Krieg in der Ukraine: Neue Soldaten nur noch schwer zu finden

Ein langer Krieg gefährdet vor allem eines: massenhaft Menschenleben. Opferzahlen sind hoch und die Front nur schwer stabil zu halten. Kommen auch illegale Maßnahmen für Rekrutierung zum Einsatz?

Als die deutsche Journalistin Alice Schwarzer am Wochenende in Berlin auf der Bühne stand und zu den Demonstranten sprach, sagte sie etwas, das oft wenig Beachtung findet. Wer von einem Abnutzungskrieg in der Ukraine spreche, sagte sie, der spreche nicht nur über die Abnutzung von Kriegsgerät, sondern auch immer von Menschen.

Ein Jahr nach Beginn des Krieges sind die Opferzahlen noch immer ein gut gehütetes Geheimnis beider Kriegsparteien. Im Westen stützen sich Medien in ihren Berichten vorwiegend auf Schätzungen. Und diese Zahlen sind stark umstritten und umkämpft, wie Telepolis oder die Faktenfinder der Tagesschau kürzlich zeigten.

Die Faktenfinder beschäftigten sich mit Opferzahlen, die Twitter-Chef Elon Musk mit den Worten kommentierte: "Ein tragischer Verlust von Menschenleben". Ein Experte wurde in dem Beitrag bemüht, der Musks Tweet als "Aufmerksamkeitsmultiplikator für Desinformation" bezeichnete.

Ziel von solchen vermeintlich falschen Verlustangaben sei schließlich, die internationale Unterstützung der Ukraine zu untergraben. "Ihr Verteidigungskampf soll aussichtslos dargestellt werden", kommentierte der Experte.

Die türkische Zeitung Hürseda Haber hatte Ende Januar Zahlen zu den materiellen und menschlichen Verlusten Russlands und der Ukraine veröffentlicht, die angeblich vom israelischen Geheimdienst Mossad stammen sollen. Allein auf ukrainischer Seite soll es demnach 157.000 Gefallene und 234.000 Verwundete geben.

Diese Zahlen könnten selbstverständlich Teil eines Informationskrieges sein – aber auch wenn sie nicht korrekt sein sollten, weisen immer wieder Berichte in den westlichen Medien auf den enormen Verschleiß an Menschenleben in diesem Krieg hin.

In der britischen Zeitung The Times hieß es kürzlich: Die immer größer werdenden Soldatenfriedhöfe in den Außenbezirken von Kiew und Dnipro gäben ein anschauliches Bild von der Situation ab. Jeden Tag fänden Beerdigungen statt, viele Gräber trügen keinen Namen, weil die Gefallenen nicht identifiziert werden könnten.

Die Opferzahlen sind in Kiew ein gut gehütetes Geheimnis. Einzig Mykhailo Podolyak, Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, sprach Ende vergangenen Jahres einmal über die Opfer. Ihre Zahl liege demnach zwischen 10.000 und 13.000. Manchmal heißt es aber auch, dass Selenskyj die offiziellen Zahlen zu einem geeigneten Zeitpunkt mitteilen werden. Gemeint dürfte nach Ende des Krieges sein.

Im Westen wird die Zahl der gefallenen ukrainischen Soldaten deutlich höher geschätzt. Mark A. Milley, Vorsitzender des Vereinigten Generalstabs der US-Streitkräfte, hatte im November davon gesprochen, dass auf beiden Seiten mehr als 100.000 Soldaten getötet und verwundet worden seien.

In The Times meldete sich der General Richard Barrons, ehemaliger Befehlshaber des britischen Joint Forces Command, zu Wort. An schlechten Tagen seien bis zu 300 Tote in den ukrainischen Truppen zu beklagen, schätzte er.

Das sind allerdings nicht die vollständigen Opferzahlen. Denn laut Experten kommen auf jeden Toten noch einmal bis zu drei Verwundete. Pro Tag könnten damit knapp 1.000 ukrainische Soldaten durch Tod oder Verwundung kampfunfähig werden.

Diese Verlustrate ist laut Barrons eine Herausforderung für die ukrainische Armee. Um die knapp 1.600 Kilometer lange Front zu verteidigen, würde die Ukraine rund 200.000 Soldaten im Feld halten müssen. Doch bei diesen Verlusten sei es schwierig, die Front stabil zu halten. Neue Soldaten müssen stetig herangeführt werden.

Vor diesem Hintergrund wird das Bemühen der Regierung in Kiew verständlich, die Bürger zu mobilisieren und zum Kriegsdienst heranzuziehen. Doch im Gegensatz zum vergangenen Jahr ist das längst kein Selbstläufer mehr.

Illegale Methoden der Rekrutierung

Während der ersten Einberufungswelle waren lange Schlangen vor den Rekrutierungsbüros ein häufiger Anblick. Inzwischen sind die Ukrainer weniger enthusiastisch. Deshalb müssen sich die Militärbeamten zahlreicher Tricks bedienen, manche illegal, andere sorgten für Empörung, berichtete The Economist kürzlich.

Ein Beispiel aus der Nähe von Lviv. Seit seiner Kindheit ist ein Mann schwerbehindert – ihm fehlen beide Hände. Von den Beamten wurde er dennoch diensttauglich geschrieben. Erst nachdem er damit an die Öffentlichkeit ging und es in den sozialen Netzwerken einen Aufschrei gab, machten die Beamten ihre Entscheidung rückgängig.

Laut Bericht war dieser Fall ein extremer, aber bei Weitem kein Einzelfall. Einberufungsbescheide sollen bei Begräbnissen in Lviv überreicht worden sein, an Kontrollpunkten in Charkiw, in Einkaufszentren in Kiew und an Straßenecken in Odessa. Selbst in Skigebieten sollen die Militärbeamten nach neuen Rekruten gesucht haben.

Diese Schilderungen decken sich mit den Berichten in diversen Telegram-Kanälen oder in ungarischen Medien. Im ungarischen Fernsehen wurden Videos ausgestrahlt, die zeigen sollen, wie ukrainische Soldaten und Polizisten Männer mit Gewalt rekrutieren. Dabei soll es sich vor allem um Angehörige der ungarischen Minderheit in der ukrainischen Region Transkarpatien handeln.

Ob diese Videos authentisch sind, konnte nicht überprüft werden. Aber sie sind es wahrscheinlich. Denn gegenüber The Economist gaben ukrainische Regierungsbeamte indirekt zu, dass es auch zu illegalen Methoden der Rekrutierung kommen kann. Man wolle gegen Exzesse vorgehen, sobald sie ans Licht kämen, erklärten sie.

Auch ukrainischen Juristen ist die Praxis der Einberufung sehr suspekt geworden. Es werde sich kaum an die gesetzlichen Vorgaben gehalten. Und wenn ein Jurist für seinen Mandanten gegen einen Einberufungsbescheid vorgehe, könne es passieren, dass der Anwalt selbst einberufen werde. The Economist erfuhr nach eigenen Angaben von mehreren Fällen dieser Art.

Die Berichte sind ein deutliches Indiz dafür, dass der Verschleiß von Menschenleben in diesem Krieg hoch ist. Und die Frage bleibt, ob ein Abnutzungskrieg im Interesse der Ukrainer ist.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.