Winterkrieg 1939/40: Was die Ukraine aus Finnlands Kampf gegen Russland lernen kann
Eine künstlerische Darstellung, die die tiefgreifenden historischen und gegenwärtigen geopolitischen Beziehungen zwischen Finnland, Russland und der Ukraine veranschaulicht.
(Bild: KI-generiert)
Von Finnland lernen: Wie die Geschichte dieses kleinen Landes die Ukraine in ihrem Kampf gegen Russland beeinflussen könnte. Ein geopolitischer Vergleich!
Die Ukraine steht im Krieg mit Russland auf verlorenem Posten. Die Sommeroffensive ist gescheitert, militärische und finanzielle Hilfen sind blockiert, und dem ukrainischen Staat droht der Bankrott. In westlichen Medien wird zudem immer ungenierter darüber debattiert, ob die Regierung in Kiew nicht auf einen Teil des Staatsgebietes verzichten sollte.
Finnlands Lektionen für die Ukraine
Die aktuelle Situation macht deutlich, dass sie den Krieg nicht aus eigener Kraft führen kann. Im Staatshaushalt klafft ein riesiges Loch. Wenn es nicht durch westliche Hilfen gestopft wird, droht das gesellschaftliche Leben in dem Land im Chaos zu versinken.
Rund 500.000 Beamte und 1,4 Millionen Lehrer könnten schon bald ohne Gehälter bleiben, schreibt die Financial Times und beruft sich dabei auf die ukrainische Wirtschaftsministerin Julija Swyrydenko. Auch knapp 10 Millionen Rentner könnten demnach ohne westliche Hilfe bald mittellos dastehen.
Westliche Zweifel am Engagement im Ukraine-Krieg
Im Westen überlegt man allerdings auch, ob und in welchem Umfang man sich noch in diesem Krieg engagieren soll. In der New York Times wird darauf hingewiesen, dass die mit Spannung erwartete ukrainische Gegenoffensive die Frontlinie kaum verändert hat.
In den sechs Monaten wurden große Opfer in Form von Menschenleben und Material gebracht – ohne eines der gesteckten Ziele auch nur im Ansatz zu erreichen. Die Aussichten sind keineswegs besser: Die fast 1.000 Kilometer lange Front wirkt statisch und der Krieg würde, wenn er weitergeführt wird, ukrainische Ressourcen und Menschenleben verschlingen. Aber würde sich auf dem Schlachtfeld etwas ändern?
Kriegsende am Verhandlungstisch: Ein Blick auf Finnland
Schon vor Monaten hatte Samuel Charap, leitender Politikwissenschaftler bei der RAND Corporation, betont, dass der Krieg nicht auf dem Schlachtfeld, sondern am Verhandlungstisch beendet werden sollte. Und wenn es nötig ist, sollte man auch auf einen Teil des Territoriums verzichten.
Wenn es unrealistisch ist, das gesamte Territorium zurückzuerobern, warum sollte man es dann noch weiterhin anstreben? In der New York Times heißt es dazu:
Die Rückeroberung von Territorium ist jedoch der falsche Weg, um sich das beste Ergebnis vorzustellen. Der wahre Sieg für die Ukraine besteht darin, aus der Hölle des Krieges als starker, unabhängiger, wohlhabender und sicherer Staat hervorzugehen, der fest im Westen verankert ist.
Historische Parallelen: Finnland und die Ukraine
Das ist ein Ansatz, den in den USA auch das Quincy Institute for Responsable Statecraft vertritt. Dabei ziehen die Autoren die historische Parallele zum finnisch-sowjetischen Winterkrieg. Und in einem aktuellen Beitrag betonen sie, dass man damit beitragen wolle, nicht zu unrealistischen Kriegszielen zu ermutigen.
Finnlands moralischer Sieg gegen Russland
Die Finnen wären zwar damals besiegt worden, hätten etwa 11 Prozent ihres Territoriums abtreten müssen – aber sie hätten dennoch einen moralischen Sieg errungen. Stalins Truppen hätten damals – dank des heroischen Einsatzes der finnischen Soldaten – nicht das komplette Land besetzen können. Außerdem habe sich Finnland dann zu einem wohlhabenden Land entwickeln können.
Historische Vergleiche wirken manchmal ansprechend, sind aber dennoch schiefe Analogien. Es gibt in der Tat Parallelen zum Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Vorgeschichte und Ergebnis sind dennoch verschieden. Und für die Regierung in Kiew könnte dieser Vergleich auch als Warnung gelesen werden: Setzt euch an den Verhandlungstisch, sonst könntet ihr nicht nur Land verlieren, sondern auch gezwungen sein, gegen westliche Verbündete vorzugehen.
Der Winterkrieg: Finnlands Kampf gegen die Sowjetunion
Der Winterkrieg zwischen Finnland und der Sowjetunion begann 1939, nachdem sich die Regierung in Helsinki geweigert hatte, einem Gebietsaustausch mit der Sowjetunion zuzustimmen. Führende finnischen Diplomaten und Militärs wie Carl Gustaf Emil Mannerheim plädierten für die Annahme der Vorschläge aus Moskau, weil sie diese für überschaubar hielten. Doch auf Druck ultrarechter Kräfte brach die finnische Regierung die Verhandlungen ab.
Um zu verstehen, warum der Gebietsaustausch der Sowjetunion einen Krieg wert war, muss man bis zum Ende des Ersten Weltkriegs zurückblicken.
Finnland und Russland: Eine komplexe Beziehung
Bis 1917 war Finnland ein autonomer Teil des russischen Zarenreiches. Nach der Oktoberrevolution riefen die Finnen ihre Unabhängigkeit aus, die von den Bolschewiki auch anerkannt wurde.
Wie in vielen Teilen des ehemaligen Zarenreiches brach auch in Finnland ein Bürgerkrieg aus, der vom Deutschen Reich im Krieg gegen Russland ausgenutzt wurde. Die kaiserliche Armee baute Hilfstruppen aus finnischen Freiwilligen auf. Ab Februar 1918 intervenierte Deutschland im finnischen Bürgerkrieg auf der Seite der "weißen Truppen", die dann die russische Hauptstadt Petrograd, heute Sankt Petersburg, bedrohten.
Finnlands Weg zur Unabhängigkeit und die Folgen
Mit dem Frieden von Brest-Litowsk von 1918 endete zwar der Krieg mit Deutschland, der Krieg mit den Finnen ging aber weiter. An der Seite westlicher Interventionstruppen kämpften finnische Soldaten bis 1920 gegen Sowjet-Russland. Mit dem Vertrag von Dorpat/Tartu endete dieser Krieg.
Das schwache Russland musste damals territoriale Zugeständnisse an Finnland machen. Ost-Karelien und das Gebiet um Petsamo an der Eismeerküste gingen an Finnland.
Finnlands Rolle im Zweiten Weltkrieg
1939 war der Zweite Weltkrieg bereits ausgebrochen und die Sicherheit sowjetischer Gebiete stand ganz oben auf der Agenda. Die zweitgrößte Stadt des Landes, Leningrad, wie sie damals hieß, lag nur knapp 30 Kilometer von der finnischen Grenze entfernt und damit in der Reichweite der Artillerie.
In Moskau musste man davon ausgehen, dass von Finnland aus eine Bedrohung für das Land entstehen könnte. In Finnland gab es für das faschistische Deutschland große Sympathien, auch Frankreich und Großbritannien waren zu dem Zeitpunkt keine verlässlichen Partner. Sie hatten es zuvor den Deutschen erlaubt, sich Teile der Tschechoslowakei einzuverleiben. Dann blieben sie tatenlos, als die Wehrmacht in Polen einrückte.
Finnland und die Sowjetunion: Der Weg zum Frieden
Nachdem die Finnen die Verhandlungen abgebrochen hatten, ließ Stalin dann einen Invasionsplan ausarbeiten. Die weitere Geschichte ist bekannt: Der anfängliche Plan scheiterte grandios. Mit einem zweiten Anlauf gelang der Durchbruch durch die befestigte Mannerheim-Linie.
Frankreich und Großbritannien drohten damit, Expeditionskorps in den Kampf gegen die Sowjetunion zu schicken, woraufhin Moskau von seinen Maximalzielen absah. Aber der finnische Oberbefehlshaber Mannerheim musste erkennen, dass keine Hilfen aus Paris und London zu erwarten war. Er drängte schließlich die Regierung in Helsinki, den Krieg umgehend zu beenden.
Friedensverhandlungen in Moskau: Ein Wendepunkt für Finnland
Der Historiker Michael Jonas, der an der Helmut-Schmidt-Universität, Hamburg, und am German Institute for Defence and Strategic Studies (GIDS) lehrt und forscht, schrieb dazu:
Während Stalin sich bereits der Marionettenregierung Kuusinen entledigt hatte, um die Wiederaufnahme von bilateralen Verhandlungen überhaupt erst zu ermöglichen, entsandte Helsinki seinen russlandpolitischen Routinier Paasikivi zu geheimen Sondierungen nach Moskau. Deren Ergebnis, fixiert im Moskauer Frieden vom 12. März 1940, lag in finnischer Sicht zwar weit jenseits der ursprünglichen Moskauer Forderungen, spiegelte aber den Geist und Gehalt der ursprünglichen Verhandlungen.
Finnlands strategische Entscheidungen nach dem Winterkrieg
Wie richtig der Kreml die Lage einschätzte, zeigte sich in den Jahren danach. Die finnische Gesellschaft hatte schon im Ersten Weltkrieg einen Hang zum Deutschen und sie akzeptierte sogar erniedrigende Knebelverträge aus Berlin. Nach dem Winterkrieg schloss Finnland wieder ein Bündnis mit Deutschland, erlaubte die Stationierung von Truppen und erlaubte den Deutschen die Nutzung von Häfen.
Der Fortsetzungskrieg: Finnlands Rolle im Weltkrieg
Im sogenannten Fortsetzungskrieg machten die Finnen gemeinsame Sache mit den Deutschen und marschierten in der Sowjetunion ein. Während die Feldzüge in Richtung Murmansk verloren gingen, beteiligten sie sich erfolgreich an der Blockade von Leningrad. Mehr als eine Million Menschen verhungerten damals in der Stadt, auch weil die Finnen die sowjetischen Versorgungslinien über den Ladogasee angriffen.
Ein "Großfinnland", von dem finnische Nationalisten träumten, konnte nicht verwirklicht werden. Stattdessen ging der Krieg für sie verloren. Im Juni 1944 begann die sowjetische Offensive in Ostkarelien und wieder drohte die komplette Besetzung Finnlands. Weil Finnland aber auch nicht oberste Priorität für den Kreml hatte und die militärischen Kapazitäten im Kampf gegen Deutschland benötigt wurden, ließ man von der vollständigen Besetzung ab.
Der Waffenstillstand und seine Folgen für Finnland
Auf dieser Grundlage schlossen beide Seiten schließlich einen Waffenstillstand. Für Finnland bedeutete dies aber kein Ende des Krieges. Das Abkommen mit der Sowjetunion sah vor, dass die deutschen Truppen Finnland verlassen mussten. Das führte schließlich zum Lapplandkrieg mit Deutschland, der Anfang 1945 endete.
Den endgültigen Frieden mit der Sowjetunion und Großbritannien erreichten die Finnen erst 1947. Er wurde zu noch härteren Bedingungen geschlossen als nach dem Winterkrieg. Nun musste Finnland auch das Gebiet um Petsamo wieder an die Sowjetunion abtreten. Damit verlor das Land seinen einzigen eisfreien Hafen am Nordmeer.
Finnlands Weg in die Neutralität und Prosperität
Aber war damit für Finnland der Weg in Richtung Westen und zu einer prosperierenden Wirtschaft aufgetan, wie die Ideologen des Quincy Instituts behaupten? Keineswegs, denn Finnland schloss mit der Sowjetunion einen Freundschaftsvertrag, der das Land zu einer Neutralität verpflichtete.
Tobias Etzold, Politologe am Norwegischen Institut für Außenpolitik in Oslo, sieht darin einen Verlust der Souveränität. Gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) sagte er:
In Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik sei Finnland nicht frei gewesen. Eine damalige Nato- oder EU-Mitgliedschaft wäre von Moskau nie akzeptiert worden.
Die Lehren für die Ukraine aus Finnlands Geschichte
Die Geschichte Finnlands kann zwar ein Beispiel für die Zukunft der Ukraine abgeben, aber diese wäre wesentlich anders als von den Ideologen des Quincy Instituts dargestellt. Von einem moralischen Sieg könnte nicht gesprochen werden. Auch eine Westbindung der Ukraine wäre vom Tisch.
Die ukrainische Regierung könnte sich aber ein Beispiel an dem finnischen Marshall Mannerheim nehmen und Friedensverhandlungen aufnehmen. Dann müsste die Regierung in Moskau wahrscheinlich auch von ihren Maximalforderungen lassen, die der frühere russische Präsident Dmitri Medwedew in seinem Telegram-Kanal formulierte. Dort schrieb er, Odessa, Dnipropetrowsk, Charkiw, Mykolajiw und Kiew seien russische Städte.