Von Kindern und Tyrannen: Der Fall Dr. Winterhoff
Medikament mit schweren Nebenwirkungen: Warum ehemalige Patienten einen Kinderpsychiater und Bestsellerautor wegen Körperverletzung angezeigt haben
In Talkshows saß der Bonner Kinderpsychiater und Bestsellerautor Michael Winterhoff regelmäßig als "Experte". Dabei waren seine provokanten Thesen in der Fachwelt schon länger umstritten. Jetzt haben ehemalige Patienten Strafanzeige gegen ihn erstattet - junge Erwachsene, denen er während ihrer Kindheit und Pubertät jahrelang schwere Neuroleptika verschrieben haben soll, ohne dies mit einer belastbaren Diagnose zu begründen.
Mit dem Buch "Warum unsere Kinder Tyrannen werden: Oder: Die Abschaffung der Kindheit" machte er 2008 von sich reden. In der aktuellen ARD-Reportage "Warum Kinder keine Tyrannen sind" heißt es nun selbstkritisch: "Wir Medien haben ihn groß gemacht". Auch Betroffene kommen darin zu Wort. "Ich bin ein Opfer von Dr. Winterhoffs Spielchen", sagt eine junge Frau darin.
Neben seiner Praxistätigkeit in Bonn hatte Winterhoff mit Heimen und Jugendämtern kooperiert. Betroffen waren dadurch sowohl Kinder, deren Eltern sich hilfesuchend an ihn gewandt hatten, als auch solche, die in Einrichtungen lebten.
Standard-Diagnose: "frühkindlicher Narzissmus"
Immer wieder soll er "frühkindlichen Narzissmus" diagnostiziert haben – den Eltern der Kinder, die in ihren Familien lebten, erklärte er allerdings, die Gründe für deren Probleme lägen in der "symbiotischen Eltern-Kind-Beziehung", was für die Heimkinder kaum als Grund in Betracht kam. Allerdings steht auch der Vorwurf im Raum, dass er in manchen Fällen der Krankenkasse eine andere Diagnose genannt habe als den Betroffenen und ihren Eltern.
Der Siegburger Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler hat Strafanträge im Namen von zwei jungen Männern gestellt, die mehrere Jahre bei Dr. Winterhoff in Behandlung waren – einer im Alter von sieben bis 15 Jahren, der andere von etwa zwölf bis 15 Jahren. Einer von ihnen sei ein Heimkind gewesen. Die Diagnose "frühkindlicher Narzissmus" sei auch in diesem Fall gestellt worden, sagte Daimagüler am Freitag gegenüber Telepolis.
Seine Mandaten hätten den Psychiater nach eigenen Angaben vielleicht zweimal im Jahr gesehen, aber immer weiter die Medikamente nehmen sollen, die nicht für längere Zeiträume gedacht seien. Nach Meinung des Anwalts muss die Frage gestellt werden, ob hier nicht ein "systemisches Problem" vorliegt - und ob Heimleitungen und Jugendämter ihren Aufsichtspflichten zum Wohle der Kinder nachgekommen sind.
"Es geht nicht nur um die Person Michael Winterhoff und ob er sich strafbar gemacht hat, sondern auch um das System, in dem er gearbeitet hat", betonte Daimagüler. Er stehe noch mit weiteren Betroffenen und Eltern in Kontakt, deren Fälle zum Teil strafrechtlich verjährt seien, die aber als Zeugen in Betracht kämen.
Nebenwirkungen von der Bewegungsstörung bis zur Depression
Laut Strafanzeigen besteht "der Anfangsverdacht der Körperverletzung und der schweren Körperverletzung" sowie des Abrechnungsbetrugs und möglicherweise weiterer Straftatbestände.
In einer Stellungnahme auf seiner Homepage schreibt Winterhoff, das in seiner Praxis eingesetzte Medikament Pipamperon werde "seit Jahrzehnten bei Stimmungslabilität und Verwirrtheit eingesetzt" und sei "nach wie vor für Kinder mit psychomotorischen Erregungszuständen zugelassen". Das klingt allerdings nicht nach einer Empfehlung für den Einsatz über längere Zeiträume.
Die Liste der möglichen Nebenwirkungen von Pipamperon hat es in sich: Genannt werden da neben "Schläfrigkeit" auch "Bewegungsstörung mit langsamen, ruckartigen Bewegungen (Zahnrad)", "Blickkrampf", "Bluthochdruck" "Erhöhte Muskelspannung (Spastik)" und - Überraschung - "Depression". Manche dieser Nebenwirkungen werden von Laien auch gerne als "Ticks" bezeichnet und können schnell dazu führen, dass Kinder und Jugendliche von Gleichaltrigen gemobbt werden.
Winterhoffs Behauptung, es finde bei ihm immer eine umfassende Aufklärung über das Medikament statt und es werde nie ohne Zustimmung der Eltern oder des Vormundes verordnet, steht im Widerspruch zu Aussagen von Betroffenen: In mindestens einem Fall soll er auch ohne Wissen der Sorgeberechtigten Psychopharmaka verabreicht haben.
Laut einem Bericht der Tagesschau vom Donnerstag distanzierten sich bereits erste Einrichtungen, mit denen Winterhoff zusammengearbeitet hatte. Die Leitung einer Einrichtung nahe Bonn gab bekannt, die Kooperation schon vor einiger Zeit beendet zu haben. Durch die aktuelle Berichterstattung sehe sie sich in diesem Schritt bestätigt.
Aktualisierung, 18.08.2021
Der WDR-Bericht enthält nach Winterhoffs Ansicht Falschdarstellungen. Winterhoff gehe gegen die WDR-Berichterstattung bereits juristisch vor, hieß es in einer Stellungnahme, die unsere Redaktion nach Veröffentlichung des Berichtes erreichte. Die Erklärung im Wortlaut:
"Das Medikament Pipamperon ist für Kinder mit psychomotorischen Erregungszuständen zugelassen. Herr Dr. Winterhoff hat Pipamperon nur dann verschrieben, wenn Kinder zum Beispiel von Aggressionen, Stimmungslabilität und Verwirrtheit beherrscht sind und für das Gegenüber nicht anders erreichbar waren.
Herr Dr. Winterhoff setze das Medikament in einer Dosierung ein, die zu keiner Sedierung führt. Der durch den WDR erweckte Eindruck, Herr Dr. Winterhoff habe das Medikament bei seinen Patienten flächendeckend eingesetzt, ist falsch. Das Medikament wurde nur in Einzelfällen mit spezieller Indikation verordnet.
Die Verordnung des Medikaments bei Kindern ist aufgrund einer Zulassung des Medikaments für Kinder unstreitig zulässig. Die notwendigen Einwilligungserklärungen für die Verordnung der Medikamente lagen ebenfalls vor, jedenfalls konnte Herr Dr. Winterhoff in jedem Einzelfall davon ausgehen, dass Einwilligungen vorlagen.
In Einzelfällen kam es im Praxisalltag zu irrtümlichen Fehleinträgen falscher Abrechnungskürzel. Diese Fehleinträge in Abrechnungen werden korrigiert. Entscheidend ist aber, dass die Fehleinträge der Kürzel in der Abrechnung nicht dazu geführt haben, dass Herr Dr. Winterhoff aus der jeweiligen Behandlung eine höhere Vergütung erhalten hat, als aus der vorgenommenen Behandlung.
Die Krankenkassen haben zu keinem Zeitpunkt wegen der Verwendung eines falschen Kürzels einen höheren Betrag gezahlt als dieser bei Angabe des richtigen Kürzels für die Behandlung angefallen wäre. Ein Betrug scheidet daher tatbestandlich aus, weil ein Betrug einen Schaden voraussetzt, der bei den Krankenkassen nicht eingetreten ist.“
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