Können die Ukrainer militärisch siegen?

Bernhard Gulka

Selenskyj, siegessicher. Bild: President Of Ukraine

Ukraine und Westen setzen ausschließlich auf militärische Karte. Das bedeutet einen langen Krieg und birgt größere Gefahren. Hier vier Gründe.

Die Frage der Erfolgsaussichten der Ukraine gegen die seit Anfang 2022 andauernde russische Invasion ist eine der am schwersten ermittelbaren Themen des Krieges in der Ostukraine. Hier die Gründe und Fakten:

Fakt 1: Keine Seite macht zuverlässige Vorhersagen

Die Prognosen von Fachleuten beider kriegsführenden Seiten und ihrer Unterstützer sind stark eingefärbt von deren Wünschen und Sympathien. Viele Schlagzeilen machte etwa der deutsche Militärexperte Marcus Keupp im April 2023 in großen deutschen Medien, der eine Niederlage Russland im Oktober vorhersagte. Der Oktober ist nun bald vorbei und eine russische Niederlage nicht in Sicht.

Keupp begründete seine falsche Prognose auf der modernen westlichen Technik, die die Ukrainer nun einsetzten und dem "abschmelzen" russischer Reserven. Der Glaube, die Ukraine werde den Krieg gewinnen, "sei auch Konsens unter vielen westlichen Militärexperten".

Gerade die "schwindenden Reserven", von denen Keupp spricht, berücksichtigen nicht das Potenzial Russlands, Militärausrüstung – sollte sie auch technologisch unterlegen sein – in großer Masse herzustellen. Der sehr medienpräsente Oberst Markus Reisner aus Österreich bezifferte gegenüber Telepolis die russische Panzerproduktion auf 100 bis 200 pro Monat. "Jeder dieser Panzer muss erst einmal zerstört werden", auch wenn sie nicht die Qualität westlicher Modelle hätten, meint der Offizier aus Österreich.

Ähnlich unzuverlässig wie viele der in Deutschland weitverbreiteten Prognosen sind die der russischen Experten. Diese würden sich wegen des zunehmend totalitären Klimas in Russland auch in große persönliche Gefahr begeben, wenn sie Zweifel am Kriegsverlauf äußerten.

Deshalb verbreiten sie Optimismus. Wie der Sicherheitsexperte Alexander Michailow, der im Dezember 2022 in einem großen russischen Radiosender vorhersagte, dass bis zum Ende des Winters 2022/2023 der gesamte Donbass von den Russen erobert sein werde, da das eigene Militärmaterial in der kalten Jahreszeit dem westlichen überlegen sei.

Dass es nicht so gekommen ist, ändert nichts an solchen Prognosen russischer Experten im Inland. Lediglich der Zeitpunkt des Sieges wird vorsichtig nach hinten verschoben und die russische Militärzeitschrift "Militarist" sagt das Kriegsende laut Experten nun für Ende 2024 / Anfang 2025 voraus. Natürlich mit einem russischen Sieg oder im "unwahrscheinlichsten" Fall mit einer Pattsituation "an der bestehenden Frontlinie".

Ein möglicher ukrainischer Sieg kommt in den innerrussischen Prognosen gar nicht vor. Bei der Prognose, ob ein militärischer Sieg der Ukraine möglich ist, darf man sich also keinesfalls auf Einschätzungen von Personen verlassen, die einer der beiden Seiten zu nahe stehen. Auch bei Experten überlagert sich hier die Ebene des Wünschbaren mit der realistischen Einschätzung.

Fakt 2: Falsche Erklärungen für Erfolge und Stillstand

Eine größere Rolle spielen die unbestreitbaren Fakten vor Ort - im Kriegsgebiet und bei den Kriegsgegnern. Die ukrainischen Erfolge 2022 resultierten beispielsweise daraus, dass die russische Invasionsarmee in krasser Unterschätzung des ukrainischen Kriegsgegners für einen längeren Krieg anfangs völlig unterdimensioniert war. Deswegen waren die Stellungen bei Kiew nicht haltbar, erfolgten die großen Rückeroberungen durch Kiewer Truppen bei Charkiw und Cherson. Die russische Seite reagierte mit einer verspäteten Zwangsmobilisierung und einer Verstärkung der Truppen ab September 2022.

In der Folgezeit erwies sich die entstandene Front auf beiden Seiten als erstaunlich widerstandsfähig. "Russland und die Ukraine befinden sich in einer tödlichen Serie von Angriffen und Gegenangriffen" diagnostiziert seitdem die New York Times die Lage. "Kleine Gebietsgewinne sind angesichts der Verluste zu teuer erkauft."

Unter großen Mühen und Verlusten eroberten die Russen zunächst die Trümmerwüste der ehemaligen Stadt Bachmut, um kurz hinter der Stadtgrenze wieder gestoppt zu werden. Ähnlich erging es den Ukrainern im Sommer bei ihrer Gegenoffensive nach dem Durchbruch durch die vorderste russische Kampflinie im Raum Saporischschja.

Trotz dieses Einbruchs gelang es ihnen nicht, tiefer in das russisch besetzte Gebiet vorzudringen, was das eigentliche Ziel der Offensive war. Ein weiterer Fehlschlag ereignete sich vor wenigen Tagen mit dem russischen Angriffsversuch auf Andrijiwka, der nach großen Verlusten der Angreifer abgebrochen wurde. Jetzt sind wieder die Ukrainer am Dnipro am Zug.

All diese Fehlschläge hängen auch mit einem weiteren unbestreitbaren Faktum des aktuellen Kriegsgeschehens zusammen: der lückenlosen Überwachung der Kampfgebiete durch Drohnen und Satelliten, die Überraschungsangriffe, in früheren Kriegen oft die Ursache für entscheidende Siege, nahezu unmöglich macht.

Die Aufklärung der angegriffenen Seite kennt in Echtzeit das Ausmaß der Bedrohung durch Angriffe und Einbrüche und kann adäquat mit der Verstärkung lokaler Reserven reagieren. Oder mit gezielten Schlägen gegen wichtige Nachschublinien. Nur wenn solche Reserven nicht mehr in ausreichendem Maße vorhanden sind, können solche Einbrüche nicht mehr eingedämmt werden.

Fakt 3: Moskau ist rücksichtslos – Kiew akzeptiert nur Maximalziele

Doch hier hat die russische Seite gezeigt, dass sie nicht davor zurückschreckt, trotz hoher Verluste immer neue Einheiten in die Blut- und Knochenmühle des Krieges zu schicken. Notfalls werden dafür Rekruten aus Gefängnissen oder unter illegalen Einwanderern rekrutiert.

Zwar ist klar, dass Russland eine weitere Zwangsmobilisierung von Soldaten wegen der innenpolitischen Folgen möglichst vermeiden will. Aber niemand zweifelt daran, dass eine solche Mobilisierung stattfinden würde, wenn sie das letzte Mittel wäre, um einen entscheidenden ukrainischen Erfolg zu verhindern.

Die Bedeutung dieses Umstandes wird von westlichen Experten oft mit dem Hinweis auf die geringere Kampfkraft zwangsmobilisierter russischer Frontsoldaten relativiert. Das riesige russische Potenzial an verfügbaren Soldaten wiegt diesen Nachteil jedoch auf.

Für das politische Establishment in Moskau hängt der eigene Machterhalt nach wie vor vom erfolgreichen Ausgang des Krieges ab. Notfalls will der Kreml einen langen Zermürbungskrieg führen - eine Masse an eigenen und zivilen Toten liegt im Kalkül. Auch die ukrainische Seite hat laut New York Times Probleme, qualifizierte Soldaten zu rekrutieren, die in der Lage sind, erfolgreiche Angriffe zu führen.

Ein weiterer Faktor, der einen vollständigen militärischen Sieg der Ukraine in naher Zukunft unwahrscheinlich macht, ist dessen Definition in Kiew. Denn als Sieg gilt erst die Vertreibung der Russen aus allen ukrainischen Gebieten bis 2014, einschließlich der ehemaligen Rebellengebiete im Donbass zwischen Donezk und Lugansk und der Halbinsel Krim.

Diesem Ziel stehen nicht nur die russischen Verteidigungslinien an der Front entgegen. Auch der schmale Landzugang zur Krim ist für die Verteidiger leicht zu befestigen, und die Ukraine verfügt nicht über ausreichende Einheiten für eine Landung vom Meer aus.

Sobald Kiewer Truppen auf die Krim oder in die ehemaligen Rebellengebiete vordringen würden, befänden sie sich zudem in einem Gebiet, in dem ihnen die Mehrheit der Bevölkerung feindlich gesinnt ist. Denn diejenigen, die Kiew feindlich gesinnt sind, sind oft schon seit 2014 dorthin gezogen - so wie die Anhänger des Euromaidan den rebellischen Teil des Donbass vor der Invasion 2022 verlassen haben.

Fakt 4: Lange Kriegsdauer ist inzwischen gängige Expertenmeinung

Ähnlich wie die russischen Experten verschieben daher auch die westlichen Unterstützer den Zeitpunkt des erwarteten eigenen Sieges nach hinten. So berichtet das Politmagazin Politico, dass der Westen bei der Unterstützung der ukrainischen Kriegsmaschinerie mehr auf Reparatur und Wartung setzt, da "der Krieg noch Monate und Jahre dauern wird".

Dies stellt eine weitere Gefahr für den ukrainischen Sieg dar. Da gerade die militärische Unterstützung der Ukraine von ihren westlichen Befürwortern lange Zeit mit dem Argument "dann gewinnen sie den Krieg bald" begründet wurde, wird ihre Unterstützung mit zunehmender Dauer des Krieges immer unglaubwürdiger.

Kräfte, die diese Unterstützung ganz oder teilweise verweigern, gewinnen dagegen an Einfluss, was wiederum den Waffenfluss nach Kiew verringern könnte. Darauf setzt auch der Kreml nach dem Scheitern seiner ursprünglichen Blitzkriegspläne.

Die wichtigste Rolle, auch wenn das den Beteiligten nicht so recht bewusst ist, spielt nicht der deutsche Diskurs, sondern der in den USA. Für die US-Amerikaner, die mehr als doppelt so viele Waffen in die Ukraine liefern wie die Deutschen, ist Kiew vor allem weit weg.

Vorzeigbare Erfolge sind 2023 ausgeblieben, und vor allem bei den Republikanern, aber auch in der Bevölkerung macht sich eine "Ukraine-Müdigkeit" breit, wie sie der US-Analyst George Beebe in der Zeitschrift Responsible Statecraft benennt.

Beebe befürchtet, dass die Kiewer Truppen bei nachlassender westlicher Waffenhilfe sogar wieder an Boden verlieren könnten. Am Ende könnte die Ukraine in eine russisch besetzte Zone und einen gescheiterten Rumpfstaat mit einem neuen Eisernen Vorhang dazwischen zerfallen. Er plädiert dafür, militärische Hilfe mit einer Exit-Strategie zu verbinden, die Kompromisse nicht ausschließt, wie es bisher der Fall war.