Kindergrundsicherung der "Ampel": Nicht weniger Bürokratie, sondern mehr
Ein familien- und sozialpolitisches Patentrezept ist die geplante Kindergrundsicherung nicht: Arme Eltern sollen demnach arm bleiben. Zudem droht Behördenchaos.
Nachdem die Ampel-Koalition mit dem am 1. Januar 2023 in Kraft getretenen Bürgergeld die im Volksmund als "Hartz IV" bezeichnete Grundsicherung für Arbeitsuchende reformiert hat, stellt die Kindergrundsicherung ihr familien- und sozialpolitisches Kernanliegen für den Rest der Legislaturperiode dar.
Hiermit sollen neben dem Kindergeld sämtliche kindbezogenen Transferleistungen – der Kinderzuschlag, die entsprechenden Regelbedarfsstufen des Bürgergeldes sowie Teile des Bildungs- und Teilhabepaketes (BuT) – zusammengelegt werden.
Kürzlich hat die grüne Bundesfamilienministerin Lisa Paus ihren Kabinettskolleg:innen die Eckpunkte für ein Kindergrundsicherungsgesetz vorgelegt. Demnach soll die Kindergrundsicherung der Ampel-Koalition aus zwei Komponenten bestehen: einem Garantiebetrag für alle Kinder, der mindestens die Höhe des bisherigen Kindergeldes (derzeit 250 Euro pro Monat) erreicht, und einem Zusatzbetrag, der sich nach dem Alter des Kindes und dem Haushaltseinkommen richtet.
Vor allem über die Höhe des Zusatzbetrages wird es zwischen den Regierungsparteien zweifellos noch harte Auseinandersetzungen geben, weil Bundesfinanzminister Christian Lindner und seine FDP eher auf die Bremse treten.
Vielleicht steht die Kindergrundsicherung sogar zur Disposition. Lindner jedenfalls hat nun in einem Interview die Auffassung vertreten, dass man "den Kindern keine Schuldenberge vererben" und "auch keine Steuern erhöhen" dürfe: "Nicht alles, was wünschenswert ist, geht sofort. Konkret bei der Kindergrundsicherung gibt es noch gar kein Konzept." Hochrüstung, die Ablehnung der Aufnahme neuer Kredite und eine wirksame Bekämpfung der Kinderarmut sind schwer miteinander vereinbar.
Fraglich ist, ob das noch recht vage Konzept dem Anspruch genügt, "einfach, unbürokratisch und bürgernah" zu sein, wie es im Eckpunktepapier heißt – ob es also tatsächlich geeignet ist, die weit verbreitete und oft verdeckte Armut von Minderjährigen zu beseitigen oder die soziale Ungleichheit innerhalb der nachwachsenden Generation wenigstens zu verringern.
Zementierung der Steuerprivilegien für Besserverdienende
Laut dem besagten Eckpunktepapier soll die Kindergrundsicherung im Januar 2025 starten, der Garantiebetrag allerdings erst später den Familienleistungsausgleich übernehmen, welcher heute die Steuerfreistellung eines Einkommens in Höhe des kindlichen Existenzminimums bewirkt.
Verteilungsgerecht und in sich schlüssig ist eine Kindergrundsicherung aber nur, wenn sie neben dem Kindergeld und ergänzenden Leistungen der Familienpolitik auch den bisherigen steuerlichen Kinderfreibetrag integriert, an dem die FDP, vermutlich indes auch die Union mit ihrer starken Stellung und praktischen Veto-Funktion im Bundesrat festhält. Es ist nicht bloß ungerecht, sondern auch unlogisch, den steuerlichen Kinderfreibetrag beizubehalten oder seine Abschaffung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben.
Der steuerliche Kinderfreibetrag entlastet Spitzenverdiener im Jahr 2023 um 354,16 Euro pro Monat, während Normalverdiener(inne)n, die das Kindergeld bzw. künftig den KGS-Garantiebetrag erhalten, monatlich 104,16 Euro weniger zur Verfügung stehen. In den Eckpunkten der Bundesfamilienministerin heißt es vage, "perspektivisch" solle er der maximalen Entlastungswirkung des steuerlichen Kinderfreibetrages entsprechen.
Vorerst zumindest verhindert aber der wirtschaftsliberale Koalitionspartner, dass dem Staat jedes Kind gleich viel wert ist. Warum sollen Investmentbanker, Topmanager und Chefärzte im Gegensatz zu Erzieherinnen, Pflegekräften oder Verkäuferinnen statt der Kindergrundsicherung für alle Minderjährigen weiterhin einen gesonderten Steuerfreibetrag für ihren Nachwuchs in Anspruch nehmen können?
Von einer "Holschuld" der Familien will Lisa Paus die Grundsicherungsleistungen für Kinder zu einer "Bringschuld" des Sozialstaates machen. Als großer Vorzug der Kindergrundsicherung gilt die Vereinfachung durch Zusammenführung bisher einzeln ausgezahlter, separat zu beantragender und sich teilweise überschneidender Leistungen.
Ein digitales Kindergrundsicherungsportal und ein automatisierter Kindergrundsicherungscheck sollen die Beantragung der Kindergrundsicherung erleichtern. Möglicherweise benachteiligt eine Digitalisierung des Antragsverfahrens aber gerade jene Familien, die am meisten auf KGS-Leistungen angewiesen sind, weil ihnen die nötigen Kenntnisse, ein passendes Gerät und/oder ein WLAN-Anschluss fehlen.
Man will armen Familien helfen, erschwert ihnen aber den Leistungszugang für ihre Kinder, wenn sie KGS-Anträge bloß noch online stellen können. Zwar ist die Einrichtung von Anlaufstellen vorgesehen, die der "persönlichen und digitalen Beratung" dienen sollen, ob sie ausreichen, um Abhilfe zu schaffen, erscheint jedoch fraglich.
Die geplante Schaffung einer Kindergrundsicherungsstelle führt nicht zu weniger, sondern zu mehr Bürokratie – und womöglich zu einem Behördenchaos, weil das Jobcenter für die Eltern im Grundsicherungsbezug zuständig bleibt. Durch die Vernetzung unterschiedlicher Behörden, der geplanten Kindergrundsicherungsstelle, der Bundesagentur für Arbeit und der Finanzämter werden die Betroffenen zu "gläsernen Menschen" gemacht, die den Leistungsbezug wahrscheinlich mit ihren persönlichsten Daten erkaufen (müssen).
Der maximale Zusatzbetrag soll in der Summe zusammen mit dem Garantiebetrag "das pauschale altersgestaffelte Existenzminimum des Kindes" abdecken, also den altersgestaffelten SGB-II-Regelbedarfen in Verbindung mit den anteiligen Wohnkosten sowie einzelnen Bildungs- und Teilhabeleistungen entsprechen. Positiv zu bewerten ist, dass keine vollständige Pauschalierung des KGS-Zusatzbetrags erfolgen soll, die besonders für Kinder aus sozial benachteiligten Familien problematisch wäre.
"Kinderwohnkostenpauschale" nur 120 Euro
Dadurch würden alle Minderjährigen über einen Kamm geschoren, ganz unabhängig davon, wo und in welcher Haushaltskonstellation sie leben, wie alt und ob sie sozial benachteiligt oder gesundheitlich eingeschränkt sind.
Sinnvollerweise übernimmt man die Altersstaffelung der Regelbedarfe im Bürgergeld: Kleinkinder (Null- bis Fünfjährige), Schulkinder (Sechs- bis 13-Jährige) und Jugendliche (14- bis 17-Jährige), deren Ernährung, Unterbringung, Kleidung sowie Teilhabe an Bildung, Kultur und Sport unterschiedlich hohe Kosten verursachen.
Im Eckpunktepapier ist aber von einer "Kinderwohnkostenpauschale" nach dem aktuellen Existenzminimumbericht die Rede. Sie beträgt derzeit 120 Euro pro Monat, ist aber viel zu niedrig. Darüber hinausgehende Bedarfe der Kinder und Wohnkosten der Familien sollen über die Eltern abgedeckt werden.
Besser wäre die Berücksichtigung der tatsächlichen Mietkosten im KGS-Zusatzbetrag, denn ansonsten sind zwei unterschiedliche Ministerien (das Familien- und das Arbeits- bzw. Sozialministerium) dafür zuständig. Bedarfsgerecht ist eine Kindergrundsicherung jedenfalls nur, wenn neben dem Alter eines Kindes auch die Wohnsituation seiner Familie angemessen berücksichtigt wird.
Da aus dem Bildungs- und Teilhabepaket nur das Schulbedarfspaket und die 15 Euro pro Monat für die kulturelle Teilhabe (zum Beispiel durch Besuch einer Musikschule oder Mitgliedschaft im Sportverein) im Zusatzbetrag aufgehen sollen, muss das Geld für Klassenfahrten und das kostenfreie Mittagessen in einer Ganztagseinrichtung von den Eltern weiterhin separat beantragt werden. Von einer Vereinfachung des Antragsvorgangs durch die Kindergrundsicherung kann in diesem Fall keine Rede sein.
Mit steigendem Elterneinkommen soll die Höhe des Zusatzbetrags gemindert bzw. abgeschmolzen werden, und zwar so, dass "negative Erwerbsanreize der Eltern minimiert" werden. Wie das geschehen soll und welche Geldbeträge auszuzahlen sind, bleibt im Dunkeln, entscheidet aber letztlich darüber, ob die Kindergrundsicherung im Einzelfall armutsfest und bedarfsgerecht ist oder nicht.
Eine großzügige Ausgestaltung des Garantie- wie des Zusatzbetrages der Kindergrundsicherung stößt bereits im Bundeskabinett an Grenzen. Denn die FDP hat Bedenken hinsichtlich einer Verminderung der Arbeitsanreize durch höhere Geldleistungen für die Kinder von Geringverdienenden.
Wie im Kampf von Konservativen und Neoliberalen gegen die Bürgergeld-Reform droht vor der parlamentarischen Entscheidung über die Kindergrundsicherung eine politische und mediale Stimmungsmache auf Stammtischniveau. Seinerzeit hieß es, der Regelsatz von 502 Euro monatlich für Alleinstehende werde zusammen mit der Erstattung von Miet- und Heizkosten dafür sorgen, dass hierzulande niemand mehr arbeiten wolle, weil er höher sei als der Nettoverdienst eines Geringverdieners.
Bei einer im Hinblick auf die Kindergrundsicherung ebenfalls zu erwartenden Kampagne auf Bild-Niveau wird dieses Scheinargument in der Öffentlichkeit genauso fröhliche Urständ feiern wie die Unterstellung eines massenhaften Leistungsmissbrauchs. Neben den alten Ressentiments gegenüber Armen dürften rassistische Klischees eine größere Rolle spielen: Wenn es mehr Geld für die hier lebenden Kinder gibt, kann man nämlich die Furcht schüren, dass ausländische Großfamilien wegen dieser Sozialleistung massenhaft einwandern.
Kinder sind arm, weil ihre Eltern arm sind
KGS-Befürworter:innen unterstellen, dass man Kinder unabhängig von der sozialen Lage ihrer Eltern aus der (Einkommens-)Armut befreien kann. Kinder sind jedoch arm, weil ihre Eltern arm sind. Armutspolitisch kann die Kindergrundsicherung dann in eine Sackgasse hineinführen, wenn man Minderjährige aus ihrem Familienzusammenhang herauslöst, ohne den Eltern im Bürgergeld-, Sozialhilfe- bzw. Asylbewerberleistungsbezug auskömmliche Leistungen zu gewähren.
Wenn die Eltern überschuldet sind, ihrem Haushalt das Gas bzw. der Strom abgestellt wird oder gar die Zwangsräumung droht, nützt es den Kindern wenig, "grundgesichert" im Dunkeln ihre Schularbeiten machen zu müssen oder mitsamt ihren Eltern aus der Wohnung geworfen zu werden. Nötig wären armutsfeste und bedarfsdeckende Regelleistungen für Minderjährige je nach deren Lebensalter im Kindergrundsicherungsbezug wie für ihre Eltern im Bürgergeld-, Sozialhilfe bzw. Asylbewerberleistungsbezug und außerdem ein familienfreundlicher öffentlicher Wohnungsbau.
Kinder brauchen eine gute, auf ihre spezifischen Bildungs- und Teilhabechancen ausgerichtete Betreuung und Förderung. Durch eine stärkere Zielgruppenorientierung im Kampf gegen die Armut müssten besonders jene Kinder und Jugendlichen gefördert werden, die aufgrund ihrer strukturellen Benachteiligung und speziellen Handikaps keine optimalen Entwicklungsmöglichkeiten haben.
Was die enormen Mehrkosten einer armutsfesten und bedarfsgerechten Kindergrundsicherung betrifft – man kann dafür rund 20 Milliarden Euro veranschlagen –, ist zu fragen, ob mit diesem Geld nicht besser die soziale, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur ausgebaut würde.
Nur wenn genügend Kindertagesstätten, gut ausgestattete Schulen und ausreichend Freizeitangebote (vom öffentlichen Hallenbad über den Jugendtreff und das Museum bis zum Tierpark) vorhanden sind, kann verhindert werden, dass ein Großteil der nachwachsenden Generation unterversorgt und perspektivlos bleibt. Warum sollen nicht alle Kinder in öffentlichen Ganztageseinrichtungen unentgeltlich ein warmes Mittagessen bekommen, ohne dass ihre Eltern dies im Falle der Bedürftigkeit eigens beantragen oder Spendensammlungen unter privaten Wohltätern stattfinden müssen?
Alternativen zur Kindergrundsicherung der Ampel-Koalition
Wer die soziale Ungleichheit verringern und die (Kinder-)Armut in einem reichen Land bekämpfen will, muss die hiervon Betroffenen passgenau unterstützen und die Reichen auch finanziell stärker zur Verantwortung ziehen. Mittels einer Familien- und Sozialpolitik nach dem Gießkannenprinzip kann man hingegen weder die Kluft zwischen Arm und Reich schließen noch den Zusammenhalt der Gesellschaft stärken.
Nötig ist vielmehr eine gezielte Bekämpfung der (Kinder-)Armut, d.h. eine bedarfsgerechte Konzentration staatlicher Ressourcen auf (junge) Menschen, die Unterstützung benötigen, um in Würde leben zu können. Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche müssten keine zusätzlichen Geldmittel erhalten, sondern durch einen höheren Spitzensteuersatz, die Wiedererhebung der Vermögenssteuer, eine progressive Ausgestaltung der Kapitalertragsteuer sowie eine konsequentere Besteuerung großer Erbschaften und Schenkungen finanziell in die Pflicht genommen werden.
Problematisch ist nicht die – vermeintlich zu geringe – Höhe der familienpolitisch begründeten Leistungen des Bundes, sondern deren – gegenüber sozialen Unterschieden indifferente – Struktur. Dass gerade Hyperreiche, Kapitaleigentümer und Spitzenverdiener immer noch am meisten von Steuervorteilen bzw. Subventionen profitieren, die eigentlich den Familien – und das kann doch wohl nur heißen: solchen, die sie tatsächlich benötigen, um ihren Kindern unbillige Entbehrungen zu ersparen – zugutekommen sollten, ändert eine Kindergrundsicherung nach Art der Ampel nicht.
Einfach ist die Lösung des Problems keineswegs, müsste die Devise einer gerecht(er)en Familienpolitik doch "Umverteilung von oben nach unten!" statt "Umverteilung von den Kinderlosen zu den Eltern!" lauten. Auf keinen Fall reicht es, alle kinderbezogenen Transferleistungen zu bündeln, ohne die Auswirkungen hinsichtlich der sozialen Ungleichheit und der Gerechtigkeit zu berücksichtigen.
Von der Kindergrundsicherung profitieren können Familien, die ihnen zustehende Leistungen bislang gar nicht erhalten, weil die unterschiedlichen und komplizierten Beantragungsverfahren sie überfordern. Ruft eine Familie im Bürgergeldbezug alle ihr heute schon zustehenden Leistungen ab, hat sie durch die Einführung der Ampel-KGS wahrscheinlich kaum Mehreinkünfte. SPD, Bündnisgrüne und FDP bekämpfen mit der Kindergrundsicherung weniger die Kinderarmut als die verdeckte Armut jener Familien, die bestimmte ihnen zustehende Transferleistungen nicht beantragen.
Um allen Kindern in Deutschland ein gutes und gesundes Aufwachsen zu ermöglichen, ist jedoch mehr nötig als eine Zusammenfassung der bisherigen familienpolitischen Leistungen. Nötig wäre eine bedarfsorientierte Leistungsvergabe, das heißt der Einbau von Regelungen, mit denen speziellen Bedarfen und Härten begegnet werden kann, zum Beispiel für den Fall, dass plötzlich die Waschmaschine kaputtgeht oder die alte Winterjacke dem Kind nicht mehr passt.
Auch darf sich die Kindergrundsicherung nicht auf eine individuelle Geldleistung beschränken, sondern muss auch eine infrastrukturelle Förderung umfassen, weil die soziale, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur gerade für "Problemfamilien" von größter Relevanz ist. Kita, Schule, Ganztagsbetreuung, Mittagessen und Mobilität müssen kostenfrei, die soziale Teilhabe und der Bildung zu kulturellen Angeboten selbst für Mitglieder armer Familien bezahlbar werden.
Für die soziale Gerechtigkeit entscheidend ist letztlich, ob der steuerliche Kinderfreibetrag im KGS-Garantiebetrag aufgeht oder in seiner überkommenen Gestalt fortbesteht. Im zuletzt genannten Fall erhalten Eltern mit höheren Einkommen auch nach Einführung der Kindergrundsicherung mehr Geld für die Betreuung und Erziehung ihres Nachwuchses als Familien mit geringen Einkommen. Und es gibt weiterhin Minderjährige "erster" und "zweiter Klasse", obwohl die Stigmatisierung der bisherigen Minderjährigen "dritter Klasse" durch Einführung der Kindergrundsicherung zumindest reduziert wird.
Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt, sich seit mehr als einem Vierteljahrhundert mit der Kinderarmut beschäftigt und dazu mehrere Bücher veröffentlicht, zuletzt gemeinsam mit seiner Frau Carolin Butterwegge "Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt" im Campus Verlag.