Kontroverse um Holocaust-Relativierung

Masha Gessen bei einer Diskussion der Columbia School of Journalism. Bild (September 2022): Legoktm / CC BY-SA 4.0 Deed

Diesseits des Zivilisationsbruchs: Man hätte Masha Gessen den Hannah-Arendt-Preis nicht verleihen dürfen. Ihr geht es um Skandal, meint unser Autor.

Timing ist zwar nicht alles; aber doch eine ganze Menge. Und das Timing war nicht gut, das Masha Gessen gesetzt hatte, um den israelischen Verteidigungskrieg gegen die Hamas doch irgendwie ein bisschen mit den Nazi-Vernichtungsfeldzügen gegen die Juden zu vergleichen. Gerade jetzt.

Und gerade ein paar Wochen vor Verleihung des Hannah-Arendt-Preises an sie.

Man könnte den Eindruck bekommen, als habe es Gessen in ihrem langen Essay im New Yorker geradezu auf den dann folgenden Skandal angelegt. Jedenfalls hat sie die Kontroverse billigend in Kauf genommen.

Ärger bekommen in Deutschland

Natürlich hat sie nichts gleichgesetzt. Dafür ist Gessen viel zu schlau. Vergleichen heiße ja gerade nicht gleichsetzen, wie Gessen auch jetzt mehrfach in Interviews, für die ihr die deutschen Medien, von Zeit bis Süddeutsche Zeitung nun, nachdem der Skandal hochgekocht ist, im Gegensatz zu ihren Kritikern reichlich Platz einräumen, immer wieder betont hat.

Sie hat allerdings die Gleichsetzung nahegelegt, indem sie sagt, sie müsse an dies und jenes "denken", wenn sie dies und jenes "sehe": Vor einem Kunstwerk über den Holocaust "denkt" sie zum Beispiel:

Ich dachte an die Tausenden von Bewohner des Gazastreifens, die als Vergeltung für das Leben der von der Hamas getöteten Juden getötet wurden.

Und dann hat sie im nächsten Satz gleich hinzufügt, in Deutschland dürfe sie das wohl nicht sagen: "Dann ging mir durch den Kopf, dass ich, wenn ich das in Deutschland öffentlich sagen würde, womöglich Ärger bekäme." Das wird man doch noch sagen dürfen oder?

Historikerstreit 2.0

Gessen sagt das alles nicht nur nach dem Massaker der Hamas, sondern vor dem Hintergrund der Debatte um BDS, Antisemitismus und die Singularität des Holocaust, die nicht nur in Deutschland seit Jahren tobt, die spätestens durch den "Historikerstreit 2.0." und die Documenta XV neu hochkochte. In Deutschland war sie seit dem ursprünglichen Historikerstreit 1985 bis 1987 nie richtig beendet.

Gessens Untertitel formuliert die Kernthese: "Wie die Erinnerungspolitik in Europa verdeckt, was wir heute in Israel und Gaza sehen". Die Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, aber auch dem übrigen Europa und vor allem "das deutsche Bestehen" auf der Singularität des Holocaust verhindere, zu erkennen, dass nun die Israelis Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen, die denen der Nazis gleichkommen.

Der BDS-Beschluss des Bundestags, sei eine von rechtspopulistischen Parteien beeinflusste Manipulation:

Die Kriege zur Erinnerung an den Holocaust in Polen verlaufen parallel zu denen in Deutschland. Die Ideen, die in den beiden Ländern ausgefochten werden, sind unterschiedlich, aber ein einheitliches Merkmal ist die Beteiligung rechter Politiker in Verbindung mit dem Staat Israel.

Mascha Gessen

Das ist reichlich verdreht und gewagt angesichts der Hasstiraden eines Bernd Höcke gegen das "Mahnmal der Schande".

Es gibt keinen zweiten Holocaust

Gessen stilisiert sich in solchen Äußerungen also auch als eine Tabu-Brecherin, als eine Frau, die mutig gegen den Strom schwimmt und etwas, was nicht sehr geschätzt, eigentlich unterdrückt und damit fast schon verboten wird, doch irgendwie gegen alle Widerstände zur Sprache bringt.

Eine Kämpferin für die Wahrheit. Und gegen den Strom - so etwa wie es Hannah Arendt gewesen ist, als sie in ihrer Reportage "Eichmann in Jerusalem" über den Eichmann-Prozess 1961 den Staat Israel und die Legitimität des Prozesses in Frage stellte und die Rolle der Judenräte und jüdischer Organisationen vor 1945 scharf kritisierte.

Hannah Arendt hat allerdings auch noch so einiges andere geschrieben. Viele Jahre vor ihrer Reportage hat sie zum Beispiel schon den Gedanken des "Zivilisationsbruchs" entwickelt und hat mit einer Eindeutigkeit, die bis heute von wenig anderen erreicht wird, dargelegt, warum die Vernichtung der Juden durch Deutschland etwas Einmaliges und Unvergleichliches ist.

Auch hier wieder ist Masha Gessen sehr schlau in ihren taktischen Bewegungen: Sie erklärt nämlich auf der einen Seite, es gebe "keinen zweiten Holocaust", diese einmalige Dimension der Menschenvernichtung sei nicht wiederholt worden.

Die Erinnerungskultur

Ganz genau sagt sie allerdings – und die Süddeutsche macht aus diesem Zitat genau die Schlagzeile des ganzen Interviews – "bislang".

Dieses kleine Wörtchen "bislang" ist das Entscheidende; denn hier stellt sie in Aussicht, dass wir kurz vor einer solchen Wiederholung stünden, dass dies quasi jeden Tag geschehen könne, und muss dann gar nicht mehr dazu sagen, was gleich mit im Raum steht, weil es zwischen den Zeilen gesagt wird: Wer nämlich diesen zweiten Holocaust verursacht.

Außerdem schreibt Gessen im New Yorker ja nichts über den Holocaust, sondern über die Erinnerung an den Holocaust, und über die ganze Erinnerungskultur in Deutschland und in Europa, die aus ihrer Sicht, der Sicht einer russisch-amerikanischen Jüdin, die aus Russland geflohen ist, und sich mit ihren zwei Pässen sehr gut zwischen den beiden Welten bewegt und zudem seit den 1990er-Jahren (auch darüber schreibt sie im New Yorker, deshalb darf man es so erzählen) regelmäßig in EU-Europa als Teil des akademischen Jetsets zu Gast ist, die aus dieser Sicht fehlgeleitet ist.

Das ist ein Einwand, mit dem Gessen nicht allein steht, über den man diskutieren sollte, darf und in Deutschland muss.

Das Timing

Aber auch hier wieder stellt sich die Frage nach dem Timing. In einem Moment, in dem der Staat Israel und seine Bevölkerung - nicht nur die Netanjahu-Regierung - mit einem beispiellosen Massaker konfrontiert sind, und einer noch existentielleren Bedrohung ausgesetzt, als ohnehin schon, ist es einfach geschmacklos, die Erinnerung an die Shoah und deren einzigartigen Charakter zu relativieren.

Und wenn man einen mit 10.000 Euro dotierten Preis in Empfang nimmt, der im Namen Hannah Arendts verliehen wird, die gerade die Einzigartigkeit und Nichtrelativierbarkeit der Ereignisse ins Zentrum mehrerer Werke gestellt hat, dann passt das auch nicht besonders gut zusammen.