Kreml: 9.000 Russen unrechtmäßig in den Krieg geschickt
Erstmals nennt der Kreml eine offizielle Zahl der "fehlerhaft" einberufenen Russen. Die Rede ist aber nur von solchen, die inzwischen zurückkehrten. Gefallene wurden demnach gar nicht mitgezählt.
Als im letzten Herbst der russische Staatschef Putin eine Teilmobilmachung für seinen Feldzug in der Ukraine verkündete, lief für die Mächtigen im Kreml nicht alles nach Wunsch. Damit ist nicht der Unmut in der Bevölkerung gemeint, der natürlich vorprogrammiert war, als der Krieg und seine Folgen in praktisch jeder russischen Kleinstadt ankamen. Vielmehr haperte es an der Umsetzung in Bereichen, die die Effektivität der Aktion beeinträchtigten.
Einberufung Untauglicher nicht im Sinne des Kreml
So war es nicht im Sinne der russischen Regierung, dass Kriegsuntaugliche bis hin zu schwer Erkrankten einberufen wurden, die man oft von der Front wieder direkt nach Hause schicken musste.
Auch Regelungen, nach denen kinderreiche Väter vom Weg in den Krieg freigestellt werden sollten, wurden selbst nach Meldungen regierungsnaher Medien vor Ort nicht überall eingehalten. Schlagzeilen machten hier vor allem Fälle, bei denen solche Männer recht schnell an der Front fielen und ihre Familie ohne sie dastand. Einige örtliche Behörden achteten hier vor allem auf die Erfüllung der regionalen "Quote".
Wohl auch, um zu zeigen, dass sich Putin hier um den Unmut in der Bevölkerung kümmert, wurde auf der Homepage des Kreml der Besuch des russischen Generalstaatsanwalts beim Präsidenten groß in Szene gesetzt. Er berichtete, dass 9.000 zu Unrecht mobilisierte "nach Hause zurückgebracht" worden seien.
Hierbei ist zu bedenken, dass der Kreml Zahlen zu unangenehmen Fakten rund um den Krieg nur sehr ungern verbreitet – und dass die 9.000 Fälle deshalb wohl registrierte Rückführungen sind.
Unklar ist, ob alle irrtümlich Eingezogenen erfasst wurden
Ob auch die Zahl der tatsächlich – auch nach russischem Recht – zu Unrecht Mobilisierten komplett erfasst wurde, ist fraglich. Bei der im Eiltempo durchgeführten Mobilmachung wurden viele Soldaten nach nur wenigen Tagen Ausbildung an die Front gebracht. Zahlreiche Fälle sind dokumentiert, in denen solche Rekruten schon nach wenigen Tagen oder Wochen schlecht vorbereitet fielen.
Da der Kreml von tatsächlich zurückgekehrten Mobilisierten spricht, sind offenbar alle zuvor bei den Kämpfen Verstorbenen nicht mit erfasst.
Darüber hinaus geben die russischen Behörden auch die Zahl der im Krieg gefallenen Russen in jedem Fall zu niedrig an. Eine Auswertung von lokalen Todesberichten in russischen Medien des Rechercheportals Media.zona ergibt höhere Zahlen (aktuell: 12.538), als die offizielle letzte Mitteilung des Verteidigungsministeriums (zuletzt unter 6.000, seit Monaten kein Update), obwohl nicht über jeden Tod auf diese Weise berichtet wird. Das nährt Zweifel daran, ob das Problem der "fehlerhaft" Mobilisierten wirklich vollständig erfasst wird.
Offiziell ist die Mobilisierung nach der Aushebung von 300.000 Soldaten beendet. Unterdrückte Unruhe herrscht in Russland jedoch, da das Dekret, mit dem Putin diese in Gang gesetzt hat, bis zum heutigen Tag nicht außer Kraft gesetzt wurde. Große neue Wellen von Mobilmachungen wären deswegen rechtlich möglich und von westlichen Medien oder ukrainischen Stellen wird auch immer wieder gemutmaßt, solche stünden bevor.
Zuletzt berichtete CNN Mitte Januar, 200.000 weitere Soldaten würden in unmittelbarer Zukunft zusätzlich einberufen, was Kreml-Sprecher Dmitri Peskow zu einem Dementi veranlasste. Nach seinen Angaben ist das Dekret nur noch in Kraft, da andere Bestimmungen daraus, die nichts mit der Mobilmachung zu tun hätten, weiter in Kraft seien.
Einige von Regierungsstellen in Kiew genannten Zeitpunkte für Mobilisierungswellen sind auch verstrichen, ohne dass es zu solchen kam. Doch nach zu erwartenden heftigen Kämpfen ist ein Auffüllen der Reihen der russischen Soldaten an der Front in der Tat wahrscheinlich und die Zahl der Freiwilligen zu niedrig, weshalb es überhaupt zur ersten Mobilmachung im Herbst kam.
Fluchtziele für Kriegsunwillige werden weniger
Wer als Russe nicht für die russische Besetzung des Nachbarlandes kämpfen will, hat es zunehmend schwerer, in anderen Staaten eine Bleibe zu finden. Das zweitwichtigste Ziel für russische Kriegsdienstflüchtige, Kasachstan, hat sein Visaregime für Russen verschärft, Finnland erkennt die Verweigerung des russischen Militärdienstes als Asylgrund seit Ende Januar nicht mehr an, die EU-Ostgrenze ist auch für nicht mit dem Krieg einverstandene Russen weitgehend geschlossen. Alleine im dritten Quartal 2022 haben laut dem FSB-Grenzdienst 1,3 Millionen Russen ihr Land verlassen.
In Einzelfällen führen diese Erschwernisse inzwischen sogar dazu, dass sich Kriegsgegner durch eine Flucht in die innerrussischen Weiten der Kriegseinberufung entziehen. Bekannt geworden ist hier etwa Adam Kalinin, ein IT-Spezialist aus Südrussland, der auf seinen Telegram-Kanal über sein selbst gewähltes Schicksal in der russischen Wildnis erzählt.