Layla, pimp my Leitkultur: Mainstream-Rebellen in Aktion
Ein Rebell sein zu wollen, der zugleich alle Mainstream-Vorteile genießt, ist peinliche Rosinenpickerei, kann aber erfolgreich sein, wenn Massenmedien mitspielen. Der Wirbel um "Layla" ist dafür ein Beispiel.
Jetzt ist "Layla" also offizieller Sommerhit 2022. Auch wenn einige der mehr als 60 Millionen Streams sicher nicht auf Beliebtheit zurückgehen, sondern auf den schlichten Wunsch, mitreden zu können – oder wenigstens zu wissen, worüber in diesem denkwürdigen Krisensommer wochenlang gefühlt die halbe Republik streitet. Producer Ikke Hüftgold und Co. können sich zu einer erfolgreichen Medienkampagne gratulieren.
Der Sommerhit-Status ändert allerdings nichts daran, dass ein paar Leute immer noch glauben, "Layla" sei verboten – weil es nämlich immer noch Veranstalter und Locations gibt, die sich dem Trend partout verweigern. Frechheit! Zensur! Woke-Diktatur!
Ist die "Große Freiheit" auch "verboten"?
Was passiert erst, wenn sich herumspricht, wie viele deutschsprachige Songs über Prostitution selten oder nie auf Volksfesten gespielt werden, obwohl in deren Texten viel mehr Dichtkunst steckt? Hannes Wader ist einer der nicht ganz unbekannten Liedermacher, die sich darüber beschweren könnten.
Hätte er einen fähigen PR-Agenten, hätte er insgesamt weniger antikapitalistische Lieder geschrieben und seine Fans mehr Talent zum Beleidigtsein, wäre es vielleicht schon längst ein Skandal, dass Waders Reeperbahn-Song "Große Freiheit" nicht obligatorisch auf allen Playlists steht.
"Ich sehe schon", sagt Lucy, "dass dir was an mir nicht passt;
und dass du ausgerechnet jetzt 'nen Oldenburger Hänger hast!
"Ich sehe Sie als Menschen", sag' ich ängstlich und gehetzt,
"ausgebeutet, unterdrückt, erniedrigt und verletzt."
Lucy sagt: "Das kannst du haben, hol' die Peitsche her!
Unterdrückung plus Verletzung kostet etwas mehr!"
Hannes Wader / Die große Freiheit und die Reeperbahn
Das Lied ist in halbwegs heiterem Ton geschrieben, auch wenn der Kunde, der "Lucy" da rausholen will, von ihrem Zuhälter übel verkloppt und gedemütigt wird. Also, warum sollte es nicht auch auf Volksfesten gespielt werden, wenn "Layla" kein Problem ist, obwohl auch da kleine Kinder ihre Eltern fragen könnten, was ein Puff ist und was es mit Prostitution auf sich hat? Beides könnte ja erst zu späterer Stunde gespielt werden.
Wader stellt allerdings diesen Anspruch gar nicht und hatte nie vor, in dieser Gesellschaft, so wie sie ist, zum Mainstream zu gehören.
Manche Künstler und ihre Fangemeinden wissen auch genau, dass sie nicht mit dem Beistand großer Konzernmedien rechnen können, wenn sie Kunstfreiheit mit dem Anspruch auf jede gewünschte Bühne, reichlich Sendezeit oder Volksfestpräsenz verwechseln. Eher würden sie für diesen Irrtum ausgelacht – selbst wenn sie nicht ganz unbekannt sind.
Wer zu speziell ist und von der "unsichtbaren Hand des Marktes" aussortiert wird, hat es nach Meinung liberaler Erfolgsmenschen eben nicht anders verdient und muss Absagen in Würde ertragen. Wer aber im Grunde systemkompatibel ist, schon einen gewissen Namen in der Branche hat und die richtigen Leute kennt, kann es einfach nach dem Motto "Frechheit siegt" versuchen und sich mit durchschlagendem Erfolg als Opfer von Zensur oder "Cancel Culture" inszenieren, wenn sein Werk nicht überall goutiert wird.
Besonders, wenn er oder sie im Verdacht steht, irgendjemanden diskriminiert zu haben – denn das würde ja heute fast jeder bestreiten, aber in diesen Verdacht zu geraten, ist doch irgendwie chic und garantiert Aufmerksamkeit. Deshalb tummeln sich so viele in der Grauzone, um ein Stück vom Aufmerksamkeitskuchen abzubekommen, dass es fast schon wieder Mainstream ist.
So richtig zum Mainstream gezählt werden will aber heute eigentlich fast keiner, weil es irgendwie nach Einheitsbrei und unverdient erfolgreichem Mittelmaß klingt. Nicht zuletzt aber auch, weil Rechte den Eindruck haben, der Mainstream sei links, während Linke ihn bestenfalls für pseudolinks, neoliberal oder rechts halten. So ist das eben im Kulturkampf: Keiner hat die unangefochtene Hegemonie, die er gern hätte.
Volksfestmusik als Anleitung, "wie man leben muss", soll oder darf?
Jedem steht es frei, deswegen beleidigt zu sein. Wenn aber Chefredakteure von Massenmedien des Springer-Verlags auf den Zug aufspringen und meinen, eine Volksfest-Playlist ohne ein ganz bestimmtes Ballermann-Lied sei "Bevormundung" und der Versuch, Menschen vorzuschreiben, "wie man leben muss", dann beweist das eigentlich nur, wie weit der betreffende Künstler von einem echten Rebellen entfernt ist.
Dabei will WeltN24-Chefredakteur Ulf Poschardt, von dem diese Worte stammen, ganz sicher selbst nicht, dass Menschen Volksfestmusik als realistische Anleitung dafür sehen, wie man leben kann oder darf. Denn dann würden sie ja mehr feiern, tanzen, flirten und womöglich auch unbezahlt vögeln, als etwas zum Bruttoinlandsprodukt beizutragen.
Er will, dass sie arbeiten gehen, die deutsche Wirtschaft am Laufen halten und gewerkschaftsfeindliche Zeitungen wie Welt oder Bild lesen, um sich als Rebellen zu fühlen, die sie nicht sind. Von all dem handelt Volksfestmusik mit oder ohne "Puffmama" nicht – sie soll eher eine Auszeit von der Tristesse des realen kapitalistischen Alltags bieten, ohne ihn grundsätzlich infrage zu stellen. Letzteres wollen jedenfalls die Neoliberalen, die "Layla" als "Must-have" verteidigen, nicht.
Interessant ist auch, dass es nicht die besten Freunde des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sind, die im Fall von "Layla" so etwas wie einen öffentlich-rechtlichen Auftrag für städtische Volksfeste halluzinieren. Woher sonst kommt der Gedanke, es gäbe dort eine Pflicht, ein ganz bestimmtes Lied zu spielen?
Sogar Oktoberfest-Wirte haben bereits Mitte Juli entschieden, es zu lassen – bei den dortigen Bierpreisen werden vielleicht auch angesichts der Wirtschaftskrise viele Gäste gar nicht betrunken genug, um sich daran zu erfreuen.
"Ich spiele es nicht, weil es mir nicht gefällt. Wir haben unseren Kapellen die Anweisung gegeben: Das braucht’s ihr gar nicht üben, weil es wird nicht gespielt werden.
Oktoberfest-Wirt Christian Schottenhamel (59, "Festhalle Schottenhamel") gegenüber der Bild
Das tut natürlich denjenigen weh, die sich bisher mit Ballermann-Puffliedern auf dem sicheren Boden der Leitkultur wähnten oder zumindest eine Zielgruppe bedienen wollen, die das bisher tat.
So etwas wie einen Rundfunkrat für Volksfeste würde ein Ulf Poschardt ganz sicher nicht befürworten. Aber für wirklich rebellische Liedermacher würde er auch ganz sicher keine Lanze brechen, wenn sie oder ihre Fans unter Berufung auf die Kunstfreiheit einfordern würden, gefälligst vom DJ eines jeden Volksfests berücksichtigt zu werden.
Wer den Beistand solcher Medien bekommt, kann nicht ernsthaft behaupten, er oder sie würde in diesem Land mundtot gemacht.
In Wirklichkeit geht es darum, zu den "Must-haves" in einer vordergründig pluralistischen Gesellschaft zu gehören. Also Teil einer Leitkultur zu sein, die man nicht so nennen will, weil es altbacken und autoritär klingt. Autoritär sind immer nur die anderen. Diejenigen, die Freiräume ohne diese "Must-haves" wollen.
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