Kindheit: Ödland im Konsumparadies
- Kindheit: Ödland im Konsumparadies
- Die deutsche Mutter und ihr Kind
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Am Fall Winterhoff zeigt sich die Herrschaft falscher Ratio und die Schläfrigkeit der Behörden: Nachdenken über Pipamperon, "fügsame Körper" und die Semantik der Macht
Die Kinder von heute sind Tyrannen. Sie widersprechen ihren Eltern, kleckern mit dem Essen und ärgern ihre Lehrer.
Sokrates
Es gibt kein problematisches Kind, es gibt nur problematische Eltern.
Alexander S. Neill
Denn wir können die Kinder nach unserem Sinne nicht formen.
Johann Wolfgang von Goethe
Offenbar ist unser Nachwuchs Manipulationsmasse. In der Corona-Pandemie willkürlich hin- und hergeschoben, dabei unter der Hand in die digitale Scheinrealität abgedrängt.
Jüngste Pressemeldungen sprechen von täglich mehr als zehn Stunden, die Heranwachsende im Netz zubringen. Der Löwenanteil entfällt dabei auf die Freizeit, Schule und Ausbildung machen etwa ein Drittel aus.
So sagt es eine aktuelle Studie der Postbank, die mehr als 1.000 Teenager im Alter zwischen 16 und 18 Jahren zu ihren Surf-Gewohnheiten während der Pandemie befragte (Jugend-Digitalstudie 2020).
Zur geeinten Manipulationsmacht gehören überforderte Eltern, resistente Bürokraten und eine freischwebend hantierende Expertokratie, die übers Kindeswohl redet und entscheidet, aber kaum mit ihnen als Subjekten kommuniziert.
Über Kinder lässt sich trefflich urteilen, ohne dass man viel Aufhebens macht. Ein krasses Beispiel ist der gerade in die Schlagzeilen geratene Vorzeigedoktor Michael Winterhoff
Kindheit als Reglementierung
Spezialist oder eloquenter Scharlatan? Die Frage stellen sich gerade einige auf dem pädagogischen Diskursfeld, darunter sind echt Betroffene; und auch die Medien dürften sich mal an die Nase fassen.
Das "System Winterhoff" (wie es plötzlich als solches genannt wird) ist nämlich auch ein problematisches mediales Konstrukt. Buchmarkt und TV trugen ihren Teil dazu bei, aus Winterhoff einen gehätschelten Star am Himmel der Hilfesuchenden zu machen.
Sein Konzept ist simpel: Kontrolle und notfalls Sedierung. Die Causa Winterhoff offenbart eine rigide Einstellung gegenüber Kindern und Jugendlichen.
Deren eigene Erfahrungsräume werden in der hier zutage tretenden Strategie willkürlich und ironischerweise qua Expertise eingeschränkt: Kindheit als Phase der Reglementierung.
Nur nebenbei: Das Kind an sich ist schon marktkonform (dazu später noch ein Satz), aber in solcher Therapie tun sich zusätzliche Chancen auf.
In Wahrheit ist es Diebstahl an der Kindheit, wenn Heranwachsende an den Rand der Gesellschaft gedrängt und in Einrichtungen zwangsverwaltet werden.
Und die Rolle der Jugendämter ist mehr als fraglich, was sich auch schon in einem anderen Kontext zeigt, seit in Deutschland tausendfacher Missbrauch – an sämtlichen verantwortlichen Stellen vorbei – als ganz und gar alltägliches Geschehen ans Tageslicht kommt und inzwischen selbstverständlicher Teil des öffentlichen Bewusstseins geworden ist.
Was ist das überhaupt, ein Kind? Folgt man der Diktion des Medienlieblings Winterhoff, so sind Kinder kleine Narzissten mit einem verstockten Seelenapparat. Den gilt es nachzubessern, damit aus tyrannischen Monstern echte Menschen werden.
Im pseudo-wissenschaftlichen Jargon liest sich das so: "Frühkindlicher Narzissmus" ist das angezeigte Problem, das sedierende Neuroleptikum Pipamperon hilft dem Kind und besänftigt - sehr praktisch - auch die Eltern und die Mitarbeiter der Jugendämter
"His Majesty the Baby"
Winterhoffs Bestseller: "Warum unsere Kinder Tyrannen werden - oder: Die Abschaffung der Kindheit" war 2008 der meistgekaufte Erziehungsratgeber, obwohl der Autor selber sein Buch angeblich gar nicht als solchen verstanden wissen wollte.
Das Youtube-Video unter dem provokanten Titel: "'His Majesty the Baby': Wie Erziehung narzisstisch macht" registrierte hunderttausende Aufrufe.
Der Ruf nach Disziplin, Ordnung, Autorität und Hierarchie ist unüberhörbar.
In der Schwarzen Pädagogik geht man von der bösen Natur des Kindes aus. Es muss der Disziplinarmacht unterstellt werden.
Das Kind selbst ist nicht in der Lage, dieses Konzept in irgendeiner Weise mit auszuhandeln. Es kann versuchen, sich dem Zivilisationsprozess zu entziehen, im Extremfall durch die Weigerung, überhaupt erwachsen zu werden: Die Geschichte von Peter Pan ist ein Beispiel. Der (fiktiven) Gestalt liegt ein antiker Mythos zugrunde: puer aeternus, der ewige Knabe.
Wie auch immer: Im abendländischen Diskurs geistert der kindliche Seinsstatus irgendwo zwischen dem reinen ursprünglichen Adel des Kindes (Gutheit) und seiner von Anfang an verdorbenen Natur.
Das Kind als Freund, das Kind als Feind? Was hat das ideengeschichtliche, vor allem das nationalsozialistische Erziehungserbe mit der gegenwärtigen Debatte zu tun?
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