Kriegsdienstzwang: Sind deutsche Waffen für die Ukraine mit der Menschenwürde vereinbar?
Bei den Waffenlieferungen wird auf das Selbstbestimmungsrecht der Ukraine verwiesen. Doch Zwangsrekrutierungen höhlen Freiheitsrechte und Menschenwürde aus. Was daher geschehen muss.
Seit der russischen Invasion in die Ukraine im Februar 2022 hat die deutsche Bundesregierung bei ihrer militärischen Unterstützung der Ukraine mehrere selbstgesetzte rote Linien überschritten. Den anfänglich gelieferten Helmen sind Panzerfäuste und schwere Panzer gefolgt. Nun könnte mit der Lieferung von Langstreckenraketen bald eine weitere rote Linie fallen.
Für die Rechtfertigung der kontrovers diskutierten Waffenlieferungen Deutschlands an die Ukraine beruft sich die Bundesregierung bislang in erster Linie auf das völkerrechtliche Grundrecht auf Selbstbestimmung. Die militärische Unterstützung dient demzufolge dazu, der Ukraine dabei zu helfen, sich als souveräner Staat gegen die militärische Invasion Russlands zu verteidigen.
Befürworter der Lieferung schwerer Waffen, wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Deutschen Bundestag, werden seit Beginn des Krieges nicht müde, Kritiker immer wieder lautstark an diesen Umstand zu erinnern:
Es geht um Freiheit und Demokratie, um Selbstbestimmung, um Menschenrechte, die mit den Füßen getreten werden.
Die individuelle Selbstbestimmung der ukrainischen Bürger, die diesen Staat bilden, spielt dagegen bislang praktisch keine Rolle in der Argumentationslinie der Regierung. Dies ist bemerkenswert, ist doch diese Frage von hoher ethischer Brisanz.
Denn: Männliche ukrainische Staatsbürger im wehrpflichtigen Alter zwischen 18 und 60 Jahren haben faktisch keine freie Entscheidung darüber, ob sie in diesem Krieg kämpfen wollen oder nicht. Sie unterliegen einer Ausreisesperre.
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Widersetzen sie sich der Rekrutierung, droht ihnen gemäß dem geltenden Kriegsrecht eine Haftstrafe. Aktuell diskutiert laut Spiegel das ukrainische Parlament sogar darüber, ob die bestehende Ausreisesperre auch auf 16- und 17-jährige ausgeweitet werden soll.
Spätestens die Korruptionsaffäre um die Rekrutierungsbüros in der Ukraine hat offengelegt: Viele ukrainische Männer wollen offenbar nicht freiwillig in den Kriegsdienst eintreten. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte angekündigt, alle Leiter der Rekrutierungsbüros entlassen zu wollen. Hintergrund sind zahlreiche bekannt gewordene Fälle, in denen wehrpflichtige Männer Bestechungsgelder zahlten, um nicht eingezogen und an die Front geschickt zu werden.
Korruptionsaffären bei Rekrutierungen
Dafür gibt es schon seit Längerem klare Anzeichen. Tagesschau.de berichtete bereits im September 2022 darüber, dass immer mehr ukrainische Männer im wehrpflichtigen Alter aus Angst vor dem Kriegsdienst zum Teil unter Lebensgefahr ins Ausland flüchteten. In einer Reportage vom März dieses Jahres schildert das Wall Street Journal, wie sich ukrainische Männer durch Geldzahlungen oder das Meiden von öffentlichen Plätzen der Rekrutierung zu entziehen versuchen.
Der Konfliktforscher Charli Carpenter gibt in der renommierten Zeitschrift Foreign Policy einen plastischen Einblick, welche Verzweiflung und Ängste die Zwangsrekrutierungspraxis bei Wehrpflichtigen in der Ukraine auslöst. Ein junger Mann aus Lwiw schildert darin seine Situation mit folgenden Worten:
Meine Freunde und ich haben keine Erfahrung, wir wollen keine Waffen benutzen und sind physisch gar nicht in der Lage zu kämpfen. Ich lebe in Angst, dass sie mich ohne richtige Ausbildung in den Krieg schicken. Meine Freunde wurden fünf Tage trainiert und dann nach Donezk geschickt. Ich sorge mich um die Männer in diesem Land, viele sind in einer schlimmeren Lage als ich.
Aus humanitärer Perspektive ist ein solcher Kriegsdienstzwang nicht mit der Menschenwürde und den mit ihr verbundenen Menschenrechten vereinbar, wie in zahlreichen internationalen Erklärungen zum Ausdruck kommt. So leitet die UN-Menschenrechtskommission das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus dem in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte deklarierten Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit ab.
In einer Erklärung aus dem Jahr 1989 erkennt die Kommission auf dieser Grundlage das Recht eines jeden Menschen an, den Wehrdienst aus Gewissensgründen zu verweigern. Das deutsche Grundgesetz formuliert in Absatz 4 in Einklang damit:
Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.
Ferner verletzt der Kriegsdienstzwang weitere Menschenrechte, wie das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Denn er setzt den rekrutierten Soldaten der Gefahr aus, von gegnerischen Kombattanten getötet oder schwer verletzt zu werden. Mitunter kommt die Rekrutierung zum Kriegsdienst einem Todesurteil gleich.
Die militärische Unterstützung eines völkerrechtswidrig angegriffenen Staates wie der Ukraine ist grundsätzlich legitim. Vor dem Hintergrund der Zwangsrekrutierungspraxis verlieren die deutschen Waffenlieferungen jedoch ihr moralisches Fundament. Denn die logische Konsequenz daraus ist, dass diese zu einem unterstützenden Element des Kriegsdienstzwangs in der Ukraine werden.
Konkret: Ukrainische Soldaten werden dazu gezwungen, auch gegen ihren Willen und ihr Gewissen, mit den bereitgestellten deutschen Waffen in einem Krieg zu kämpfen. Und das heißt, mit ihnen töten und – wie nicht zuletzt die Bilder der ukrainischen Gegenoffensive eindringlich zeigen – häufig auch sterben zu müssen.
Daraus kann nur folgen: Wenn die Bundesregierung tatsächlich hochgehaltene Werte wie Selbstbestimmung und Menschenrechte ernst nimmt, dann muss sie die Waffenlieferungen an die Ukraine einstellen.