"Keine Minute, in der du nicht auf einem Bildschirm bist"

Seite 2: Machtfrage zwischen Konzernen und KP China

China könnte diese Konzerne doch mit ganz anderen Mitteln zerschlagen als es der Westen kann. Die KP hätte da doch andere Durchgriffsmöglichkeiten!

Christoph Giesen: Sie haben andere Durchgriffsmöglichkeiten, weil bisher der Markt von Alibaba und Tencent fast ausschließlich auf China beschränkt gewesen ist. Die einzige Ausnahme ist Tiktok.

Die neueste Maßnahme ist, dass man bei mehr als einer Million Kundendaten, womit man in China ein Winzling ist, nach den neuesten Plänen der Regierung im Ausland nicht an die Börse gehen darf. Einige Unternehmen wie Alibaba sind in den USA an der Börse, aber das wird gerade massiv zurückgedreht.

Offiziell heißt es, man möchte die Kundendaten chinesischer Nutzer schützen, wobei diese Kundendaten nirgendwo so gut geschützt sind wie außerhalb Chinas. In Wahrheit will man nicht die Kontrolle über diese Konzerne verlieren, weil sie gemerkt haben, welche Macht die am Ende haben. Ob Du in diesem Land ein- oder auschecken kannst, entscheidet momentan nicht die KP Chinas, sondern einer der beiden großen Digitalkonzerne.

Sie hören zwar auf das, was die KP sagt, aber wenn man diese Machtfrage in ein paar Jahren stellt, könnte das womöglich anders sein.

Das sind sehr interessante Einblicke und mehr als Orwell sich hätte ausdenken können. Mir scheint, es ist vordergründig deshalb so effektiv, weil das System so perfekt in eine kunterbunte Konsum- und Lebenswelt eingebettet ist. Ein Überwachungsstaat, der seine Absichten hervorragend verpackt, nicht unbedingt versteckt, und bei dem man gern mitmachen möchte. Dazu haben sie eine Konsumideologie westlicher Prägung kopiert. Das ist Kapitalismus pur, geleitet von einer Kommunistischen Partei. Ist das noch ein kommunistisches Land?

Christoph Giesen: Nein. Der einzige Kommunismus, der hier noch existiert, ist das Design der Kommunistischen Partei, die aufgebaut ist wie eine leninistische Kaderorganisation. Sie organisiert ihre Macht nach dem Vorbild, aber ideologisch ist es unklar, was Xi Jinping denkt.

Um es mal auf eine sehr prägnante Formel zu bringen, dann könnte man am besten bei Donald Trump fündig werden, der sagte: "Make Amerika great again".

Und das ist Xis Plan: ein knallharter Nationalismus. Das hat eine gewisse Logik. Seit Tien‘anmen 1989 gibt es in Peking einen unausgesprochenen Pakt mit der Bevölkerung, der ungefähr so lautet: Ihr sorgt dafür, dass die Wirtschaft brummt und wir halten dafür die Klappe.

Dieser Pakt hat viele Jahre gut funktioniert, so bis 2008 vielleicht. Die Wirtschaft wuchs und das Wachstum war relativ gesund. Seitdem ist das Wachstum völlig aus den Fugen geraten.

China wächst, weil China wachsen muss. Ein Großteil des Wachstums wird durch Infrastrukturprojekte befördert. In den vergangenen Jahren ist China jedes Jahr um sieben Prozent gewachsen, weil sie unter jede Stadt eine U-Bahnlinie gebohrt und dem Land ein Schnellbahnsystem verpasst haben.

Aufkommen dafür müssen die chinesischen Sparer. China hat eine Rekordverschuldung angehäuft, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. Das funktioniert aber noch, weil China sehr strikte Kapitalausfuhrkontrollen hat. Das Geld bleibt im Land. Und weil es im Land bleibt, können die Banken es an Staatskonzerne verleihen und die bauen damit irgendwelche Stahlwerke; mit dem Stahl wird die soundsovielte Brücke über den Gelben Fluss gebaut.

Ökonomen sprechen von abnehmenden Grenznutzen. Und die sind längst erreicht. Da werden Projekte und Immobilien in die Höhe gezogen, für die man keine neuen Mieter findet. Die Leerstandsquote in Peking ist gigantisch, die Preise sind trotzdem massiv hoch, weil die Leute keine andere Investitionsmöglichkeit haben als den Immobilienmarkt.

Xi weiß, dass das Wachstum endlich ist und erhält es momentan künstlich am Leben. Deshalb braucht er für seine KP eine zweite Säule der Legitimation, um irgendwie begründen zu können, warum diese Partei noch an der Macht ist, wenn das Land nicht mehr wächst, sondern die Wirtschaft mal eine Delle bekommt. Und die Antwort ist der Nationalismus. Dann heißt es, andere sind schuld, wenn es China schlecht geht.

China sucht neue Absatzmärkte

Ist die Neue Seidenstraße oder das Engagement in Afrika nicht die andere Seite der Medaille, eine neue Art von Kolonialismus?

Christoph Giesen: Ich würde das gar nicht als Kolonialismus auslegen. Die Seidenstraße ist eigentlich ein Exportieren des chinesischen Ansatzes. Eine sehr beeindruckende Zahl zeigt das Dilemma. In den Jahren 2011 und 2012 hat China so viel Zement hergestellt hat, wie die USA im gesamten 20. Jahrhundert. Und die Überkapazitäten bei Stahl und Aluminium sind noch viel gewaltiger. Das muss ja irgendwie verbaut werden.

Das gilt etwa für die Schnellzug-Hersteller. Die stellten in ihrer besten Zeit bis zu 60 Schnellzüge pro Monat her. Das führt dazu, dass du eine riesige Workforce und sehr viel Material rund um die Uhr im Einsatz hast. Aber was macht man, wenn man feststellt, dass man alle Schnellzüge gebaut hat?

Dann braucht man diese Arbeiter nicht mehr oder man braucht einen neuen Markt, den Weltmarkt. Und der Weltmarkt des chinesischen Modells heißt hier Expansion. Wir gehen nach Afrika, nach Zentralamerika, nach Südostasien.

Da wird es dann unsportlich im Wettbewerb mit anderen Konzernen. Wenn du sagst, wir können eine Schnellbahn zwischen Nairobi und Lagos bauen, quer durch Afrika, dann hast Du nicht nur jemanden, der dir eine Schnellbahn verkauft, sondern du hast auch den Staatskonzern, der dir die Gleise legt, der die Arbeiter einfliegen lässt, und auch noch eine Im- und Exportbank, die dir den Kredit dafür besorgt.

Wie will man als europäischer Zughersteller – sei es Bombardier, Siemens oder Allstom – damit konkurrieren? Die haben keine Chance. Das wird als Komplettlösung verkauft und am Ende gibt es die Züge geschenkt obendrauf.

Für die Chinesen ist die Seidenstraße eine riesengroße Verkaufsmesse und ein Verschnaufen beim Umbau der eigenen Wirtschaft. Dahinter steckt die Frage, wie China seine Überkapazitäten abbauen kann, ohne gigantische soziale Probleme auszulösen.

Diese Darstellung zeigt sehr die Vernetzung zwischen allem und warum die Kontrolle gebraucht wird. Damit muss Xi sein Volk für die Idee begeistern und das Volk unter Kontrolle halten. Xi Jinping muss so zum Helden werden, ist das der Plan?

Christoph Giesen: Ja, aber man muss man sich auch die Typen anschauen, die da gerade von Big Data beseelt sind und auch deren Biografien anschauen. Es gibt da den Chefideologen Wang Huning, der ist ganz nah dran an Xi Jinping, schreibt ihm viele Reden, ist in der Parteihierarchie unter den Top 5 zu finden.

Der Mann ist ganz tief im Herzen und immer schon Kommunist gewesen. Der glaubt, dass die Planwirtschaft die richtige Form gewesen ist. Was den Sowjets gefehlt habe, seien vernünftige Daten gewesen, mit denen man das hätte steuern können.

Leute wie er sehen diese kapitalistische Episode als Zwischenstufe hin zu dem, was sie sich ideologisch vorgestellt hatten, indem sie alles bis auf den letzten Zentimeter ausmessen. Dann, so die Logik, wüssten sie, was wie wo und wann benötigt wird.

Der Staat ist in der Wahrnehmung der allermeisten Chinesen immer allmächtig gewesen. Das ist nichts Neues. Kritik hat es in der Form nie gegeben. Kritik am Datenschutz, wie wir sie kennen oder das Misstrauen, dass wir auch gerade in Deutschland dem Staat gegenüber haben, ist weltweit eher die Ausnahme, denn die Regel.

Deutsche haben viel aus dem Scheitern und Pervertieren der Systeme gelernt und wissen, dass so etwas umschlagen kann und man da eine gewisse Grundskepsis haben sollte. In China gibt es noch nicht einmal diese Form der Reflexion.

Sobald das Potenzial besteht, dass sich Protest formieren könnte, hast du den mächtigsten Gegner im Land, die KP Chinas, die zweitgrößte Massenorganisation nach der katholischen Kirche.

Auch, weil sie kraftstrotzend ist…

Christoph Giesen: Kraftstrotzend, aber ohne Humor. Das ist eine ganz interessante Konstruktion. Das zeigt auf der anderen Seite eigentlich wie ängstlich sie sind. Wie unecht das Selbstbewusstsein ist, das sie zur Schau tragen.

Als wenn sie ahnen würden, wie brüchig ist, was sie da veranstalten.

Christoph Giesen: Eines der großen Probleme ist, dass die KP Chinas auf dem Papier die Macht innehält – nur, in Wahrheit Xi Jinping diesen Einparteienstaat längst in einen Einpersonenstaat umgebaut hat oder noch dabei, ihn umzubauen. Seit Mao hatte keiner so viel Macht inne wie er.

Es ist auch inzwischen so, dass viele Debatten innerhalb des Apparats nicht mehr stattfinden, und im Apparat Angst herrscht, Entscheidungen zu treffen, weil niemand genau weiß, was der große Mann gerade denkt oder tut oder will, das man es tut.

Er hat die Regierung praktisch abgemeldet, indem er sehr viel mit Komitees und Arbeitsgruppen arbeitet und diesen Komitees und AGs dann vorsitzt. Die einzige AG, die er anfänglich nicht leitete, sondern seinem Premierminister übergab, war die, die sich mit dem Coronavirus beschäftigen sollte – nach dem Motto: Wenn das hier in die Hose geht, ist der Schuld, nicht ich. Als sich Mitte Februar 2020 abzeichnete, dass sie das hinbekommen, wurde er Chef dieser Gruppe.

Es gibt zwei Erklärungsansätze, warum er diese Macht an sich reißt. Die eine ist, dass er ein Narziss ist, der glaubt, dass er der einzige ist, der das Land retten kann und alle anderen Dilettanten sind, denen man das nicht überlassen kann. Ich glaube aber, diese Erklärung ist zu einfach.

Die andere ist die, dass er eventuell gar keine andere Chance hat, als so viel Macht wie möglich zu akkumulieren, weil er es innerhalb des Systems an bestimmten Stellen schon längst überzogen hat.

So hat die Antikorruptionskampagne, die er am Anfang eingesetzt hat, weil China vor seiner Regierungsübernahme ein sehr offen korruptes Land gewesen ist, dazu geführt, dass er 100.000 Kader in Gefängnisse geschickt hat und Millionen Leute aus der Partei geflogen sind. Da sind etliche drunter, die ihm an liebsten ein Messer in den Rücken rammen würden.

Seine einzige Überlebenschance ist es, nur noch mächtiger zu werden, um sich vor deren Groll und Rache zu schützen. Und das Problem an dieser Sache ist, wie so oft bei den Alleingängen von mächtigen Männern, dass das nicht zu Ende gedacht ist. Das einzige Beispiel, wo eine Machttransformation von einem Diktator zum nächsten erfolgreich geklappt hat, ist Nordkorea, und das kann eigentlich nicht das Vorbild für China sein.

Alles, was komplett abgedreht und auf einen Personenkult zugelaufen ist, welcher mit sehr großer Machtfülle einherging, ist grandios gescheitert. Ich will nicht sagen, dass wir schon an diesem Punkt angelangt sind, aber es gibt die Gefahr, dass wir dahin kommen und dass er an der Spitze Fehler macht und der Apparat ihm zujubelt, aber keiner den Mut hat zu sagen: "Nein, das lassen wir besser, das ist eine dumme Entscheidung."

Dabei laufen wir auf einen offenen Konflikt mit den USA zu. Die Chinesen haben gerade durch die Digitalisierung darauf gehofft, dass sie ihre Firmen globalisiert bekommen, dass sie nicht nur den chinesischen Markt haben, sondern wirklich den Weltmarkt, und gerade bei den Fragen der Standardisierungen wollten sie mitspielen.

Wie schafft man es bei neuen Technologien – 5G oder auch irgendwann 6G –, die anderen Wettbewerber aus dem Markt zu drängen? China will das weniger, um sagen zu können, wir können euch das Licht ausschalten, sondern hier geht es um Fragen der Standardisierung.

Auf welchen Datenautobahnen fließen in Zukunft die Informationen für etwa das autonome Fahren. Gerade was den Autobau angeht, haben die Chinesen kapiert, dass die Zukunft nicht das Biegen von Blech sein wird, sondern die Kontrolle der Software und auf wessen Servern das ganze Zeug laufen wird.

Wenn die Deutschen Stahlkarosserien entwerfen wollen, sollen sie doch. Solange die Batterie und das Computernetzwerk dahinter aus China kommen, machen sie den Goldenen Schnitt bei der Sache.