Krieg in Europa? Donald Tusk zieht Vergleich zu 1939

Donald Tusk bei Nato-Gipfel in Brüssel, 2018. Bild: Alexandros Michailidis, Shutterstock.com

Polens Staatschef sieht Anbruch der Vorkriegsära. Vergleich zur politischen Situation und Stimmung 1939. Hier seine Thesen.

Polens Präsident Donald Tusk hat in einem Interview davor gewarnt, dass sich der Krieg in der Ukraine zu einem größeren Konflikt in Europa ausweitet. Auf die Frage, ob es wirklich Krieg in Europa geben könnte, antwortet Tusk, diese Frage beschäftige derzeit viele Menschen, ebenso politische Akteure.

Tusk: "Möchte niemandem Angst mache, aber …"

Im Interview mit der Tageszeitung Welt am Sonntag und anderen europäischen Medien sagte Tusk, Krieg sei kein Konzept mehr aus der Vergangenheit, sondern bereits vor über zwei Jahren begonnen habe. Die aktuelle Situation sei beunruhigend, da buchstäblich jedes Szenario möglich sei. Tusk wörtlich:

Diese Frage höre ich überall. Sie kursiert unter den Staats- und Regierungschefs. Sogar meine Enkelkinder fragen danach, wenn ich zu Hause in Sopot bin. Ich möchte niemandem Angst machen, aber Krieg ist kein Konzept mehr aus der Vergangenheit. Er ist real, und er hat schon vor über zwei Jahren begonnen. Am beunruhigendsten ist derzeit, dass buchstäblich jedes Szenario möglich ist. Eine solche Situation haben wir seit 1945 nicht mehr erlebt.

Donald Tusk

Vorkriegszeit könnte begonnen haben

Der polnische Staatschef warnt davor, dass eine neue Ära begonnen haben könne: die Vorkriegszeit. Dies werde jeden Tag deutlicher. Er erinnert an ein Foto aus seiner Kindheit, das den Strand von Sopot voller lachender Menschen zeigt. Das Bild wurde am 31. August 1939 aufgenommen, nur wenige Stunden später begann der Zweite Weltkrieg.

Mit Blick auf Polens östliche Nachbarn äußerte sich Tusk darüber, dass der russische Präsident Wladimir Putin den jüngsten Terroranschlag in Moskau als Vorwand nutzen könnte, um den Krieg in der Ukraine zu eskalieren.

Vergleich zu früheren Gewaltereignissen in Russland

Tusk erinnerte in dem Interview an frühere Ereignisse wie den Anschlag auf das Dubrowka-Theater oder die Schule in Beslan, die Putin seiner Meinung nach für eigene Zwecke genutzt hat.

Tusk kritisierte, dass Putin die Ukraine bereits für die Vorbereitung des Anschlags verantwortlich macht, obwohl er keine Beweise vorgelegt hat. Der polnische Präsident sieht darin den Versuch, die zunehmend gewaltsamen Angriffe auf zivile Objekte in der Ukraine zu rechtfertigen.

Er verweist darauf, dass Russland Kiew am Montag zum ersten Mal bei Tageslicht mit Hyperschallraketen angegriffen hat.

Krieg in Europa ist keine Abstraktion mehr

Tusk bestätigt, dass kürzlich wieder ein russischer Marschflugkörper in den polnischen Luftraum eingedrungen ist. Dies sei ein neuer beunruhigender Vorfall. Er betont, dass der Krieg in seinem Teil Europas keine Abstraktion mehr sei und es die Pflicht der Europäer sei, sich auf die Verteidigung vorzubereiten.

Europa müsse mehr für Verteidigung tun

Tusk fordert, dass Europa mehr in Sachen Verteidigung tun müsse, unabhängig davon, wer die nächste Wahl in den USA gewinne. Europa solle sein Potenzial, seine Fähigkeiten und seine Stärke besser nutzen und autarker in Verteidigungsfragen sein. Nur so könne Europa ein attraktiverer Partner für die USA sein.

Europa müsse sich auf transatlantische Beziehungen konzentrieren

Tusk betont, dass Europa sich aktiver um die transatlantischen Beziehungen kümmern müsse, denn diese seien das einzige verantwortungsbewusste Mittel, sich gegen Russland und andere Autokratien zu verteidigen. Er plädiert dafür, dass Europa ein starkes Bündnis mit Amerika brauche, aber gleichzeitig unabhängig und autark in der Verteidigung sein müsse. Es sei die Aufgabe Europas, die transatlantischen Beziehungen zu pflegen, unabhängig davon, wer US-Präsident sei.

Russland und Belarus senden Migranten an polnische Grenze

Tusk spricht auch das Problem der Migration an. Seiner Meinung nach senden Russland und Belarus systematisch Migranten an die polnische Grenze. Seine Regierung reagiere mit Pushbacks. Tusk betont, dass die Europäische Union als Ganzes bereit sein müsse, für die Sicherheit ihrer Grenzen und ihres Territoriums zu kämpfen. Andernfalls könne sie die Unterstützung der Bevölkerung verlieren.

EU muss Genfer Flüchtlingskonvention einhalten

Polens Staatschef erinnert daran, dass die Genfer Flüchtlingskonvention Staaten dazu verpflichtet, jeden Asylantrag zu prüfen. Er betont jedoch, dass niemand jede Person einzeln prüfen könne, wenn Russland und Weißrussland Tausende von Menschen auf einmal an die Grenze schicken.

Tusk fordert, dass Europa so menschlich wie möglich handeln müsse. Pushbacks seien moralisch inakzeptabel; es müsse eine bessere Lösung gefunden werden, aber die Alternative könne nicht Hilflosigkeit sein.