Krieg in der Ukraine: Stopp aller Waffenlieferungen und Kapitulation?

Gerhard Trabert bei der Vorstellung als Kandidat der Linken zur Wahl des Bundespräsidenten 2022. Bild: Martin Heinlein / Die Linke / CC-BY-2.0

Das "Manifest für Frieden" fordert weder das eine noch das andere, sagt Erstunterzeichner Trabert. Die Debatte um die Initiative sieht er kritisch. Er verweist auf ein zentrales Problem.

Am Samstag dieser Woche soll in Berlin eine Großdemonstration zum Ukraine-Krieg stattfinden. Hauptorganisatorinnen sind Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht, die sich in ihrer Petition "Manifest für Frieden" angesichts ukrainischer Forderungen nach "Kampfjets, Langstreckenraketen und Kriegsschiffen" gegen "die Eskalation der Waffenlieferungen" aussprechen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wird aufgefordert, sich für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen einzusetzen.

Prof. Gerhard Trabert unterstützt das "Manifest für Frieden" als einer der Erstunterzeichner. Er ist der Ukraine seit Langem über humanitäre Hilfsprojekte verbunden und engagiert sich als Arzt seit über zwanzig Jahren in Kriegsgebieten. Telepolis sprach mit ihm über das Anliegen des Manifests und seine Sicht auf den Ukraine-Krieg.

"Ich bin nicht gegen Waffenlieferungen an die Ukraine"

Die Petition wurde von hunderttausenden Menschen unterschrieben, hat medial aber viel Gegenwind erfahren. Häufig stehen dabei nicht sachliche Analysen, sondern ideologische Abwehrreflexe im Vordergrund. Man fragt sich bisweilen, ob die Kritiker den Text überhaupt gründlich gelesen haben. Wie kommt das bei Ihnen an?

Gerhard Trabert: Es ist unredlich und manipulativ, wenn Kritiker Teile des Textes negieren, Dinge hineininterpretieren und teilweise sogar Aussagen frei erfinden. Als schwerwiegendstes Problem empfinde ich allerdings die Haltung, sich nicht konstruktiv mit den Hauptanliegen des Manifests auseinanderzusetzen. So stelle ich mir eine lebendige, funktionierende Demokratie nicht vor.

Wer den Text genau liest, wird zum Beispiel feststellen, dass – entgegen weitverbreiteter Behauptungen – mit keinem Wort gefordert wird, den militärischen Widerstand und die militärische Unterstützung der Ukraine zu stoppen. Wir warnen allerdings vor den Folgen einer permanenten Ausweitung der Waffenlieferungen. Das ist etwas völlig anderes.

Aber es wird auch nicht ausdrücklich gesagt, dass die militärische Verteidigungsfähigkeit der Ukraine aktiv unterstützt werden sollte. Wie ist Ihre persönliche Haltung zu diesem Thema?

Gerhard Trabert: Wir Erstunterzeichner haben den Text nicht geschrieben, konnten aber vor seiner Veröffentlichung Anmerkungen zurückmelden, die dann teilweise auch Eingang fanden. Wenn ich so eine Petition formulieren würde, wäre ich punktuell eindeutiger, hätte dann aber wahrscheinlich auch weniger Unterstützer.

Ich habe von Anfang an gesagt, ich bin nicht gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. Als Mediziner, als Mensch, musste ich während meiner Hilfseinsätze mehrfach erleben, wie ein Aggressor Tod, Leid und Traumatisierung über eine brutal überfallene Zivilbevölkerung bringt. Es war ein schmerzlicher persönlicher Erkenntnisprozess, aber mittlerweile habe ich es akzeptiert, dass es Situationen gibt, in denen man einem Aggressor militärisch entgegentreten muss.

"Brauchen Szenarien, die aus der Gewaltspirale herausführen"

Nach einer Akutphase ist es aber in jedem Krieg unabdingbar, Szenarien zu entwickeln, die aus der Gewaltspirale wieder herausführen. Leider lassen die Nato-Staaten hier keinerlei Initiative erkennen, obwohl sie als Waffenlieferanten eine große Verantwortung tragen und entsprechend einflussreich sind. Genau hier setzt für mich dieses Manifest an: Dass wir uns positionieren und sagen: "Stopp, es kann so nicht weitergehen. Wohin führt das?" Und das heißt nicht: "überhaupt keine Waffen mehr".

Ich kenne keine militärische Analyse, die überzeugend dargelegt, dass die russische Armee in absehbarer Zeit vollständig besiegt und aus dem Land vertrieben werden könnte. Es ist zu befürchten, dass dieses ukrainische Kriegsziel, wenn überhaupt, nur mit einem unermesslich hohen Blutzoll zu erreichen wäre.

Als Arzt habe ich im Irak, in Afghanistan, in Syrien, in Angola, in Liberia hautnah erlebt, was Krieg bei den Menschen anrichtet: Tod, Sterben, Verlust von Angehörigen, Verstümmelungen, Verbrennungen, Traumatisierungen. Wie wollen wir dieses Leid in der Ukraine stoppen, wenn kein militärisches Ende absehbar ist, und wir dennoch ausschließlich auf die militärische Schiene setzen? In dieser Situation befinden wir uns meiner Meinung nach. Aber der mediale und politische Mainstream läuft immer nur in Richtung Waffen, Waffen, Waffen; Krieg, Krieg, Krieg; wir brauchen schwere Waffen für den Frieden!

"Mangelnde Verhandlungsbereitschaft bereits vor Invasion Fehler"

Das führt direkt zum zweiten großen Thema des "Manifests für Frieden", zur Forderung nach einem Waffenstillstand und Friedensverhandlungen. Vieles deutet darauf hin, dass maßgebliche Nato-Mitgliedsstaaten von Kriegsbeginn an – und bereits vorher – keine Kompromisslösungen wünschten.

Gerhard Trabert: Im Vorfeld des Krieges hat die Nato ganz offensichtlich gravierende Fehler begangen. Putin hatte bereits vor Jahren dargelegt, wo für ihn rote Linien sind. Die vielleicht entscheidende Frage nach der militärischen Neutralität der Ukraine lag als Option auf dem Tisch. All das wurde auch noch nach Monaten des russischen Truppenaufmarschs vor der ukrainischen Grenze ignoriert. Dem Ernst der Lage angemessene Verhandlungen hätten vielleicht zigtausende Menschenleben retten können.

Diese Feststellung relativiert den, wie das im Manifest ganz klar benannt wird, "brutalen Überfall auf die ukrainische Bevölkerung" in keiner Weise. Um aber Zukunft zu gestalten, müssen wir die eigenen Fehler erkennen. Aus diesen Fehlern kann man lernen – und Lernen bedeutet hier, dass man eben jetzt das Thema "Verhandlungen" ganz oben auf die Agenda setzt.

Aber es widerspricht doch jedem Gerechtigkeitsgefühl, wenn die Ukraine in einem Kompromiss mit Russland widerrechtlich eingenommenes Staatsgebiet verliert.

Gerhard Trabert: Ja, das stimmt – und man darf Werte wie Gerechtigkeit niemals aufgeben. Dennoch sollte man die Klugheit haben, einzusehen, dass eine Umsetzung von als gerecht empfundenen Maximalzielen nicht immer unmittelbar möglich ist. Etwa dann nicht, wenn man andere Formen von Ungerechtigkeit, wie Leid und Sterben von tausenden Kindern, Frauen und Männern, in einem Krieg, stoppen will.

Wenn die Ungerechtigkeit gegenüber den Kriegsopfern der Wiederherstellung territorialer Gerechtigkeit entgegensteht, heißt das doch: Es ist in der Ukraine derzeit unmöglich, umfassende Gerechtigkeit herzustellen. Wäre das eine Wahrheit, die die Politik offen aussprechen sollte?

Gerhard Trabert: Da stimme ich zu. Was bedeutet es denn, ukrainische Maximalziele gegen eine Atommacht wie Russland gewaltsam und ohne Rücksicht auf Verluste durchzusetzen? Hat man das wirklich zu Ende gedacht?