Kriegsgefahr in Nordsyrien: Beschert Erdogan auch Deutschland ein IS-Problem?
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Selbstverwaltung warnt: Im Fall einer neuen türkischen Invasion wären Gefängnisse, in denen Dschihadisten inhaftiert sind, kaum noch zu sichern. Einige kämen womöglich nach Europa
Die Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien erklärt den Ausnahmezustand: Der von Präsident Recep Tayyip Erdogan angekündigte Einmarsch der Türkei wird in den nächsten Tagen bei Manbidsch und Tel Rifaat im Nordwesten Syriens erwartet. In der bedrohten Region haben hunderttausende Vertriebene aus dem bereits türkisch besetzten Kanton Afrin Zuflucht gefunden.
Autonomieverwaltung ruft Ausnahmezustand aus
Die Generalversammlung der Autonomieverwaltung rief angesichts der akuten türkischen Besatzungsdrohung der Ausnahmezustand aus. Alle Kommunen, Räte und Institutionen der Selbstverwaltung sind aufgefordert, Notfallpläne zu beschließen. Seit Monaten wird fast täglich die Zivilbevölkerung und die zivile Infrastruktur entlang der türkisch-syrischen Grenze von vom türkischen Militär mit schweren Waffen und Drohnen angegriffen.
Die unabhängige Medienorganisation Rojava Information Center (RIC) mit Sitz in Qamischlo berichtet von mindestens 47 Drohnenangriffen allein in der ersten Hälfte dieses Jahres. Im Jahr 2021 waren es 89 gewesen. Bei diesen Angriffen wurden mindestens 55 Menschen verletzt und 16 getötet. Die tatsächliche Zahl dürfte höher sein, da das RIC nur verifizierte Fälle veröffentlicht.
Der ARD-Weltspiegel berichtet von einem 80.000 Mann starken islamistischen Söldnerheer, das in der Türkei ausgebildet wurde und auf den türkischen Einsatzbefehl wartet. Bereits in der Nacht zum 7. Juli fuhren türkische Militärkonvois in der Nähe des Grenzübergangs Al-Rai, nördlich von Aleppo, über die Grenze nach Syrien, berichtet die Zeitung Neues Deutschland.
Lokalen Medien zufolge transportierten die Fahrzeuge schwere Waffen, Panzer und gepanzerte Fahrzeuge. Wie in Afrin 2018, werden sicherlich auch jetzt deutsche Leopard-Panzer zum Einsatz kommen. Ganze Krankenhäuser werden in der Türkei geräumt, um sie für verwundete Soldaten freizuhalten.
Auch die von der Türkei finanzierten islamistischen Söldner der "Syrischen Nationalen Armee" (SNA) sammeln sich in der Region um Aleppo. Sie werden aus den besetzten nordöstlichen Regionen Serekaniye (Ras al-Ain) und Gire Spi (Tel Abyad) über die Türkei an die nordwestliche Grenze bei Manbidsch gebracht.
Das Szenario erinnert an die Zeit kurz vor dem Ukraine-Krieg. Deutsche Medien berichten aus der Ukraine noch immer täglich über die Zerstörung und russische Kriegsverbrechen. Der russische Präsident Wladimir Putin wird zu Recht als Aggressor und der Einmarsch in die Ukraine als völkerrechtswidrig bezeichnet. Russland wurde dafür mit umfangreichen Sanktionen bestraft, auch wenn deren Wirkung teilweise als kontraproduktiv kritisiert wird.
Im Falle Nordsyriens ist die Berichterstattung jedoch spärlich. Stellungnahmen seitens der Bundesregierung gibt es nicht. Der türkische Präsident, dessen Vernichtungspläne denen Russlands in nichts nachstehen, hat für völkerrechtswidrige Militäraktionen keinerlei Sanktionen zu befürchten. Dabei ist seine aggressive Nahost-Außenpolitik brandgefährlich:
Erstens: Die geplante Besatzung weiterer Gebiete in Nordsyrien hat eine demografische Veränderung zum Ziel. Der Gemeinderat der Stadt Tel Rifaat, 35 Kilometer nördlich von Aleppo, wandte sich mit einer Erklärung an die internationale Staatengemeinschaft: "Die türkische Militäreskalation gegen Gebiete im Norden und Nordosten Syriens verstößt gegen alle internationalen Abkommen und kündigt die Absicht der Türkei an, ihre Besatzungsprojekte auszuweiten." Seit 2018 sei die Region – auch Sheba-Region genannt - ein Zufluchtsort für die etwa 300.000 aus Afrin vertriebenen Menschen.
"Das Ziel der Türkei bei ihrer möglichen Invasion ist es, das Gebiet von seinen ursprünglichen Bewohnern zu räumen und stattdessen diejenigen anzusiedeln, die ihren Interessen dienen, und zwar durch einen Prozess des demografischen Wandels, wie er in Afrin, Serekaniye (Ras al-Ain) und Tel Abyad praktiziert wurde", heißt es in der Erklärung weiter. Damit würde die Türkei eine neue Fluchtwelle verursachen. Hunderttausende würden den lebensgefährlichen Weg nach Europa suchen.
Zweitens: Die Selbstverwaltung wird alle ihre Kräfte auf die Abwehr der türkischen Invasion konzentrieren müssen, um ihre Bevölkerung zu schützen. Dann wird es keine Kapazitäten zur Sicherung der meist schlecht gesicherten Gefängnisse mehr geben.
"Die türkischen Angriffe untergraben die Bemühungen der internationalen Anti-IS-Koalition und geben dem IS die Möglichkeit, wieder zu erstarken", sagt der stellvertretende Ko-Vorsitzende der Selbstverwaltung von Nordostsyrien, Bedran Çiya Kurd. Wenn die Militäreinheiten der Selbstverwaltung türkische Angriffe abwehren müssten, würde ein Sicherheitsvakuum entstehen, dass der IS nutzen würde. Tausende, auch internationale IS-Kämpfer sind in der Region inhaftiert."
Die logische Konsequenz wird sein, dass die ebenfalls von der Türkei unterstützten Schläferzellen des IS und andere islamistische Gruppen versuchen werden, ihre Anhänger aus den Gefängnissen in Nordsyrien zu befreien. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn das IS-Gefängnis in Hasaka mit tausenden IS-Terroristen, das Al-Hol-Camp mit 55.829 IS-Anhängern, darunter 28.725 Iraker, 18.850 Syrer und 8254 ausländische Staatsangehörige sowie weitere IS-Gefängnisse in Nordsyrien gestürmt würden und deren Insassen auf freien Fuß kämen.
"Wenn diese IS- Kämpfer durch eine türkische Invasion freikommen, werden sie nicht an der syrischen Grenze haltmachen, sondern versuchen, nach Europa zu kommen", vermutet Bedran Çiya Kurd. Dann hat die Welt, dann haben wir auch in Deutschland ein Problem.
Was tat ein hochrangiger IS-Kommandant in der Besatzungszone?
Der am Dienstag von US-Spezialeinheiten in Cindirês getötete hochrangige IS-Kommandant Maher al-Agal war für den Aufbau von IS-Netzwerken außerhalb des Irak und Syriens verantwortlich. Cindirês ist eine Kleinstadt in Afrin, also jenem kurdischen Gebiet, das seit 2018 von der Türkei besetzt und arabisiert wird.
Immer wieder werden hochrangige IS-Kader in den türkisch besetzten Gebieten aufgespürt und ausgeschaltet. Im Oktober 2019 sprengte sich der frühere "Kalif" Abu Bakr al-Baghdadi bei einem US-Einsatz in Idlib in die Luft, sein Nachfolger Abu Ibrahim al-Haschimi al-Kuraschi starb bei einem US-Einsatz im Februar dieses Jahres, auch er soll sich in die Luft gesprengt haben.
Dass sich in den Gebieten der türkischen Einflusszone hochrangige IS-Kader verstecken können, zeigt einmal mehr, wen die Türkei hier de facto unterstützt und wie groß die Gefahr ist, dass aus den türkisch besetzten Gebieten über die Türkei hochrangige IS-Terroristen nach Europa einsickern. Je größer das Gebiet türkisch kontrollierte Gebiet in Nordsyrien entlang der syrisch-türkischen Grenze ist, desto mehr Raum und Ressourcen bekommt der IS für den Neuaufbau.
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