Klage gegen Infektionsschutz: Warum Ziel und Form sich widersprechen
Gesellschaft für Freiheitsrechte und andere Maßnahmengegner wollen novelliertes IfSG vor Verfassungsgericht kippen. Das ist zu kurz gedacht
Die von der Gesellschaft für Freiheitsrechte initiierte und koordinierte 1Verfassungsbeschwerde von Landes- und Bundesabgeordneten von SPD, Grünen und Linkspartei gegen die Ausgangssperre im 4. Bevölkerungsschutzgesetz ist ein schreiender Widerspruch von politischem Ziel und juristischer Form.
Ziel der Verfassungsbeschwerde ist laut begleitender Presseerklärung2 der Einsatz "für ein schlüssiges und wirksames Gesamtkonzept zur Pandemiebekämpfung". Im bisherigen Pandemiekonzept vermissen die BeschwerdeführerInnen zurecht eine wirksame Einbeziehung der "Arbeitswelt, zum Beispiel große(r) Unternehmen oder d(er) Verwaltung", in den Infektionsschutz.
In der Verfassungsbeschwerde wird aber ein solches Gesamtkonzept wohlweislich nicht beantragt. Vielmehr beschränkt sich die Verfassungsbeschwerde darauf, zu beantragen, "§ 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 sowie § 73 Abs. 1a Nr. 11c) des Infektionsschutzgesetzes in der Fassung des Vierten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite bis zur Entscheidung in der Hauptsache einstweilen außer Vollzug zu setzen".3
Eine wohlweislich Zurückhaltung
"Wohlweislich" ist diese Zurückhaltung deshalb, weil es nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts ist, den (positiven) Inhalt der Pandemiepolitik zu bestimmen. Dies fällt vielmehr gemäß Artikel 74 I Nr. 19 GG ("Die konkurrierende Gesetzgebung erstreckt sich auf folgende Gebiete: (…); 19. Maßnahmen gegen gemeingefährliche oder übertragbare Krankheiten bei Menschen und Tieren") in den Kompetenzbereich der Gesetzgebungsorgane der Länder und des Bundes. Der Bund hat in Form des Infektionsschutzgesetzes von dieser Kompetenz Gebrauch gemacht.
In den Kompetenzbereich des BVerfG fallen Entscheidungen:
- "über Verfassungsbeschwerden, die von jedermann mit der Behauptung erhoben werden können, durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Artikel 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte verletzt zu sein" und;
- über etwaige (abstrakte) Normenkontrollanträge, die "die förmliche und sachliche Vereinbarkeit von Bundesrecht oder Landesrecht mit diesem Grundgesetze" bestreiten (Art. 93 I Nr. 4b und 2 GG).
Was wäre, wenn...
Würde die Ausgangssperre also "einstweilen außer Vollzug" gesetzt, so läge es beim Deutschen Bundestag, zu entscheiden, ob und gegebenenfalls was er an deren Stelle setzt.
Es zeugt von grenzenloser politischer Naivität – beziehungsweise von einer juristisch verzerrten Wahrnehmung der politischen Realität sowie ihrer politischen Kräfteverhältnisse –4 anzunehmen, der Deutsche Bundestag würde nach einstweiliger Außerkraftsetzung der Ausgangssperre auf einmal die "Arbeitswelt, zum Beispiel große Unternehmen oder die Verwaltung" in wirksamer Weise in den Infektionsschutz einbeziehen.
Vielmehr wäre eine solche Außerkraftsetzung in der politischen Praxis ein weiterer großer politischer Erfolg der Maßnahmengegner:innen.
Dass auf einmal die "Arbeitswelt, zum Beispiel große Unternehmen oder die Verwaltung", wirksam in den Infektionsschutz einbezogen würde, ist umso unwahrscheinlicher, als:
- weder die Bundestagsfraktionen der Parteien, denen die BeschwerdeführerInnen angehören,
- noch der Senat von Berlin, in dem diese Parteien vertreten sind,
und im Gesetzgebungsverfahren für das 4. Bevölkerungsschutzgesetz eine solche wirksame Einbeziehung beantragten.
Von Absichten und Wirkungen
Es ist materialistische Tradition, Handlungen nicht nach den hinter ihnen stehenden (wohlmeinenden) Absichten, sondern nach deren tatsächlichen Wirkungen zu beurteilen5.
Wenn die politische Absicht also ist, dafür zu sorgen, dass künftig eine wirksame Einbeziehung der "Arbeitswelt, zum Beispiel große(r) Unternehmen oder d(er) Verwaltung", in den Infektionsschutz stattfindet, dann sollte alles unterlassen werden, dass das Gegenteil – nämlich nicht mehr, sondern weniger Infektionsschutz – bewirken wird. Anderenfalls widerlegt die tatsächliche Wirkung die wohlmeinenden Absicht.
Das unterscheidet eine Verfassungsbeschwerde von einer Demonstration und auch von einem Gesetzesantrag im Parlament.
In dieser Hinsicht besteht nun ein grundlegender Unterschied zwischen dem politischen Mittel eines Gesetzgebungsantrages im Parlament oder einer Demonstration auf der Straße oder dem juristischen Mittel einer Verfassungsbeschwerde:
Im Parlament kann tatsächlich beides beantragt werden: die Streichung der wenig effektiven Ausgangssperre und stattdessen wirksamer Infektionsschutz in der Arbeitswelt;
Auf der Straße kann für beides demonstriert werden: für die Streichung der wenig effektiven Ausgangssperre und stattdessen für wirksamen Infektionsschutz in der Arbeitswelt;
Im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht ist das nicht möglich oder nur sehr schwer zu begründen. Die VerfassungsbeschwerdeführerInnen in vorliegender Sache sind sich dessen bewusst und beschränken sich deshalb – wie aufgezeigt –, darauf, zu beantragen, "§ 28b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 sowie § 73 Abs. 1a Nr. 11c) des Infektionsschutzgesetzes (...) bis zur Entscheidung in der Hauptsache einstweilen außer Vollzug zu setzen". Sie schieben nach, "die Verfassungsbeschwerde (sei) ein kassatorischer6 Rechtsbehelf. Die beschwerdeführenden Personen wollen jedoch die unverhältnismäßigen Ausgangssperren vor allem deswegen aufheben lassen, weil sie den Gesetzgeber veranlassen wollen, tatsächlich wirksame Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu regeln (…).7 Die Beschwerdeführer:innen wollen also das eine, tun aber das andere.
Sie "wollen (…) die (…) Ausgangssperren vor allem deswegen aufheben lassen, weil sie den Gesetzgeber veranlassen wollen, tatsächlich wirksame Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu regeln". Aber sie nutzen nicht etwa die Möglichkeiten, die sie als Parlamentarier:innen in Bundes- und Landesparlamenten haben. Sie sorgen nicht dafür, dass die Fraktionen ihrer Parteien im Bundestag und die Landesregierungen, in denen ihre Parteien vertreten sind, "tatsächlich wirksame Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie" in Bundestag bzw. Bundesrat beantragen und/oder – im Rahmen des Verordnungsrechts der Landesregierungen gemäß § 28a Infektionsschutzgesetz – selbst verfügen.
Stattdessen erheben sie Verfassungsbeschwerde gegen eine Infektionsschutzmaßnahme, von der sie selbst nicht einmal behaupten, sie sei unwirksam, sondern sie die zurecht als "nur wenig geeignet" bezeichnen.8
Zu meinen, in dieser Weise ein "schlüssiges und wirksames Gesamtkonzept zur Pandemiebekämpfung" erreichen zu können, ist ein krasser Fall von juristischem Voluntarismus und politischem Abenteuer:innentum.
Das angemessene Mittel hin zu einem schlüssigen und wirksamen Gesamtkonzept zur Pandemiebekämpfung läge vielmehr darin,
- für Abgeordnete, es selbst auszuarbeiten (oder von wissenschaftlichen Mitarbeiter:innen oder Sachverständigen ausarbeiten zu lassen) und im Parlament zur Abstimmung zu stellen. Das hätten die Beschwerdeführer:innen in vorliegender Sache schon längst tun können, dafür braucht es keiner vorherigen Verfassungsbeschwerde; aber sie haben es nicht getan;
- für Bürger:innen, einen schlüssigen Demonstrationsaufruf zu schreiben und unter Einhaltung der Infektionsschutzregeln auf die Straße zu gehen;
- für Bürger:innen, die zugleich Lohnabhängige sind, sich gewerkschaftlich zu organisieren und für eine wirksame Einbeziehung der Arbeitswelt zu kämpfen.
Detlef Georgia Schulze ist PolitikwissenschaftlerIn und veröffentlichte u.a. "Überlegungen zu einer anti-essentialistischen Reformulierung des Verrechtlichungs-Begriffs". Bei Telepolis schrieb Schulze zuletzt über Fehlschluss-Didaktik.
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