Kriegsverbrechen! So ist er, der Feind

Björn Hendrig

Töten im Krieg muss militärisch begründet sein, sonst gilt es als Kriegsverbrechen. Die Umsetzung ist kompliziert: So soll Putin auf die Anklagebank, Selenskyj hingegen nicht. (Teil 2 und Schluss)

123 Staaten haben sich im Jahr 2002 auf einen Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag verständigt. Im Unterschied zu den anlassbezogenen Tribunalen zu Liberia und Jugoslawien (siehe Teil 1) handelt es sich um eine dauerhafte Einrichtung, die nicht zur UN gehört. Zur Anzeige vor diesem Gericht können Personen gebracht werden, die in den Staaten, die den Gerichtshof tragen, mutmaßliche Kriegsverbrechen begangen haben.

Bürger aus China, Russland oder den USA betrifft dies streng genommen nicht, da diese Staaten den IStGH nicht akzeptieren. Dennoch kann der Chefankläger des Gerichtshofes unter bestimmten Voraussetzungen auch ihnen gegenüber aktiv werden. Dies rief sogleich nach der Gründung die USA auf den Plan. Man verabschiedete flugs ein "American Service-Members’ Protection Act" (ASPA).

Verhaftete US-Soldaten? Dann marschieren die USA in Den Haag ein

Das Gesetz dient der Schwächung der Position des Internationalen Strafgerichtshofes […], indem es US-Bürger vor der Auslieferung […] schützt. Des Weiteren wird der Präsident der Vereinigten Staaten ermächtigt, alle notwendigen Mittel, einschließlich militärischer Invasionen, einzusetzen, um vor dem Gerichtshof angeklagte US-Bürger aus dessen Zugriff zu befreien. Wegen des weitläufigen Wortlauts, welches Militäraktionen nicht explizit ausschließt, wird das ASPA auch als The Hague Invasion Act […] bezeichnet.

ASPA schränkt daneben den Einsatz von US-Kräften für Friedensmissionen der Vereinten nationen ein, sofern diese keine Immunität vor Strafverfolgung garantieren.

Ein solcher Gerichtshof kann auch einmal die Falschen anvisieren. Das muss unbedingt verhindert werden. Welt- und Atommächte wie die USA, auch Russland und China, wollen sich keine Fesseln anlegen lassen in ihrem militärischen Engagement. Das gilt nicht nur für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord. Sondern seit 2018 auch für Verbrechen der Aggression im völkerrechtlichen Sinn: einen rechtswidrigen militärischen Angriff auf ein fremdes Staatsgebiet

Aber bevor eine verantwortliche Person des aggressiven Staates angeklagt werden kann, muss geklärt werden, ob es sich bei der Aggression vielleicht um eine Art Selbstverteidigung handelt, um einem mutmaßlichen Angriff der Gegenseite zuvorzukommen; oder es eine humanitäre Intervention darstellt, also der Angriff auf einen Staat, angeblich, um dessen Volk vor ihm zu beschützen – wie es die westlichen Streitkräfte in Afghanistan beispielhaft taten und es deshalb natürlich nicht als Angriffskrieg vor Gericht kam.

Außerdem müssen mit der Ermittlung durch den Internationalen Strafgerichtshof sowohl der mutmaßlich angreifende als auch der angegriffene Staat einverstanden sein. Als weitere Einschränkung muss der UN-Sicherheitsrat zustimmen oder darf kein Veto einlegen. Eben jene Weltmächte, von denen drei den Internationalen Strafgerichtshof ohnehin nicht anerkennen:

Wenn dieser (der UN-Sicherheitsrat – B.H.) in einem potenziellen Fall keine Aggression feststellt und die IStGH-Anklägerin dennoch mit Genehmigung der Vorverfahrenskammer ermittelt, dann kann der UN-Sicherheitsrat diese Ermittlungen für ein Jahr stoppen. Da dieser Beschluss wiederholbar ist, kann er Ermittlungen faktisch auch dauerhaft verhindern. Der Umfang und die Relevanz der Einschränkungen ist so groß, dass man sich kaum vorstellen kann, wie je ein Aggressionsverbrechen vor den IStGH kommen soll.

Haftbefehl gegen Putin: Beifall von den USA und ihren Verbündeten

Der Fachmann hat damit bis heute recht behalten. Und doch ermittelt derzeit ein "Zentrum zur Verfolgung des Verbrechens der Aggression gegen die Ukraine", abgekürzt ICPA:

[Es] ist in der europäischen Justizbehörde Eurojust in Den Haag untergebracht und wird im wesentlichen von seinen sechs Mitgliedsstaaten getragen: Litauen, Lettland, Estland, Polen, Rumänien und der Ukraine. In den kommenden Monaten könnten weitere Staaten hinzukommen, die ebenfalls im Krieg Russlands gegen die Ukraine ermitteln. Der Internationale Strafgerichtshof IStGH unterstützt das ICPA, ebenso wie die USA. Finanziert wird das Zentrum von der EU-Kommission.

Süddeutsche Zeitung

Damit umschiffen die Unterstützer der Ukraine die mangelnde Handhabe des Internationalen Strafgerichtshofes bei der Verfolgung eines Verbrechens der Aggression. Parallel ist der IStGH aber nicht untätig geblieben. Wegen Kriegsverbrechen hat er einen Haftbefehl erlassen gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und Maria Lwowa-Belowa, die russische Beauftragte für Kinderrechte. Ihnen wird die Verschleppung von ukrainischen Kindern nach Russland vorgeworfen.

Die meisten von ihnen stammen wohl aus dem Donbass, also den ostukrainischen Oblasten Luhansk und Donezk, in denen die ukrainische Armee schon seit 2014 gegen prorussische Separatisten kämpft. Im vergangenen Mai verfügte Putin per Dekret, dass ukrainische Kinder, die aus der Region kommen, schneller eingebürgert werden und die russische Staatsbürgerschaft bekommen sollen.

Süddeutsche Zeitung

Die dafür zuständige Lwowa-Belowa streitet den Sachverhalt auch gar nicht ab, im Gegenteil. Aus ihrer Sicht bringt sie Kinder aus den Kriegsgebieten in Sicherheit, Waisen, die ihre Eltern verloren hätten.

Aus Sicht des Kriegsgegners sowie der USA, EU & Co handelt es sich hingegen um ein Kriegsverbrechen. Putin und seine Kinderbeauftragte gehören vor Gericht! Damit ist einmal mehr vor der Weltöffentlichkeit klar, wie unmenschlich und verdammungswürdig Moskau handelt.

Schließlich hat ein unabhängiges Gericht den Haftbefehl ausgestellt. Ein "Russian Service-Members’ Protection Act", analog zum Erlass der USA, ist zwar bisher nicht bekannt geworden. Dennoch geht niemand davon aus, dass Russland seinen Präsidenten verhaftet und ausliefert.

Der Haftbefehl bringt allerdings einige Staaten in die Bredouille, die es sich weder mit der einen noch der anderen Kriegspartei verscherzen wollen – beispielsweise Südafrika, Gastgeber des Gipfeltreffens der Brics-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) Ende August. Wäre Wladimir Putin nach Kapstadt gekommen, hätte man ihn verhaften müssen, da Südafrika den IStGH anerkennt. Das wollte man partout vermeiden.

Nun hat der russische Präsident abgesagt, und die deutsche Außenministerin Baerbock frohlockt:

Das macht deutlich, dass das Völkerstrafrecht bei all seinen Lücken eben kein schwaches Schwert ist, sondern dass das Völkerstrafrecht wirkt [… und] dass diejenigen, die massiven Bruch des Völkerrechts begehen, damit nicht einfach wie bisher in der Welt herumreisen können.

dpa, zit.nach: Putin reist nicht nach Südafrika, Süddeutsche Zeitung, 20. Juli 2023

Henry Kissinger, Joschka Fischer, George W. Bush oder Barack Obama kann sie damit nicht meinen: Sie erfreuen sich unbeschränkter Reisefreiheit und verkaufen ihre Brüche des Völkerrechts als Beiträge zum Weltfrieden.

Völkerrecht: Staaten einigen sich auf Regeln ihrer gewaltträchtigen Konkurrenz

Das Humanitäre Völkerrecht beschreibt die idealen Umgangsformen, wie sich Staaten bei ihrem ständigen Kampf um Einfluss und Reichtum auf der Welt verhalten sollten. Bei aller diplomatischen Erpressung und kriegerischen Auseinandersetzung sollten gewisse Regeln eingehalten werden.

Schließlich nutzen eine verbrannte Erde und nur tote Untertanen dem Sieger nichts. Da sollte für ihn noch so viel übrig bleiben, dass er es auch für seine Zwecke nach dem Krieg gebrauchen kann.

Wikipedia beschreibt dies so:

Ein zentraler Grundsatz in vielen Bereichen des humanitären Völkerrechts ist das Prinzip der militärischen Notwendigkeit. Dies bedeutet, dass jede militärische Maßnahme im Rahmen eines internationalen bewaffneten Konflikts in der Art ihrer Ausführung, ihrem zeitlichen und räumlichen Umfang sowie ihren zu erwartenden Auswirkungen aufgrund der konkreten militärischen Strategie und Taktik geboten sein muss. Unter diesen Aspekten nicht notwendige militärische Handlungen haben somit zu unterbleiben.

Andere wichtige Regelungen betreffen die Vermeidung unnötigen Leids und ein dementsprechendes Verbot des Einsatzes von Waffen, Geschossen und Material sowie Methoden der Kriegführung, die geeignet sind, überflüssige Verletzungen oder unnötige Leiden zu verursachen.

Sehr realistisch konzediert das Humanitäre Völkerrecht, dass Kriege zwischen Staaten eine häufige Form der Auseinandersetzung sind. Es verbietet sie entsprechend nicht, sondern beurteilt den Abwurf von Bomben, den Beschuss von gegnerischen Stellungen und ziviler Infrastruktur, die Behandlung Gefangener, die Gefährdung von Kulturgut und viele weitere kriegerische Ereignisse nach dem gebotenen Maß einer normalen Kriegsführung.

Was normal ist, was nicht, schätzen nicht überraschend die jeweiligen Kriegsparteien sehr unterschiedlich ein. Die wechselseitigen Vorwürfe zu Kriegsverbrechen gehören daher regelmäßig zur Propaganda der verfeindeten Seiten.

Das von Baerbock hoch gehaltene Völkerstrafrecht dient hierbei als dankbar interpretationsfähige Berufungsinstanz. Und wirkt nur, insofern Mächte wie die USA samt Verbündete mit ihrer Gewalt versuchen, es gegen ihre Gegner in Anschlag zu bringen. Sie treffen dabei indes im aktuellen Ukraine-Krieg auf die russische Gegengewalt, die auf ihrem Standpunkt beharrt: Wir haben nicht gegen das Völkerrecht verstoßen, ihr aber schon!

Auf das Humanitäre Völkerrecht, diesen abgebrühten Kodex, haben sich nun einmal Staaten verständigt – keine übergeordnete Instanz hat sie ihnen aufgenötigt und wacht über die Befolgung. Dementsprechend fehlt eine Gewalt, die den Kodex durchsetzt – wie es jeder Staat mit seinem Recht innerhalb seines Herrschaftsgebiets unternimmt.

Außerhalb seiner Grenzen funktioniert das bekanntlich nicht, da trifft er auf die Gewalt der anderen Nationen. Also fußt das Völkerrecht auf dem bloßen Willen der Staaten, dieses in ihrem Handeln zu respektieren – oder eben nicht, wenn es ihnen bei ihren Vorhaben in die Quere kommt.

Womit wir bei den erwähnten Herrschaften ankommen, die in Vietnam, in Jugoslawien, im Irak und in Afghanistan es mit dem Völkerrecht nicht so genau nahmen. Führende Politiker von Nationen, die bei anderen Gelegenheiten umso mehr im Namen des Völkerrechts Staaten anklagten und gegen sie die Völkergemeinschaft mobilisierten.

Die Berufung auf das Völkerrecht ist einfach zu schön, die Verfolgung von Interessen als Dienst an einem übergeordneten, höheren Kanon von Regeln erscheinen zu lassen. An dem sich natürlich die Gegenseite aufs Gröbste vergeht – wie aktuell Russland.

Annalena Baerbock beherrscht diese Tour, noch verbissener als schon ihre Vorgänger im Auswärtigen Amt. Deutschland befeuert nicht einfach den Krieg in der Ukraine, um im Schlepptau der USA Russland zu "ruinieren" (O-Ton Baerbock). Nein, man verteidigt schlicht das Völkerrecht!

Jetzt will die Außenministerin sogar den Internationalen Strafgerichtshof reformieren. Er soll in Zukunft grundsätzlich auch das "Verbrechen der Aggression" verfolgen können, auch wenn der Aggressor das Gericht gar nicht anerkennt.

Dies hat sie in einer Rede ausgerechnet vor dem UN-Sicherheitsrat vorgeschlagen. Das ist das Gremium, in dem mit den USA, Russland und China drei Staaten sitzen, die den IStGH seit jeher nicht akzeptieren. ZDF-Korrespondent Andreas Kynast bemerkte dazu ganz realistisch:

Das wird ein sehr langer, sehr mühsamer Weg. Baerbock wird sich auch mit befreundeten Staaten anlegen müssen, wie der Ukraine und vor allem den USA, die den Strafgerichtshof gar nicht anerkannt haben.

Besser dürfte es um das Sondertribunal gegen Putin und weitere russische Politiker bestellt sein: Das wird wohl außerhalb der UN laufen, also ohne die nötige Zustimmung des Sicherheitsrats.

So nutzt der Vorwurf des Kriegsverbrechens einer permanenten Kriegspropaganda. Die Ermittlungen werden eine Weile dauern. Sie werden auf Schwierigkeiten stoßen, weil – auch das wieder ein tauglicher Vorwurf – die Angeklagten unverschämterweise nichts zur Aufklärung beitragen.

Und es ist natürlich nicht ausgeschlossen, dass während des Verfahrens weitere Untaten aufgedeckt werden. Man wird schon etwas finden, und wenn man es erfinden muss, siehe die angeblichen Massenvernichtungswaffen im Irak.

Der russische Präsident ist also erfolgreich an den Pranger gestellt – zumindest des Westens. Dieser achtet daher sehr darauf, wie andere Staaten sich dazu verhalten. Da wird dann ordentlich Druck ausgeübt – auf Südafrika oder auch auf die Länder Südamerikas und der Karibik, wie kürzlich beim Gipfeltreffen mit der Europäischen Union.

Sehr zum Ärgernis der Europäer stimmte der andere Kontinent jedoch nicht in die Verurteilung Russlands mit ein. Einige südamerikanischen Länder zeigten sich auch verwundert, dass dies bei einem Treffen, wo es um wirtschaftliche Fragen gehen sollte, zum Thema gemacht wurde.

Damit konterkarierte Europa zwar sein Ziel, das Verhältnis zu Lateinamerika zu verbessern. Aber für das höhere Ziel, den Feind weltweit ins Abseits zu stellen, war es das offenbar wert.

Ukrainische Kriegsverbrechen? Was nicht sein darf, kann nicht sein

Und wie verhält es sich mit Wolodymyr Selenskyj? Wie bitte, sein Land ist doch angegriffen worden, die Ukraine wehrt sich nur! Dass dabei nicht alles mit rechten Dingen zugeht, darf man allerdings getrost annehmen. Wie in jedem Krieg, den die verfeindeten Staaten mit allen Mitteln versuchen, zu gewinnen.

Schon kurz nach Kriegsbeginn gab es hierzu einen kritischen Artikel in der Berliner tageszeitung. Dort wurde von einem Video berichtet, das gefesselte russische Soldaten mit Augenbinden zeigte, zusammengepfercht liegend. Aus dem Off hört man offenbar einen Ukrainer, der seine Nationalhymne vorträgt und die Gefangenen zwingt, sie mitzusingen.

Man erinnert sich bei dieser Szene an die Vorfälle im irakischen Gefängnis Abu-Ghuraib 2004. Eine US-amerikanische Aufseherin hatte irakische Gefangene erniedrigt. Ein Foto zeigt sie mit einer Hundeleine, das am Halsband eines nackten Häftlings befestigt ist. Aufgrund dessen und weiterer Taten wurde sie des Kriegsverbrechens für schuldig erklärt.

Über eine Ermittlung zum im ukrainischen Video gezeigten Vorfall wurde nichts bekannt – desgleichen nicht zu weiteren Meldungen über Misshandlungen von Gefangenen. Nachforschungen zu Vorwürfen, die Streitkräfte der Ukraine hätten Chemiewaffen eingesetzt, fanden ebenfalls nicht statt.

Der Einsatz von Streumunition in Bomben und Raketen wird indes nicht bestritten, obwohl dies gegen ein internationales Übereinkommen verstößt, das dies verbietet, weil sie "übermäßige Leiden verursachen oder unterschiedslos wirken können".

Immerhin 111 Staaten haben den Vertrag bisher unterzeichnet, auch Deutschland – jedoch nicht die USA, die Ukraine und Russland.

Das Verbot knüpft an das zitierte Humanitäre Völkerrecht an. Dort wird ebenfalls davon gesprochen, unnötiges Leid sei zu vermeiden. Bekanntlich detonieren die wie Schrot weitläufig über das Ziel abgeschossenen Bomben nicht alle. Sie töten so nicht nur sofort, sondern auch noch später, völlig unberechenbar.

Nun hat die Ukraine von den USA Streumunition geliefert bekommen. Und unter der Verantwortung von Wolodymyr Selenskyj wird diese verheerende Waffe jetzt eingesetzt. Ein Kriegsverbrechen? Wie kann das sein? Dies taugte ja nur zur Propaganda der Gegenseite. Also werden alle Verrenkungen unternommen, diese brutale Eskalation des Kriegs als verantwortungsvoll und begrenzt erscheinen zu lassen.

Es kommt eben sehr darauf an, wer Kriegsverbrechen begeht. Die auf unserer Seite machen so etwas grundsätzlich nicht. Und wenn doch, sind das seltene Ausnahmen, die im Eifer des Gefechts halt passieren, also Nachsicht verdienen. Die andere Seite hingegen begeht systematisch Kriegsverbrechen. Was bei deren moralischer Verkommenheit auch nicht anders zu erwarten ist.

Die Anklage "Kriegsverbrecher" ist gleichzeitig das Urteil: Diesem Bösewicht ist alles Schlechte zuzutrauen. Deshalb muss er, der verhasste Feind, mit allen Mitteln bekämpft und dingfest gemacht werden. Ein Auftrag an die guten Krieger. Der Applaus an der Heimatfront ist ihnen gewiss.

Epilog: Warum Kriegsverbrechen nicht aufhören

Bleibt noch die Frage: Was bringt Menschen dazu, im Krieg zusätzlich zum Tötungsauftrag Massaker zu begehen, Frauen zu vergewaltigen, zu plündern, Gefangene zu erniedrigen und zu foltern? Der Neuropsychologe Thomas Elbert wurde in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs gefragt, was die militärischen Ausbilder unternehmen, um die Gewaltbereitschaft ganz normaler Leute zu erhöhen, auch ganz junger, die noch gar keine Erfahrung im Töten haben:

Die Trainingsmethoden haben sich geändert. Soldaten üben nicht mehr mit Schießscheiben, sondern mit Figuren in Menschenform. Das wichtigste Mittel aber ist Propaganda. Man muss den Soldaten erzählen, dass es gar keine Menschen sind, auf die sie schießen. Sondern eben Untermenschen, Ungeziefer, Leute, die die Welt vernichten wollen.

Christina Berndt: "Wie ein Schuss Heroin", Interview mit Thomas Elbert, Süddeutsche Zeitung, 9. April 2022

Das passt auf die russischen Soldaten, die gegen eine angeblich faschistisch unterwanderte Ukraine vorgehen sollen, also das Böse schlechthin, "Nazis", vernichten.

Auch der Auftrag, eine existenzbedrohende Aufrüstung der Ukraine, womöglich mit Nuklearwaffen, gegen die Heimat zu verhindern, entfaltet eine gewaltige Wirkung. Es passt genauso auf die ukrainischen Soldaten, die sich russischer Unholde erwehren, die wahllos alles zerstören wollen, Haus, Hof, Familie. Für die Feingeister unter ihnen kommen noch die Verteidigung von Freiheit und Demokratie hinzu.

Hüben wie drüben sitzen die Bürger der Propaganda ihres Staates auf. Das funktioniert allerdings nur, wenn die Bürger die Zwecke ihres Staates teilen.

Die russischen Untertanen setzen dann ihr Leben ein, damit ihr Land militärisch gegenüber dem Westen nicht weiter ins Hintertreffen gerät, die Ukraine nicht zum Aufmarschgebiet der Nato wird. Sie haben davon zwar nichts, aber ihre Herrschaft behauptet im Erfolgsfall ihre Stellung als Weltmacht.

Die ukrainischen Untertanen riskieren ihre Existenz, damit ihr Land einmal Mitglied von EU und Nato wird. Sie haben davon zwar nichts, aber ihre Herrschaft bekommt im Erfolgsfall die Chance, mit dem Reichtum und der Macht des Westens im Rücken mehr als Staat herzumachen. Die einstige Variante, mit Russland besser zu fahren, hatte Kiew 2014 endgültig verworfen.

Solange Nationen ihre aufgehetzten Nationalisten, ihre treuen Bürger und Untertanen, in Kriegen aufeinander loslassen, wird es weiter Verbrechen in diesen Kriegen geben. Denn den verhassten Feind, den Unmenschen pfleglich und schonend zu behandeln, ist eine fast übermenschliche Leistung – angesichts dessen, was den Soldaten eingebläut wird und mit welchen Waffen sie ausgestattet sind.