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Knappes Gas: Rollierender Lockdown im kommenden Winter?

Nicht Corona, sondern der Energiemangel könnte im kommenden Winter zu Konsequenzen führen, die bislang völlig undenkbar erschienen.

Der Winter gibt Deutschland keine Gnadenfrist, bis die LNG-Terminals an das deutsche Gasnetz angebunden sind und bis Deutschland ausreichend Schiffe für den LNG-Transport organisiert hat. Man steht bei den verfügbaren Tankern im direkten Wettbewerb mit anderen Ländern, die ebenfalls Gas per Schiff transportieren wollen.

Deutschland ist deutlich stärker von einer gesicherten Belieferung mit Gas abhängig, als dies in der Öffentlichkeit derzeit diskutiert wird, und es hat größere Schwierigkeiten, die benötigten Gasmengen zu beschaffen als erwartet.

Zahlreiche industriellen Prozesse wie beispielsweise die Glasproduktion und -verarbeitung sind von einer durchgängigen Gasversorgung abhängig, weil Wannen, in welchen die Glasschmelze erkaltet ist, nicht mehr angefahren werden können und ausgetauscht werden müssen.

Die deutsche Industrie ist nicht nur international stark vernetzt, sondern auch im Land auf einen kontinuierlichen Warenfluss ausgelegt. Selbst wenn die Energieversorgung ohne technische Probleme wie beim Glas unterbrochen werden kann, führt eine teilweise Abschaltung der Energieversorgung zu beachtlichen logistischen Problemen.

Wenn die Energieversorgung in der Lieferkette nicht mehr gesichert werden kann, ist zu befürchten, dass Produktionen aus Deutschland abwandern in Länder mit gesicherter Versorgung und sie hierzulande für längere Zeit verloren sind.

Kohle für 30 Tage benötigt Lager in Kraftwerksnähe

Deutschland baut selbst keine Steinkohle mehr ab, weil eine Förderung schon seit Jahren auch mit hohen Subventionen nicht mehr wirtschaftlich war, und muss den Brennstoff über die Seehäfen importieren. Die Lieferung zu den Kraftwerken in Deutschland erfolgte bis dato üblicherweise in einem Umfang, dass an den Lagern in Kraftwerksnähe Vorräte für etwa zehn Tage [1] lagerten.

Jetzt fordert die Bundesregierung für die Kohlekraftwerke jeweils ausreichend Kohle für 30 Tage vorzuhalten. Kohle, die in den Seehäfen liegt und wegen Niedrigwasser auf den Flüssen nicht transportiert werden kann, nützt nur wenig.

Da jedoch aufgrund der stark schwankenden Niederschlagssituation in den Einzugsgebieten der für den Schiffstransport benötigten Flüsse durchaus mit zeitweiligem Niedrigwasser zu rechnen ist, wodurch die Schiffsfracht behindert werden kann, müssen die Vorräte für 30 Tage in der Nähe der Kraftwerke gelagert werden.

Da die Entscheidung, welches Kraftwerk jeweils betrieben wird, nicht von der Politik getroffen, sondern vom Markt entschieden wird, muss die Vorratshaltung für jedes Kraftwerk bewerkstelligt werden. Die für die 30 Tage Kohlevorhaltung benötigten Lagerflächen müssen erst gefunden und genehmigt werden, damit man sie nutzen kann. Wie sehr dieser Prozess beschleunigt werden kann, ist derzeit noch nicht abzusehen.

Beim Transport zu den Kraftwerksstandorten gibt es wohl derzeit einen Engpass. Weil die Logistikbranche sich auf den sukzessiven Kohleausstieg eingestellt und die Transportkapazitäten für die Steinkohle entsprechend heruntergefahren hat, fehlen derzeit Güterwaggons, Lokomotiven und Lokführer für den Kohletransport.

Bei den für den Transport der Kohle von den Seehäfen ins Binnenland benötigten Schüttgutfrachtern kommt aktuell noch als weiteres Hindernis der Umstand hinzu, dass diese derzeit auch für den Weizentransport aus der Ukraine benötigt werden und möglicherweise für den Kohletransport nicht oder nur zu deutlich höheren Kosten zur Verfügung stehen. Die Entscheidung für Kohle- oder für Weizentransport muss letztlich die Politik treffen.

Kohlekraftwerke sind ohne Gas nicht nutzbar

Was bei der Entscheidung, alte Kohlekraftwerke zu reaktivieren, offensichtlich übersehen wurde, ist, dass diese Anlagen technisch nicht auf dem neuesten Stand sind und, soweit sie schon stillgelegt sind, auch nicht mehr gewartet wurden und möglicherweise heute gar keine gültige Betriebszulassung mehr besitzen, weil sie die heute geltenden verschärften Vorschriften wie die verschärften Immissionsschutzauflagen für Braunkohlekraftwerke nicht einhalten.

Eine Nachrüstung ist in der Kürze der Zeit nicht möglich und so hofft man auf eine Aussetzung der verschärften Grenzwerte. Zudem ist das für den Betrieb der Kraftwerke benötigte Fachpersonal entweder im Ruhestand oder auf andere Anlagen gewechselt. RWE hat aktuell sein Vorruhestandsprogamm ausgesetzt und hofft, damit zumindest einen Teil der benötigten Fachkräfte bereitstellen zu können.

An manchen Standorten mit mehreren Kraftwerken können derzeit aufgrund des Personalmangels nicht alle Blöcke gleichzeitig betrieben werden. In einer auch technisch stark vernetzen Welt kommt neben dem Brennstoff Kohle und dem benötigten Personal noch das Problem hinzu, dass auch der Betrieb eines Steinkohlekraftwerks von der Gasverfügbarkeit abhängig ist.

Man benötigt Gas unter anderem, um das Kraftwerk anzufahren und für die Sicherung des Entschwefelungsprozesses bei der Rauchgasreinigung.

Höhere Belastungen für die Stromversorgung

Wenn es zu einem Engpass bei der Gasversorgung oder einer sich weiter drastischen Preisentwicklung kommt, besteht die große Gefahr, dass dies auf die anderen leitungsgebundenen Versorgungssysteme übergreift.

Wenn Blockheizkraftwerke, die sowohl Wärme als auch Strom erzeugen, mit Strafzahlungen für den Gasverbrauch belegt werden, wie dies derzeit angedacht wird, dann kommen diese Zahlungen zu den steigenden Brennstoffkosten hinzu und es wird für die Endkunden richtig teuer.

Die privaten Endverbraucher mögen die Preissteigerungen für eine Weile erdulden, die Industrie dürfte da deutlich härter vorgehen. Wenn die Kraftwerke der industriellen Eigenerzeugung, die bislang Kraft und Wärme erzeugen, wegen Gasmangels oder exorbitant gestiegenen Brennstoffkosten abgeschaltet werden, können diese vielfach auf verstärkten Strombezug aus dem Netz umschalten und auch die benötigte Prozesswärme möglicherweise elektrisch erzeugen, was jedoch das Stromnetz stark belasten wird.

Auch bei den privaten Heizsystemen droht die Reduzierung des Gaseinsatzes zu einem erhöhten Strombedarf zu führen. Wenn der Druck in der Gasleitung so weit abfällt, dass ein sicherer Betrieb nicht mehr möglich ist, werden beispielsweise Gasthermen automatisch vom Gasnetz getrennt und abgeschaltet. Falls der Druck im Netz dann wieder aufgebaut werden kann, muss jeder Verbraucher durch einen qualifizierten Fachmann einzeln wieder zugeschaltet werden.

Automatisch oder aus der Ferne kann die Zuschaltung nicht erfolgen. Wenn die Gastherme ausfällt, ist zudem damit zu rechnen, dass die Verbraucher schnell auf die Nutzung von elektrischen Heizgeräten umschwenken, für die in Summe jedoch weder die Stromerzeugung noch das Stromnetz ausgelegt sind.

Die heute in Deutschland verbaute Technik lässt ein gezieltes zeitweises Abschalten solcher zusätzlichen Verbraucher nicht zu. Um die Stromversorgung insgesamt nicht zu gefährden, bleibt in dieser Situation nur die Möglichkeit, die Stromversorgung abwechselnd in einzelnen Regionen zu unterbrechen, was in dem stark von Strom abhängigen Land letztlich zu einem rollierenden Lockdown wegen Energiemangel führen wird.


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https://www.heise.de/-7167680

Links in diesem Artikel:
[1] https://www1.wdr.de/nachrichten/kohle-kraftwerksbetreiber-nrw-100.html