Klima-Protestwelle in hoffnungslosem Autoland?
Die Pkw-Dichte in Deutschland ist auf einen Rekordwert gestiegen. Warum das Netzwerk Extinction Rebellion trotzdem davon ausgeht, dass seine Forderungen mehrheitsfähig sind.
Kann die Klimagerechtigkeitsbewegung in diesem Land überhaupt noch einen Blumentopf gewinnen? Oberflächlich betrachtet haben die Lobbyisten der Autoindustrie ganze Arbeit geleistet und allen Grund zum Feiern: Die Mehrzahl der Deutschen scheint keinen Bock auf eine Verkehrswende zu haben.
In den vergangenen zehn Jahren sei die Pkw-Dichte durchgehend gestiegen – zuletzt auf einen Rekordwert, meldete am Donnerstag das Statistische Bundesamt auf Grundlage von Zahlen des Kraftfahrt-Bundesamtes und eigener Berechnungen. Demnach kamen im Jahr 2021 auf 1000 Einwohnerinnen und Einwohner 580 Autos. Im Jahr 2011 hatte die Pkw-Dichte bundesweit noch bei 517 gelegen.
Regionale Unterschiede: Autonutzung nur bedingt freiwillig
Allerdings gibt es große regionale Unterschiede: Im Saarland ist sie fast doppelt so hoch wie in Berlin. Es dürfte aber kein Zufall sein, dass gerade die "Stadtstaaten" Berlin, Hamburg und Bremen die niedrigste Pkw-Dichte aufweisen: Berlin mit 337 Autos pro 1000 Einwohner, Hamburg mit 435 und Bremen mit 438.
Das deutet darauf hin, dass sie Entscheidung für ein Auto tatsächlich nicht immer freiwillig ist: In Flächenländern haben mehr Menschen wegen mangelhafter Bus- und Bahnverbindungen schlechte Karten, wenn sie aus Umweltgründen oder wegen anderer finanzieller Prioritäten kein Auto wollen.
In den westlichen Flächenländern war die Pkw-Dichte 2021 allerdings durchweg höher als in den östlichen – am höchsten im Saarland mit 658, gefolgt von Rheinland-Pfalz mit 632 und Bayern mit 622 Pkw pro 1000 Einwohnerinnen und Einwohner. Wie sich die aktuell gegenüber 2021 deutlich erhöhten Spritpreise auswirken, bleibt abzuwarten.
Ziviler Ungehorsam für strukturelle Veränderungen
Das Netzwerk Extinction Rebellion (XR), das mit Aktionen des zivilen Ungehorsams für effektiven Klimaschutz eintritt, zielt jedenfalls nicht darauf ab, Schuldgefühle bei Autofahrenden auszulösen oder sie als Feinde zu markieren. Stattdessen sollen bundesweit strukturelle Veränderungen durchgesetzt werden, um effektiven Klimaschutz voranzubringen.
Der Schwerpunkt der Protestwelle, die morgen in Berlin beginnen soll, liegt daher im Regierungsviertel der Bundeshauptstadt. Ein Aktionscamp wurde bewusst im Invalidenpark zwischen Verkehrsministerium und Wirtschaftsministerium aufgebaut.
"Die Gaskrise diesen Winter konnte nur zustande kommen, weil wir von Politik und Konzernen in einer Abhängigkeit von Öl, Gas und Kohle gehalten werden. Dadurch steigen unsere Lebenskosten in unbezahlbare Höhen, müssen wir im Winter frieren, finanzieren wir Angriffskriege mit und schlittern auf direktem Weg in die Klimakatastrophe", erklärt der Aktivist Nils Urbanus seine Motivation zur Teilnahme.
Der Bundesregierung wirft er vor, das Problem nicht an der Wurzel zu packen: Statt massiv in Erneuerbare Energien zu investieren, lasse sie neue Pipelines und Terminals für fossile Energieträger bauen. "Dadurch wird die Klimakrise noch weiter befeuert und bewegen wir uns immer schneller in Richtung der tödlichen Kipppunkte." Während viele Menschen nun in ihrem Alltag ums Überleben kämpften, werde für eine reiche Minderheit Politik gemacht.
Dabei hätten Extremwetterlagen wie im vergangenen Jahr die Flutkatastrophe und in diesem Jahr die Dürren auch in Deutschland gezeigt, dass es längerfristig ganz allgemein "ums Überleben" gehe.
XR will daher im Regierungsviertel "das 'Business as usual' des politischen Systems unterbrechen und zeigen, dass ein breiter Teil der Bevölkerung jetzt richtigen Klimaschutz möchte". Gemeint sind gewaltfreie Aktionen des zivilen Ungehorsams. "Hunderte Menschen" sollen es zumindest werden, die direkt daran teilnehmen und sich notfalls von der Polizei wegtragen lassen. Die Aktiven gehen aber davon aus, dass sehr viel mehr Menschen auf ihrer Seite stehen.
Der Mehrheit wird ein guter Wille unterstellt
Das Vertrauen in den guten Willen der Bevölkerungsmehrheit und die eigenen Argumente hat das Netzwerk noch nicht verloren: Ein verbindliches Konzept für den sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft soll laut XR von repräsentativ ausgelosten "Bürger:innenräten" erarbeitet werden, um "das politische System aus dem Einflussbereich der Lobbys" zu holen.
Dafür gab und gibt es auch immer wieder Kritik aus dem linken Spektrum, da beispielsweise befürchtet wird, dass wortgewandte Rechte und Leugner des menschengemachten Klimawandels die Räte zu dominieren versuchen – oder deren Arbeit durch ausuferndes "Geschwurbel" und Intrigen zu sabotieren, wenn sie sich mit ihren Positionen schon nicht durchsetzen könnten.
XR geht aber davon aus, dass die Räte damit fertig würden und gesunder Menschenverstand sich durchsetzen würde, wenn keine professionellen Lobbyisten fossiler Konzerne mit am Tisch sitzen.
Den meisten Menschen müsse es nur durch eine andere Politik leichter gemacht werden, beispielsweise ohne Auto klarzukommen und wirklich nachhaltig produzierte Waren im Lebensmittelhandel zu finden, wird argumentiert. Nur die Forderung nach individuellem Verzicht ohne strukturelle Veränderungen sei nicht zielführend.
Ein weiteres Problem ist aber die Verbindlichkeit der Umsetzung: In Frankreich hatte zwar ein solcher Bürgerrat erstaunlich weitgehende Vorschläge erarbeitet – davon wurde aber trotz anderslautender Versprechen von Präsident Emmanuel Macron weniger als die Hälfte im neuen Klimagesetz verankert.
Eine andere Welt ist möglich – der unaufhaltsame Niedergang auch
Extinction Rebellion wurde 2018 in Großbritannien gegründet. Mit der "Rebellion gegen das Aussterben", wie der Name des internationalen Netzwerks auf Deutsch lautet, ist kein Aussterben der Menschheit innerhalb weniger Jahre oder Jahrzehnte gemeint. Wenn bei XR von wenigen Jahren die Rede ist, geht es immer um das Erreichen von Kipppunkten und einen "Point of no Return", dem ein längerer, aber dann unaufhaltsamer Niedergang bis hin zum Aussterben folgen könnte. Diese Möglichkeit schließen auch Forschende nicht aus. Zudem wird damit Bezug auf das Artensterben genommen.
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