Griff zu bekommen. Eine der Ideen war, jeden User mit mehr als 5.000 Lesern seiner Posts oder Interaktionen als offizielle Publikation einzustufen. Der muss sich dann für Gerüchte verantworten. So haben sie das am Anfang geregelt.
Die zweite Entwicklung war der Erfolg von Wechat, wo Kommunikation nur noch innerhalb von Freundeskreisen stattfindet, und man nur sehen kann, was die Freunde kommentieren.
Diese Zeit des Ausprobierens und der freien Debatte in China, wo vieles möglich war, wurde komplett und erfolgreich zurückgedrängt. Jetzt glauben sie, dass sie die perfekte Zensur gefunden haben. Sie haben aber auch Schwachstellen. Eine davon ist, dass sie viele dieser Internetkonzerne völlig unreguliert groß haben werden lassen, gerade was den Finanzmarkt angeht.
Da waren sie so regelrecht stolz, dass der Westen mit seinen Banken so langsam ist und sie Leapfrogging betrieben, überall digitales Bezahlen hatten und man in einer App gleich noch eine Lebensversicherung und ein Konsumkredit mit abschließen kann.
Niemand hat daran gedacht, was passiert, wenn es zu massiven finanziellen Ausfällen kommt. Das kommt erst so langsam ins Bewusstsein, weshalb sie jetzt ganz gezielt gegen die Marktmacht der großen Konzerne vorgehen – auch weil sie sehen, wie groß Facebook, Apple oder Google im Westen werden und welche Konsequenzen das mit sich bringt.