Krieg von ungewohnter Seite: Friedensbewegung sucht Weg aus der Schockstarre
Kritik und Selbstkritik bei Online-Aktionskonferenz: "Der 24. Februar war eine große Niederlage" – viele rechneten bis zuletzt nicht mit dem russischen Angriff auf die Ukraine
Für politisch aktive Menschen, die schon gegen den Irak-Krieg und seither immer wieder auf die Straße gegangen sind, um gegen Krieg und Militarismus zu protestieren, ist es eine ungewohnte Situation: Die Informationen westlicher Geheimdienste, denen sie aufgrund von Erfahrungswerten mindestens skeptisch gegenüberstanden, haben dieses Mal in wichtigen Punkten gestimmt – jedenfalls wenige Tage nach dem zuerst genannten Datum hat das russische Militär tatsächlich auf breiter Front die Ukraine angegriffen.
Nun sind deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine beschlossen. Erst sollten nur 5000 Helme geliefert werden, was in "Sozialen Netzwerken" für tragikomisch befunden wurde, jetzt kommen laut Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) 1000 Panzerabwehrwaffen und 500 Stinger-Raketen hinzu.
Die Online-Aktionskonferenz der Friedensbewegung war schon für Samstag, den 26. Februar geplant, als sich die Eskalation rund um die Ukraine zuspitzte. Ziel sollte sein, öffentliche Aktionen zu planen, um einen heißen Krieg zu verhindern. Doch nun hat mit dem russischen Einmarsch in der Ukraine der Krieg begonnen und die Friedensbewegung steht unter einem besonderen Druck.
Das betonten mehrere Rednerinnen und Redner im Zuge der dreistündigen Onlinekonferenz. Der Diskussionsbedarf war groß, rund 220 Interessierte verfolgten die Konferenz, viele meldeten sich auch zu Wort.
Mehrere machten dabei deutlich, dass sie in dem russischen Einmarsch eine persönliche Niederlage und eine Katastrophe für die Friedensbewegung sehen. Besonders emotional sprach der langjährige Friedensaktivist Ulrich Glade aus Oldenburg, dem mehrmals die Stimme versagte, als er erklärte, wie schwer ihn die Kriegsentscheidung getroffen hat. Er warnte auch vor einer "Afghanisierung" der Ukraine, also der Herausbildung eines Staates, in dem ein jahrelanger militärischer Kleinkampf gegen die russische Armee mit allen sich daran anschließenden Konflikten tobt.
Auch der langjährige Aktivist Reiner Braun sprach von einer Zäsur für die Friedensbewegung und bemühte historische Vergleiche. Er sah eine Situation wie nach dem Einmarsch der Roten Armee und mehrerer Staaten des Warschauer Pakts in Prag 1968. Damals geriet in der gesellschaftlichen Linken jene Fraktion besonders unter Druck, die in der Sowjetunion ein sozialistisches Vorbild sah.
Nun ist die Sowjetunion schon mehr 30 Jahre Geschichte, doch in einem Teil der traditionellen Linken gab es noch immer ein Grundvertrauen in Russland. Das ist jetzt erschüttert, wie verschiedene Rednerinnen und Redner betonten. Dazu gehört Kerstin Kaiser, langjährige Politikerin der Partei Die Linke und aktuell Büroleiterin der Rosa-Luxemburg Stiftung. Als solche hat sie eine besondere Beziehung zu Russland. Von dort schaltete sie sich auch in die Diskussion zu.
Sie fragte sich selbstkritisch, warum sie bis zum 24. Februar einen russischen Einmarsch nicht für möglich hielt. Dabei arbeitete sie heraus, dass es sich bei Russland um einen genauso aggressiven kapitalistischen Staat wie alle anderen handelt. Sie verwies aber – wie zuvor Reiner Braun – auch auf die Antikriegsbewegung in Russland, die massiv kriminalisiert werde. Zudem erinnerte Kaiser an russische Oppositionelle, die vor ihrer Verfolgung in die Ukraine geflohen waren und nach dem Einmarsch russischer Truppen in besonderer Gefahr sind.
Mehrheit auch in Deutschland glaubte nicht an russischen Einmarsch
Die Überzeugung, dass Russland nicht einmarschieren würde, teilten die Aktiven der Friedensbewegung mit einem großen Teil der Bevölkerung Deutschlands, worauf eine andere Teilnehmerin der Aktionskonferenz hinwies. Dieser Fakt war bisher als Pluspunkt der Friedensbewegung bewertet worden. So wurde immer argumentiert, dass die Menschen in Deutschland zwar nicht gegen die Aufrüstung auf die Straße gingen, aber laut Umfragen mehrheitlich gibt, der russischen Regierung keine Kriegspolitik unterstellten.
Doch mit dem Einmarsch in der Ukraine könnten sich die Menschen in ihrem Grundvertrauen, dass von Russland kein Krieg ausgeht, verraten fühlen. Mike Nagler aus Leipzig erklärt sich die Haltung Russlands mit der mehrjährigen Vorgeschichte. Er verwies darauf, dass der Krieg in der Ukraine vor acht Jahren begonnen und Tausende Tote gefordert hatte. Und er kritisierte politische Kräfte, die zwar jetzt für den Frieden auf die Straße gehen, aber teilweise über Jahre hinweg die Aufrüstungspolitik der Nato unterstützt haben.
Als Beispiel verwies Nagler auf eine Friedenskundgebung in Leipzig, wo zu Geldspenden für die ukrainische Armee aufgerufen wurde. Gleichwohl betonte Nagler, er werde an diesem Sonntag auf keinen Fall bei der Campact-Demonstration in Berlin hinter ukrainischen Fahnen herlaufen. Dem widersprach eine Antimilitaristin aus Frankfurt am Main – sie wolle die vielen Menschen, die jetzt gegen den Krieg in der Ukraine auf die Straße gehen, nicht der Hegemonie von Aufrüstungsbefürwortern aus den Reihen von SPD und Grünen überlassen. Daher plädierte sie für eine Teilnahme an der Großdemonstration.
Wie umgehen mit falschen Freunden der Friedensbewegung
In der Frage des Umgangs mit dem großen Teil der Menschen, die bisher nie bei Friedensaktivitäten anzutreffen waren, jetzt als die neue Friedensbewegung auftreten und dabei kein kritisches Wort über die Politik der Nato und deren Kriege der letzten Jahrzehnte äußern, entzweite die Konferenzteilnehmer. Die deutsch-amerikanische Friedensaktivistin Elsa Rassbach fragte, wo die Empörung dieser neuen Friedensfreunde über die Opfer der Drohnen sei, die auch von Deutschland aus gesteuert werden.
Ein kleinerer Teil der Diskutanten der Aktionskonferenz äußerte Skepsis gegen die Teilnahme an einer Demonstration, auf der die Rolle der Nato und besonders auch Deutschlands nicht einmal in einen Nebensatz angedeutet wird.
Ein größerer Teil der Diskutanten plädierte aber für eine Teilnahme. Dabei wurde auch auf den Aufruf des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) verwiesen, von dem sich vor allem ein Großteil der traditionellen Linken nicht isolieren will. Allerdings ist unwahrscheinlich, dass die Gruppen der organisierten Friedensbewegung eine Massendemonstration inhaltlich beeinflussen können.
Nun gibt es ja historische Beispiele, dass organisierte politische Gruppen Probleme mit einer Massenbewegung haben, die scheinbar mit den gleichen Parolen mobilisiert. So fand zum Beispiel im November 1992 angesichts der rassistischen Anschläge in Deutschland eine solche Großkundgebung statt – mit dem damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker (CDU) als zentralem Redner.
Organisierte Antirassisten störten damals dessen Rede mit Sprechchören und "Heuchler-Heuchler"-Rufen, um dagegen zu protestierten, dass der höchste Repräsentant eines Staates, der gerade eine massive Einschränkung des Asylrechts vorbereitete dort auftrat. Doch auch viele Anhänger einer staatlichen Einwanderungsbegrenzung unterstützten mehrheitlich nicht die Naziüberfälle auf Menschen mit nichtdeutschen Hintergrund. Das – und nicht Antirassismus im Sinne offener Grenzen und gleicher Rechte für alle – war die Grundlage der Großdemonstration. Dazu kam natürlich noch die Sorge um das Ansehen der Exportnation Deutschlands.
So ist auch anzunehmen, dass Menschen, die am 27. Februar gegen den Einmarsch der russischen Armee in der Ukraine auf die Straße gehen, in der großen Mehrheit keine Antimilitaristen sind. Es ist auch eher unwahrscheinlich, dass es auf einer Großdemonstration mit ihren besonderen Dynamiken gelingen wird, antimilitärische Inhalte einzubringen. Vor 30 Jahren haben das die antirassistischen Gruppen erst gar nicht versucht, sondern mit den Sprechchören bei der Weizsäcker-Rede auf Provokation gesetzt.
Bezugspunkte: Olof Palme, Willy Brandt oder Rosa Luxemburg?
Die dreistündige Aktionskonferenz hat, dass es großen Diskussionsbedarf unter Aktivisten der klassischen Friedensbewegung gibt. Eine größere Konferenz, um unterschiedliche Positionen zu klären, wurde für die nächsten Monate vorgeschlagen, aber nicht konkretisiert. Ebenso wurden Aktionstage "gegen jeden Krieg" ins Gespräch gebracht – auch auf die nahenden Ostermärsche wurde verwiesen.
Der Vorschlag einer Neuauflage des Krefelder Appells von 1980, den damals Millionen Menschen unterstützt hatten, um gegen die Stationierung us-amerikanischer Mittelstreckenraketen in Westeuropa zu protestieren, wird aktuell dadurch erschwert, dass im vergangenen Jahr bereits eine rechtsoffene Initiative einen viel kritisierten Aufschlag dazu gemacht hat. Hierbei war die Warnung vor der realen Gefahr eines Atomkriegs ausgerechnet mit der Panikmache radikaler Impfgegner vor Covid-19-Vakzinen vermischt worden. Auch bekannte Schlüsselfiguren der "Querdenker"-Szene hatten hier unterschrieben.
Der historische Krefelder Appell hatte sich dagegen auf einen friedenspolitischen Minimalkonsens beschränkt. Ob er mehr als 40 Jahre später kopiert werden kann, ohne dass Verwechslungsgefahr besteht, ist die Frage.
Deutlich wurde bei der Konferenz am Samstag aber auch, dass die theoretischen Zugänge zur Friedensbewegung sehr unterschiedlich sind. Eine Zuhörerin bezog sich auf den Dalai Lama, blieb damit aber eher isoliert. Mehr Zustimmung bekamen Redner, die sich eine Rückbesinnung auf sozialdemokratische Politiker wie den ehemaligen schwedischen Ministerpräsidenten Olof Palme, Willy Brandt und sogar Helmut Schmidt wünschten.
Letzterer war mit seiner aktiven Rolle beim Beschluss zur Stationierung der Mittelstreckenraketen vor 40 Jahren ein Antipode der Friedensbewegung. Einige Diskussionsteilnehmer kritisierten, dass eine Friedensbewegung mit solchen Bezügen nicht in der Lage ist, die Politik zu kritisieren, die immer wieder zu Kriegen führt. Dabei fiel auf, dass Namen wie Rosa Luxemburg, Karl Marx und andere Theoretiker und Praktiker eines linken Antimilitarismus auf der Konferenz nicht genannt wurden.
Mit ihnen könnte aber erklärt werden, warum auch Russland heute ein aggressiver kapitalistischer Staat ist – und warum dessen Präsident Wladimir Putin mit seinen Reden die nötige nationalistische Ideologie mit klarem Antikommunismus verbindet. Dass der Vorsitzende der nominal kommunistischen Partei Russlands in diese Ideologie einstimmt, ohne Putins Kampfansage an die Bolschewiki, auf die sich die KP Russlands noch immer bezieht, zu erwähnen, ist nur ein Ausdruck für deren Anpassung an die russisch-nationalistische Ideologie.
Linke gegen jeden Krieg
Zumindest haben einige Diskutanten auf der Aktionskonferenz darauf hingewiesen, dass sie wohl keine Bündnispartner für einen linken Antimilitarismus sein können. Da wären eher die vielen unabhängigen Linken zu nennen, die auch in Russland gegen den Krieg auf die Straße gehen und kriminalisiert werden. Auf Kundgebungen der unabhängigen Linken wurde in Berlin positiv Bezug auf diese Gruppen genommen. Auch auf der Kundgebung der Partei Die Linke am Freitagabend auf dem Berliner Rosa-Luxemburg-Platz waren russische und ukrainische Linke mit Schildern gegen den Einmarsch Russlands erschienen.
Rund 400 jüngere Mitglieder und Sympathisanten der Linken hatten sich dort versammelt. Die Mehrheit der Anwesenden war unter 30. Die "Generation Modrow", die ihre unkritische Parteinahme für die Sowjetunion in der DDR nach 1989 auf Russland übertragen hat, fehlte. Vereinzelt waren auf der Kundgebung auch ukrainische Nationalfahnen und Schilder mit der Forderung nach Sanktionen gegen Russland zu lesen. Diese Forderung wurde aber von den auf der Aktionskonferenz am Samstag klar abgelehnt.
Empfohlener redaktioneller Inhalt
Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.