Das "Manifest für Frieden" fordert weder das eine noch das andere, sagt Erstunterzeichner Trabert. Die Debatte um die Initiative sieht er kritisch. Er verweist auf ein zentrales Problem.
Am Samstag dieser Woche soll in Berlin eine Großdemonstration zum Ukraine-Krieg stattfinden. Hauptorganisatorinnen sind Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht, die sich in ihrer Petition "Manifest für Frieden" angesichts ukrainischer Forderungen nach "Kampfjets, Langstreckenraketen und Kriegsschiffen" gegen "die Eskalation der Waffenlieferungen" aussprechen. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) wird aufgefordert, sich für einen Waffenstillstand und Friedensverhandlungen einzusetzen.
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Prof. Gerhard Trabert unterstützt das "Manifest für Frieden" als einer der Erstunterzeichner. Er ist der Ukraine seit Langem über humanitäre Hilfsprojekte verbunden und engagiert sich als Arzt seit über zwanzig Jahren in Kriegsgebieten. Telepolis sprach mit ihm über das Anliegen des Manifests und seine Sicht auf den Ukraine-Krieg.
"Ich bin nicht gegen Waffenlieferungen an die Ukraine"
Die Petition wurde von hunderttausenden Menschen unterschrieben, hat medial aber viel Gegenwind erfahren. Häufig stehen dabei nicht sachliche Analysen, sondern ideologische Abwehrreflexe im Vordergrund. Man fragt sich bisweilen, ob die Kritiker den Text überhaupt gründlich gelesen haben. Wie kommt das bei Ihnen an?
Gerhard Trabert: Es ist unredlich und manipulativ, wenn Kritiker Teile des Textes negieren, Dinge hineininterpretieren und teilweise sogar Aussagen frei erfinden. Als schwerwiegendstes Problem empfinde ich allerdings die Haltung, sich nicht konstruktiv mit den Hauptanliegen des Manifests auseinanderzusetzen. So stelle ich mir eine lebendige, funktionierende Demokratie nicht vor.
Wer den Text genau liest, wird zum Beispiel feststellen, dass – entgegen weitverbreiteter Behauptungen – mit keinem Wort gefordert wird, den militärischen Widerstand und die militärische Unterstützung der Ukraine zu stoppen. Wir warnen allerdings vor den Folgen einer permanenten Ausweitung der Waffenlieferungen. Das ist etwas völlig anderes.
Aber es wird auch nicht ausdrücklich gesagt, dass die militärische Verteidigungsfähigkeit der Ukraine aktiv unterstützt werden sollte. Wie ist Ihre persönliche Haltung zu diesem Thema?
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Gerhard Trabert: Wir Erstunterzeichner haben den Text nicht geschrieben, konnten aber vor seiner Veröffentlichung Anmerkungen zurückmelden, die dann teilweise auch Eingang fanden. Wenn ich so eine Petition formulieren würde, wäre ich punktuell eindeutiger, hätte dann aber wahrscheinlich auch weniger Unterstützer.
Ich habe von Anfang an gesagt, ich bin nicht gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. Als Mediziner, als Mensch, musste ich während meiner Hilfseinsätze mehrfach erleben, wie ein Aggressor Tod, Leid und Traumatisierung über eine brutal überfallene Zivilbevölkerung bringt. Es war ein schmerzlicher persönlicher Erkenntnisprozess, aber mittlerweile habe ich es akzeptiert, dass es Situationen gibt, in denen man einem Aggressor militärisch entgegentreten muss.
"Brauchen Szenarien, die aus der Gewaltspirale herausführen"
Nach einer Akutphase ist es aber in jedem Krieg unabdingbar, Szenarien zu entwickeln, die aus der Gewaltspirale wieder herausführen. Leider lassen die Nato-Staaten hier keinerlei Initiative erkennen, obwohl sie als Waffenlieferanten eine große Verantwortung tragen und entsprechend einflussreich sind. Genau hier setzt für mich dieses Manifest an: Dass wir uns positionieren und sagen: "Stopp, es kann so nicht weitergehen. Wohin führt das?" Und das heißt nicht: "überhaupt keine Waffen mehr".
Ich kenne keine militärische Analyse, die überzeugend dargelegt, dass die russische Armee in absehbarer Zeit vollständig besiegt und aus dem Land vertrieben werden könnte. Es ist zu befürchten, dass dieses ukrainische Kriegsziel, wenn überhaupt, nur mit einem unermesslich hohen Blutzoll zu erreichen wäre.
Als Arzt habe ich im Irak, in Afghanistan, in Syrien, in Angola, in Liberia hautnah erlebt, was Krieg bei den Menschen anrichtet: Tod, Sterben, Verlust von Angehörigen, Verstümmelungen, Verbrennungen, Traumatisierungen. Wie wollen wir dieses Leid in der Ukraine stoppen, wenn kein militärisches Ende absehbar ist, und wir dennoch ausschließlich auf die militärische Schiene setzen? In dieser Situation befinden wir uns meiner Meinung nach. Aber der mediale und politische Mainstream läuft immer nur in Richtung Waffen, Waffen, Waffen; Krieg, Krieg, Krieg; wir brauchen schwere Waffen für den Frieden!
"Mangelnde Verhandlungsbereitschaft bereits vor Invasion Fehler"
Das führt direkt zum zweiten großen Thema des "Manifests für Frieden", zur Forderung nach einem Waffenstillstand und Friedensverhandlungen. Vieles deutet darauf hin, dass maßgebliche Nato-Mitgliedsstaaten von Kriegsbeginn an – und bereits vorher – keine Kompromisslösungen wünschten.
Gerhard Trabert: Im Vorfeld des Krieges hat die Nato ganz offensichtlich gravierende Fehler begangen. Putin hatte bereits vor Jahren dargelegt, wo für ihn rote Linien sind. Die vielleicht entscheidende Frage nach der militärischen Neutralität der Ukraine lag als Option auf dem Tisch. All das wurde auch noch nach Monaten des russischen Truppenaufmarschs vor der ukrainischen Grenze ignoriert. Dem Ernst der Lage angemessene Verhandlungen hätten vielleicht zigtausende Menschenleben retten können.
Diese Feststellung relativiert den, wie das im Manifest ganz klar benannt wird, "brutalen Überfall auf die ukrainische Bevölkerung" in keiner Weise. Um aber Zukunft zu gestalten, müssen wir die eigenen Fehler erkennen. Aus diesen Fehlern kann man lernen – und Lernen bedeutet hier, dass man eben jetzt das Thema "Verhandlungen" ganz oben auf die Agenda setzt.
Aber es widerspricht doch jedem Gerechtigkeitsgefühl, wenn die Ukraine in einem Kompromiss mit Russland widerrechtlich eingenommenes Staatsgebiet verliert.
Gerhard Trabert: Ja, das stimmt – und man darf Werte wie Gerechtigkeit niemals aufgeben. Dennoch sollte man die Klugheit haben, einzusehen, dass eine Umsetzung von als gerecht empfundenen Maximalzielen nicht immer unmittelbar möglich ist. Etwa dann nicht, wenn man andere Formen von Ungerechtigkeit, wie Leid und Sterben von tausenden Kindern, Frauen und Männern, in einem Krieg, stoppen will.
Wenn die Ungerechtigkeit gegenüber den Kriegsopfern der Wiederherstellung territorialer Gerechtigkeit entgegensteht, heißt das doch: Es ist in der Ukraine derzeit unmöglich, umfassende Gerechtigkeit herzustellen. Wäre das eine Wahrheit, die die Politik offen aussprechen sollte?
Gerhard Trabert: Da stimme ich zu. Was bedeutet es denn, ukrainische Maximalziele gegen eine Atommacht wie Russland gewaltsam und ohne Rücksicht auf Verluste durchzusetzen? Hat man das wirklich zu Ende gedacht?
Die Nato steht in der Verantwortung, politische Lösungen nach vorn zu bringen
Sie treten für eine Rückkehr an den Verhandlungstisch ein. Aber ist die russische Führung daran überhaupt interessiert?
Gerhard Trabert: Aktuell lässt man Putin nur die Wahl, entweder auf alle Kriegsziele zu verzichten oder seinen Krieg weiterzuführen. Da ist es wenig überraschend, dass er sich für Letzteres entscheidet. Putin wird mittlerweile erkannt haben, dass seine Invasion in katastrophaler Weise anders läuft, als er sich das vorgestellt hatte.
Es ist durchaus denkbar, dass er einem irgendwie gesichtswahrenden Ausstieg nicht abgeneigt ist. Wir wissen es nicht – aber diese Wissenslücke ist doch kein Argument, die Möglichkeit einer Kriegsbeendigung nicht wenigstens auszuloten.
Mein Anliegen ist, dass Deutschland, und dann auch die Nato, damit beginnen, sich zusätzlich zu den bisherigen Maßnahmen, entschieden für politische Lösungen einzusetzen.
Ist Putin überhaupt ein vertrauenswürdiger Verhandlungspartner?
Gerhard Trabert: In einem Verhandlungsprozess würde sich zeigen, ob es möglich ist, Misstrauen abzubauen. Außerdem sollten Friedensabkommen immer an Stufenpläne und Sicherheitsgarantien durch außenstehende Staaten geknüpft werden. Es geht nicht um einen Handschlag Putins, dem man dann blind vertraut. Idealerweise sollten da noch ganz andere geopolitische Akteure ins Spiel kommen, etwa China.
Bereits vor Monaten hat die ukrainische Führung geäußert, dass sie Friedensverhandlungen mit Russland, insbesondere mit Putin, ablehnt.
Gerhard Trabert: Ich kann verstehen, dass Präsident Wolodymyr Selenskyj in dieser Situation, in der man die Solidarität der eigenen Bevölkerung und der Nato-Staaten spürt, das Maximum herausholen will. Es ist seine legitime Strategie, dass er alle Gebiete zurückhaben möchte und für die Rückeroberung möglichst viel Kriegsgerät fordert.
Aber eine befreundete Nation hat die Verantwortung, Selenskyj zu sagen: Wir können dich verstehen. Aber das, was du dir wünschst und was wir uns auch wünschen, ist jetzt nicht möglich. Deine Maximalstrategie wird zigtausende Menschenleben kosten und birgt große Gefahren bis hin zur nuklearen Eskalation. Wir unterstützen dich weiterhin, aber lass uns auch darüber reden, welche nicht-militärischen, politischen Optionen es geben könnte.
"Auf ukrainischer Regierung und Bevölkerung lastet ungeheurer Druck"
Hinzu kommt: Selenskyj hätte es wohl sehr schwer, Kompromisslösungen innenpolitisch durchzusetzen. Bereits vor der russischen Invasion war klar, dass es ultranationalistische Kräfte gibt, die auf rein militärische Logik setzen und die gegenüber Selenskyj auf ihren eigenen roten Linien bestehen. Um sich gegen solche Kräfte durchzusetzen, wäre er auf eine klare Pro-Verhandlungslinie der Nato-Staaten dringend angewiesen.
Umfragen deuten darauf hin, dass nur eine Minderheit der ukrainischen Bevölkerung Friedensverhandlungen befürwortet.
Gerhard Trabert: Was mir meine ukrainischen Gesprächspartner vermitteln, ist einerseits: "Die besetzten Gebiete sind unsere Gebiete. Die möchten wir wieder zurückhaben." Und andererseits: "Wir wollen und können nicht mehr. So viele sind gestorben, unsere Kinder sind traumatisiert, wir sind einfach am Ende unserer Kräfte."
Wenn ein Land im Krieg ist, lastet ein ungeheurer Druck auf den Menschen, sich dem Mainstream anzuschließen. Außerdem stellt sich das Gefühl ein: "Wir haben schon so viel verloren – wenn wir jetzt nachlassen, wäre das alles umsonst gewesen." Für innerukrainische Initiativen in Richtung "Kriegsbeendigung durch einen Kompromissfrieden" bleibt da wenig Platz. Aber gerade deshalb braucht es ein befreundetes Land, um Raum für diese Thematik zu schaffen.
Selbst bei uns in Deutschland ist der Druck spürbar, bloß nicht über die militärische Logik hinauszugehen. Man sieht das ja auch an den Reaktionen auf unser Manifest. Sie können sich bestimmt vorstellen, dass in der Ukraine dieser Druck noch eine ganz andere Dimension hat. Da giltst du dann rasch als "Vaterlandsverräter" – obwohl es dir um die Menschen in deinem Vaterland geht, aber auf eine andere Art und Weise.
Wie gehen Sie damit um, dass AfD-Politiker wie Tino Chrupalla die Petition zum "Manifest für Frieden" unterschrieben haben?
Gerhard Trabert: Die Verfasserinnen des Manifests haben gezielt ausgewählt, wer Erstunterzeichner sein soll – und wer nicht; die Beteiligung an der öffentlichen Petition ist dann aber nicht mehr kontrollierbar. Dennoch ist für mich eine klare Abgrenzung gegenüber einer rechtspopulistischen Instrumentalisierung essenziell und muss dann auch praktisch realisiert werden.
Ich bin sehr froh, dass wir in diesem Telepolis-Gespräch nicht über Beifall von der richtigen oder falschen Seite geredet haben, sondern über wesentlich Wichtigeres: über die Inhalte des Manifests. Auch die Demo am Samstag hat das Ziel, in Medien und Politik eine breite Auseinandersetzung mit diesen Inhalten anzustoßen. Und ich hoffe sehr, dass sich die Demo-Berichterstattung nicht darauf beschränken wird, deutschnationale Fahnen im Teilnehmerfeld ausfindig zu machen.
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