Kontrollverlust in Mexiko: Das Kind beim Namen nennen
Teile Mexikos werden faktisch von Narco-Terroristen beherrscht. Eine UN-Kommission untersucht erstmals das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen. Dennoch wird der alltägliche Terror in Mexiko nicht als solcher bezeichnet
Vor knapp zwei Wochen verbreitete sich die Meldung: Das Jalisco-Kartell Neue Generation (CJNG) hat die Kontrolle in der kleinen Gemeinde Chinicuila im zentralmexikanischen Bundesstaat Michoacán übernommen. Bürgermeister und Verwaltungspersonal waren geflohen. Die mächtige kriminelle Gruppierung erhöht derzeit den Druck in der Region, Angriffe mit Panzern ("Monster" genannt) und sprengstoffbeladenen Drohnen waren dem Exodus Chinicuilas vorausgegangen.
Ein Bewohner filmte das "Geisterdorf" – sein Material zeigt das verlassene Rathaus samt Einschusslöchern, die menschenleere Station der Gemeindepolizei. "Alles mit Schlössern verriegelt hier, keine Menschenseele in Chinicuila", so der lokale Chronist. Das ist kein Einzelfall hier in Mexiko, wo der Staat zunehmend die Kontrolle verliert – und seinen Bürgerinnen und Bürgern keinerlei Sicherheit mehr gewährleisten kann.
Novum in der Geschichte
In einer aktuellen Ausgabe des investigativen Wochenmagazins Proceso hält der Autor Alonso Chávez Landeros fest, dass sich der nördliche Bundesstaat Zacatecas "mit Geisterdörfern füllt" – auch die Präsenz des Militärs ändere daran nichts. In den Staaten Michoacán und Guanajuato lässt sich für die Bezeichnung der derzeitigen Zustände kein anderes Wort finden als Krieg. Es herrscht Krieg in den Straßen.
Die Botschaften Der USA und Kanadas haben jüngst Reisewarnungen für Guanajuato aktualisiert. Der sogenannte Drogenkrieg, der seit Ende 2006 im Land wütet, dehnt sich immer weiter aus. Während von den Regierungen Mexikos wenig zu erwarten ist – keine unabhängig von der politischen Ausrichtung hat es bis dato geschafft, die Gewalt im Land einzudämmen – bleibt auf internationale Unterstützung zu hoffen.
Erstmals in der Geschichte untersucht ein Gremium das gewaltsame Verschwindenlassen von Personen im Land. Der UN-Ausschuss CED (Committee on Enforced Disappearances) traf sich in den vergangenen Wochen bereits mit zahlreichen mexikanischen Behörden, Opferkollektiven und Menschenrechtsorganisationen. Zweimal lehnte Mexiko einen Antrag des Komitees in der Vergangenheit ab, berichtet die Zeitung La Jornada. So etwa 2017, als die CED "nachdrücklich" aufforderte, Zutritt zum Land zu bekommen.
Der Besuch scheint mehr als notwendig, da die forensischen Behörden bei der hohen Anzahl an Toten im Land nicht mehr hinterherkommen. In einem Kommentar der Zeitung El Universal hält Alejandro Encinas fest, dass "Staatsanwaltschaften nicht über die Kapazität verfügen, nicht identifizierte Leichen zu lagern oder zu identifizieren." Die CED geht von mindestens 52.000 nicht identifizierten Leichen aus – die Großzahl davon in Massengräbern und öffentlichen Friedhöfen. Konkrete Ergebnisse der aktuellen Visite des UN-Ausschusses werden für den März 2022 erwartet.
Einstufung längst überfällig
Knapp 100 Morde täglich, etwa 90.000 Verschwundene, Straflosigkeit, eine zweistellige Anzahl an getöteten Medienschaffenden jährlich: Mexiko ist eine Kriegszone, die jedoch häufig nicht so deklariert wird. Die mexikanische Bevölkerung muss seit mittlerweile über 15 Jahren mit einem Terror durch kriminelle Gruppierungen leben, der sich in Qualität und Quantität stets ausweitet.
Von der anderen Seite des Río Bravo wurde 2019 eine Idee in den öffentlichen Diskurs gehievt, die jedoch nur eine kurze Halbwertszeit in der medialen Debatte aufwies: Die Einstufung der mexikanischen "Kartelle", wie sie meist genannt werden, als Terrororganisationen. Damit wären jene kriminellen Banden auf einer Stufe etwa mit dem Islamischen Staat oder Al-Kaida. Ex-Präsident Donald Trump hatte den Vorschlag damals unterbreitet. Der mexikanische Staatschef Andrés Manuel López Obrador (AMLO) konnte sich damit jedoch überhaupt nicht anfreunden.
Er lehnte eine Einmischung ab. Denn bei dieser Einstufung geht es nicht bloß um Wortklauberei: Wären die mächtigen kriminellen Gruppen Mexikos als Terrororganisationen eingestuft, so gäbe dies den USA einen größeren Spielraum. Bewaffnete US-Einsätze auf dem Boden Mexikos wären dann möglich.
Interessanterweise gab Trump der Bitte AMLOs nach. Es hieß damals, beide Staaten würden dennoch fortan gemeinsamen Anstrengungen intensivieren, um diese "bösartigen und immer weiter wachsenden Organisationen" zu stoppen, so Trump. Intensiviert hat sich allerdings bloß die Gewalt auf mexikanischer Seite. Auch der neue US-Präsident Joe Biden interessiert sich wenig für das Wohlergehen seiner Nachbarinnen und Nachbarn – solange nicht zu viele Migranten ins Land kommen, passt alles.
Dabei ist die Einstufung delinquenter Gruppen wie dem CJNG, dem Sinaloa-Kartell oder Los Zetas längst überfällig. Menschen gewaltsam aus ihren Heimatdörfern vertreiben, erpressen, entführen, zwangsrekrutieren, zwangsprostituieren, Unschuldige ermorden: In welcher Realität ist das kein Terrorismus? Das Kind muss endlich beim Namen genannt werden.
Ablehnung aus mexikanischer Sicht sinnvoll
Dem mexikanischen Staatschef und seiner Regierung käme eine Einmischung der USA sichtlich ungelegen. Denn Staat und organisierte Kriminalität sind seit jeher eine untrennbare Einheit. Die einstige Einheitspartei Mexikos, die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), zog die "Kartelle" hoch und kontrollierte die Machtverhältnisse. Solange sich die Gewalt in Grenzen hielt, konnten die Kriminellen seelenruhig agieren. Mit einer Handvoll Kartelle in den 1980er- und 1990er-Jahren war das auch kein Problem.
Doch spätestens seit der Zersplitterung einiger Banden und der Ausrufung des "Kriegs gegen die Drogen" durch Ex-Präsident Felipe Calderón im Dezember 2006 ist die Situation völlig außer Kontrolle geraten. Nun kämpfen Hunderte verschiedene Gruppen um territoriale Vorherrschaft, der Tod von Zivilisten und auch Touristen ist kein Dammbruch mehr.
Ein komplettes Stilllegen der organisierten Kriminalität in Mexiko würde viele Politikerinnen und Unternehmern nicht gefallen. Es scheint auch kaum mehr möglich, da Staat und Unterwelt zu sehr miteinander verwoben sind. Politisch realistischer und umsetzbarer wäre da ein Pakt mit den Kriminellen, um die Mordrate zu senken und die Bevölkerung zu beruhigen, während die Geschäfte weiterlaufen. So in etwa die Strategie des autoritären Präsidenten El Salvadors, Nayib Bukele – Recherchen haben ergeben, dass die erstaunliche Reduktion der Morde in dem gewaltgeplagten Land mit den Verhandlungen der Regierung und den Gangs zu tun hat.
Die Journalistin, Expertin und Kolumnistin für die Deutsche Welle, Anabel Hernández, beschuldigt die aktuelle Regierungspartei Morena und Präsident AMLO, mit den Drogenkartellen gemeinsame Sache zu machen. Die Regierung würden einen "Pazifizierungs-Plan" erarbeiten wollen, um die Mordrate zu senken.
Eine Wohlfühl-Klausel und die Mitschuld Deutschlands
Die EU und damit auch Deutschland interessieren sich für Mexiko vor allem als Billiglohnstandort. Menschenrechte sind dabei sekundär. Die Website des Auswärtigen Amtes konstatiert: "Für Deutschland ist Mexiko der wichtigste Handelspartner in Lateinamerika. In der Europäischen Union ist Deutschland der wichtigste Handelspartner Mexikos, das Handelsvolumen belief sich 2020 auf über 19 Milliarden Euro." Offiziell ist man natürlich besorgt über die desolate Menschenrechtslage – dann sind Recherchen wie jene über die illegalen Waffenexporte in Krisengebiete nach Mexiko natürlich unpassend.
Expertin Hernández gibt Deutschland im Interview mit der FAZ eine Mitschuld: "Ihr Deutschen seid Heuchler, wenn ihr euch für besonders zivilisiert haltet, aber illegale Drogen konsumiert und euch dann über die Toten in Mexiko entrüstet! Damit finanziert ihr Kinderpornographie, Waffenhandel, Terrorismus und die sexuelle Ausbeutung von Frauen."
Dabei sollte die Missachtung der Menschenrechte in Partnerländern eigentlich Auswirkungen auf bestehende Handelsverträge haben. Das sogenannte "Globalabkommen" sorgt in der EU für Spielregeln, um die Menschenrechte zu achten. Seit den 90ern existiert dort im Artikel 1 die sogenannte "Menschenrechtsklausel". Verstöße gegen die Menschenrechte stellen somit eine Vertragsverletzung dar und können zu Sanktionen führen – theoretisch bis hin zur vollständigen Aussetzung des Vertrages.
Ende der 1990er-Jahre stellte sich der damalige Präsident Mexikos Ernesto Zedillo quer. Doch er hatte nichts zu befürchten; der Passus stellte sich als Wohlfühl-Klausel heraus. Trotz etlicher Menschenrechtsverletzungen von staatlicher Seite in Mexiko passierte nichts – die Klausel wurde nie aktiviert.