Kollaps und Endgame: Kann mehr Hilfe für die Ukraine noch etwas erreichen?
Es fehlt vor allem an Munition. Auch bei Soldaten sieht es schlecht aus. Ein paar realistische Szenarien – und woran es wirklich mangelt. Gastbeitrag.
Es ist kein Geheimnis, dass die Befürworter eines totalen Sieges in der Ukraine ihr Hauptaugenmerk darauf gerichtet haben, sicherzustellen, dass ein 60 Milliarden Dollar schweres US-Militärhilfepaket für die Ukraine, das Ende letzten Jahres von der Biden-Regierung eingebracht wurde, vom Kongress verabschiedet wird.
Die Befürworter behaupten, diese Hilfe sei von entscheidender, ja sogar existenzieller Bedeutung. Aber welche Auswirkungen könnte dieses Paket tatsächlich auf die Fronten in der Ukraine haben. Und was steht in der Debatte über die Ukraine-Hilfe im Allgemeinen wirklich auf dem Spiel?
Was ist mit der Munition?
Die Mittel, die Teil eines größeren Ergänzungspakets für die Ukraine, Israel und Taiwan in Höhe von 95 Milliarden Dollar sind, sehen 20 Milliarden vor, um die Lagerbestände des Verteidigungsministeriums nach früheren Durchgängen von Ukraine-Hilfe wieder aufzufüllen, rund 14 Milliarden für den Kauf von US-Waffen durch die Ukraine, 15 Milliarden für die Unterstützung von Nachrichtendiensten und militärischer Ausbildung sowie acht Milliarden für die direkte Haushaltsunterstützung der ukrainischen Regierung.
Obwohl diese Summe in absoluten Zahlen gewaltig ist, verblasst sie im Vergleich zu den 113 Milliarden Dollar an Ukraine-Hilfe, die der US-Kongress im Jahr 2022 bewilligte, als das Kräfteverhältnis in diesem Krieg viel günstiger für die ukrainischen Streitkräfte (AFU) war als heute.
Die AFU steht vor einer Reihe kritischer Herausforderungen, zu denen in erster Linie der zunehmende Truppenmangel und das gravierende Munitionsdefizit in einem Krieg gehören, der nach Angaben ukrainischer Offizieller zu einem "Artilleriekrieg" geworden ist.
Das Hilfspaket soll den zunehmenden Hunger der Ukraine nach Geschossen bedienen, doch lässt sich das Geld nicht direkt in sofort verfügbare Munition ummünzen. Es ist nicht klar, wie viele Granaten und wie schnell die USA der Ukraine schicken können, selbst wenn das Zusatzpaket heute genehmigt würde.
Ungleichgewichte zwischen Russland und dem Westen
Nach Schätzungen Royal United Services Institute for Defence and Security Studies (RUSI) von Anfang des Jahres feuert Russland 10.000 Artilleriegeschosse pro Tag ab. Um ein Gefühl für die Größenordnung zu bekommen, sollte man bedenken, dass sich die europäische Jahresproduktion bis Februar 2023 auf gerade einmal 300.000 Schuss beläuft – das entspricht in etwa dem, was Russland jeden Monat in der Ukraine verwendet hat.
Einer estnischen Geheimdienstbewertung aus dem letzten Jahr zufolge übertraf Russland – das im Jahr 2023 rund zwei Millionen Artilleriegranaten hergestellt haben soll – die Produktion seiner westlichen Partner im Verhältnis sieben zu eins.
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Josep Borrell, Europas Spitzendiplomat, stellte fest, dass Europa die Last der Unterstützung der Ukraine nicht allein schultern kann. Aber es gibt Anzeichen dafür, dass es Washington schwerfallen könnte, einige der wichtigsten Bedürfnisse der Ukraine zu befriedigen, selbst wenn der politische Wille auf beiden Seiten des Politspektrums deutlich vorhanden wäre.
Tatsächlich gibt es keine unmittelbare Lösung dafür, die US-amerikanische Verteidigungsindustrie auf Vordermann zu bringen, um das enorme Ausmaß der ukrainischen Militärausgaben zu decken. US-Beamte haben Pläne für eine schrittweise Erhöhung der Produktion auf bis zu 100.000 Granaten pro Monat angekündigt, aber dieses Ziel wird frühestens im Oktober 2025 vollständig erreicht werden.
2,5 Millionen Granaten in diesem Jahr benötigt
Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba erklärte, die Ukraine benötige in diesem Jahr 2,5 Millionen Granaten – oder etwa 208.000 pro Monat –, um ihre Kriegsoperationen aufrechtzuerhalten, was auf eine Rate an verbrauchten Geschossen hindeutet, die der Westen kurz- bis mittelfristig selbst mit dem zusätzlichen Abkommen über eine Finanzierung nicht decken kann.
Kiews ernste Materialdefizite gehen mit einem ebenso fatalen Mangel an Soldaten einher, ein Problem, das der Westen nur durch eine direkte Militärintervention in der Ukraine lösen kann.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat sich schwergetan, eine tragfähige Mobilisierungsstrategie zu entwickeln, während die Zahl der ausländischen Freiwilligen seit ihrem Höchststand von 20.000 Anfang 2022 zurückgegangen ist.
Diese Engpässe sind nicht nur auf die ukrainischen Opfer zurückzuführen, die Berichten zufolge die von Selenskyj im letzten Monat angegebene Gesamtzahl von 31.000 Gefallenen übersteigen, sondern auch auf die Entvölkerungstendenzen, die so stark sind, dass sie an einen demografischen Kollaps grenzen.
Kollaps denkbar: Ukraine läuft auf Sparflamme
Kiew muss sich auch mit den Auswirkungen eines langwierigen und kostspieligen totalen Krieges auseinandersetzen. Ein umfangreicheres Mobilisierungsprogramm würde noch mehr Menschen aus dem Erwerbsleben reißen und die anämische ukrainische Kriegswirtschaft weiter belasten.
Moskau ist kein statischer Akteur in diesem sich entzündenden Drama. Die Russen nehmen die Schwächen der Ukraine sehr genau wahr und versuchen, diese in vollem Umfang auszunutzen, indem sie ihre enormen Vorteile in Bezug auf Personal und Feuerkraft nutzen, um nach dem Fall von Awdijiwka entlang der gesamten Kontaktlinie in der Ost- und Südostukraine Druck auszuüben.
Kurz gesagt, die ukrainischen Kriegsanstrengungen laufen auf Sparflamme. Zum ersten Mal seit dem Beginn der russischen Invasion im Jahr 2022 ist ein Zusammenbruch des Landes durchaus möglich.
Was kann das 60-Milliarden-Dollar-Hilfspaket in Anbetracht dieser düsteren Realität bewirken? Es wird der Ukraine zweifellos helfen, die Kosten für den russischen Vormarsch zu tragen und dessen Tempo zu verlangsamen.
Der fatale Maximalismus
Auch wenn es die anhaltende Gefahr eines Zusammenbruchs nicht abwenden kann, wird es der AFU in den kommenden Monaten wahrscheinlich eine neue Chance geben. Aber, wie Senator J.D. Vance von den Republikanern treffend feststellte, wird sie "die Realität auf dem Schlachtfeld nicht grundlegend ändern".
Das Eingeständnis der Grenzen westlicher Hilfe ist nicht gleichbedeutend mit der Aussage, dass die weitere Unterstützung der Ukraine absolut keinen Wert hat. In der Tat wäre ein Szenario, in dem die AFU zusammenbricht und die Ukraine von den russischen Streitkräften überrollt wird, für alle Beteiligten gefährlich und würde das Erreichen einer dauerhaften Lösung erschweren.
Aber es ist auch richtig, dass jeder Plan zur Unterstützung der Ukraine mit einer nüchternen Einschätzung dessen einhergehen muss, was in diesem Stadium des Krieges erreicht werden kann und was nicht.
Die Aussicht auf fortgesetzte westliche Hilfe für die Ukraine ist eine wichtige, wenn nicht sogar die wichtigste Hebelwirkung gegenüber Moskau in diesem Krieg, aber diese Hebelwirkung verpufft, wenn sie nicht genutzt wird. Das Problem ist nicht die Hilfe als solche, sondern vielmehr das fortgesetzte Beharren auf maximalistischen Kriegszielen, die sich zunehmend von den Realitäten dieses Krieges entfernen.
Wiederholung der gescheiterten Gegenoffensive nächstes Jahr?
Vorschläge, die Verteidigung der Ukraine bis 2024 aufrechtzuerhalten, um Kiew zu einer neuen Gegenoffensive im Jahr 2025 zu drängen, bereiten die AFU auf eine Wiederholung der katastrophalen Gegenoffensive von 2023 vor, wenn nicht sogar auf Schlimmeres. Pläne, die einen Nato-Einsatz in der Ukraine vorsehen, wurden von den meisten westlichen Staats- und Regierungschefs aus gutem Grund abgelehnt.
Die Befürworter maximalistischer Kriegsziele in der Ukraine waren in den letzten zwei Jahren bemerkenswert erfolgreich, ihre politischen Konzepte wirksam werden zu lassen auf dem Schlachtfeld sowie auch außerhalb.
Von Himars-Raketenwerfern und Scalp-Marschflugkörpern bis hin zu Patriot-Raketensystemen und Leopard 2A6-Kampfpanzern wurde die Ukraine mit einer breiten und effektiven Palette westlicher Waffen ausgestattet.
Was ist das Endspiel?
Das internationale Sanktionsregime gegen Russland ist bei Weitem das umfangreichste in der Geschichte und wächst weiter. Die EU hat bereits das dreizehnte Paket restriktiver Maßnahmen verabschiedet, während das US-Finanzministerium ständig nach Möglichkeiten sucht, die Schrauben gegen Moskau noch fester anzuziehen.
Der 60-Milliarden-Dollar-Zuschlag ist die jüngste Maßnahme dieser Art. Aber das Problem war nie ein Mangel an Maßnahmen – es ist das Fehlen eines tragfähigen Endspiels in der Ukraine.
Parlamentspräsident Mike Johnson hat die Regierung Biden aufgefordert, "eine klare Strategie für die Ukraine zu formulieren, einen Weg zur Lösung des Konflikts". In der Tat ist es von entscheidender Bedeutung, die Ukraine-Debatte wieder auf einen Konsens über einen realistischen Rahmen für die Beendigung des Krieges zu konzentrieren.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Magazin Responsible Statecraft und findet sich dort im englischen Original. Übersetzung: David Goeßmann.
Mark Episkopos ist Professor für Geschichte an der Marymount University in den USA. Er forscht über Fragen der nationalen Sicherheit und schreibt über internationalen Beziehungen.