zurück zum Artikel

Leben wie die Maden im Speck

Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr - Teil 3

In dieser Folge seiner demokratiekritischen Artikelreihe setzt sich der Allensbacher Politologe und Wissenschaftsjournalist Wolfgang J. Koschnick mit der Tatsache auseinander, dass die armen Parlamentarier angeblich im Dienste des Gemeinwohls so entsetzlich viel schuften müssen und dafür so erbarmungswürdig schlecht bezahlt werden. Doch das Gegenteil ist der Fall: Alle Abgeordneten haben sich im Laufe der Jahrzehnte gehörige Einnahmen aus den verschiedensten Töpfen zugeschustert und nehmen große Mühen in Kauf, um diese vielfältigen Einnahmequellen zu verschleiern. Für die Parlamentarier aller Ebenen stehen ihre eigenen wirtschaftlichen und politischen Interessen an der ersten Stelle. Die Interessen der Bevölkerung laufen irgendwo unter "ferner liefen".

Teil 2: Die repräsentative Demokratie frisst ihre Kinder [1]

Die Verteidiger des repräsentativen Parlamentarismus halten den Kritikern entgegen, es komme überhaupt nicht darauf an, dass die Zusammensetzung des Parlaments ein haargenaues Spiegelbild der Gesamtbevölkerung bilde. Und damit haben sie ohne jeden Zweifel Recht. Wenigstens zum Teil.

Wenn die Proportionen an der einen oder anderen Stelle ein bisschen verrutscht sind und in den Parlamenten von der einen oder anderen Sozialschicht ein paar mehr Leute sitzen als in der Gesamtbevölkerung, ist das kein Weltuntergang und auch noch nicht das Ende der demokratischen Repräsentation.

Wenn aber in einem Parlament große Teile der Bevölkerung, die jeweils mehrere Millionen Menschen einschließen, überhaupt keinen Repräsentanten haben, stellt sich die Lage schon ganz anders dar. Dann nämlich haben diese vielen Millionen Menschen keinen Fürsprecher im Parlament. Sie kommen praktisch in der politischen Wirklichkeit der Demokratie nicht vor. Es gibt sie nicht als Faktor, mit dem man rechnen müsste. Es gibt sie zwar, aber man braucht sich als Parlamentarier nicht um sie zu kümmern. Sie sind die politischen Nichtse der Nation.

Viele politische Entscheidungen laufen ja auf eine Polarisierung hinaus: Da geht es um die Interessen der Arbeitslosen gegen die der Beschäftigten, der Beamten, Angestellten und Arbeiter gegen die der Unternehmer. Und wenn keiner da ist, der zum Beispiel die Interessen der Arbeitslosen, der Hartz-IV-Empfänger, der allein erziehenden Mütter oder der Rentner artikuliert, dann obsiegen im Zweifelsfall diejenigen, deren Interessen im Widerspruch zu denen der Arbeitslosen, Hartz-IV-Empfänger, allein erziehenden Mütter oder Rentner stehen.

Natürlich weisen die Parlamentarier dies weit von sich und meinen, in ihren Händen seien die Interessen der gesamten Bevölkerung bestens aufgehoben. Schließlich seien sie doch die getreuen Sachwalter der Interessen des kleinen Mannes und der wirtschaftlich Schwachen, und schon immer habe ihr Herz für die Unterdrückten und Entrechteten geschlagen.

Doch Abgeordnete, die im Gewande des Robin Hood daherstolziert kommen, gehören in den Karneval. In der Politik haben sie nichts zu suchen. Da geht es um die knallharte Vertretung von Interessen und nicht um die gutherzige Fürsorge für die Armen und die vom Schicksal Gebeutelten.

Patriarchalische Vertretung ist demokratiefeindlich

Die Behauptung, die Parlamentarier verträten die Interessen der gesamten Bevölkerung, ist nichts als Augenwischerei und ein in seiner überheblichen Penetranz nur schwer erträgliches patriarchalisches Argument; denn im harten Widerstreit der Interessen kann sich im Endeffekt nur durchsetzen, wer im Prozess der Willensbildung auch stark vertreten ist.

Und selbst, wenn das nicht so wäre: Die patriarchalische Wahrnehmung fremder Interessen ist das genaue Gegenteil von demokratischer Interessenvertretung. Es ist übelster und rückständiger Patriarchalismus der parlamentarischen Parteien, wenn sie nach Gutsherrenart argumentieren, sie würden die Interessen vieler Menschen auch dann wahrnehmen, wenn diese gar nicht im Parlament repräsentiert sind.

Es ist eine zutiefst antidemokratische Sichtweise. Mit derselben Begründung, mit der man die Vertretung der Interessen von Arbeitern, Rentnern, Hausfrauen in die Hände eines Beamtenparlaments legt, könnte man die Interessen der gesamten Bevölkerung auch in die Hände von Behörden legen. Nur: Dann wäre für jedermann erkennbar, dass dies mit Demokratie nichts mehr zu tun hat. Patriarchalismus und Demokratie sind nun einmal unvereinbar.

Es geht bei demokratischen Institutionen nicht darum, dass Menschen ihre eigenen wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder sonstigen Interessen vertrauensvoll in fremde Hände legen und dann auch noch hoffen, dass die sich dann ordentlich darum kümmern. So kann und soll Demokratie nicht funktionieren.

Wenn in Parlamenten, die fest in der Hand der Beamten und Angestellten des öffentlichen Dienstes sind, Gesetze zu verabschieden sind, in denen es um die wirtschaftlichen, sozialen oder sonstigen Interessen von Angehörigen des öffentlichen Dienstes geht, ist nicht damit zu rechnen, dass die Gesetze sich zu deren Ungunsten auswirken. Im Gegenteil.

Die Herrschaft der Beamten

Ein Beamtenparlament ist aber auch nicht gerade die geeignete Institution, die in der Lage wäre, der weiter fortschreitenden Verzahnung und Vermischung von exekutiven und legislativen Funktionen Einhalt zu gebieten. Der für Beamten charakteristische Hang zu Konformität, Vorschriftentreue, Risikoscheu und Detailversessenheit steht in krassem Gegensatz zur Flexibilität, Innovativität und Kreativität, die ein lebendiges Parlament braucht.

Zieht man die Bilanz von Theorie und Praxis der Repräsentation, so kommt man mit dem Politikwissenschaftler Udo Bermbach zu der ernüchternden Schlussfolgerung: Repräsentation ist nicht viel mehr als eine "Technik zur Besetzung von Herrschafts- und Führungspositionen"1 [2], auf gar keinen Fall jedoch ein Modell zur Abbildung des Volkswillens.

Befürworter des repräsentativen Systems meinen denn auch, es sei gar nicht erstrebenswert, dass jede größere Berufsgruppe durch einen oder mehrere Abgeordnete repräsentiert sei. Wichtig sei es vielmehr, dass sich im gesamten Parlament die Vielfalt der politischen und gesellschaftlichen Strömungen der Gesellschaft widerspiegele. Das lässt sich im Prinzip auch gar nicht so leicht von der Hand weisen.

Allerdings ist das auch ein prekäres Argument; denn um bloß verbreitete Strömungen der Gesellschaft ein bisschen widerzuspiegeln, bräuchte man nicht zwangsläufig den riesigen Apparat eines Parlaments mit 631 Abgeordneten. Da würden auch 50 bis 60 Leute ausreichen, wahrscheinlich sogar noch viel weniger, nämlich 4 bis 5 Leute. Denn mit wachsender Zahl der Abgeordneten wächst auch der Koordinierungsaufwand immens, der erforderlich ist, um diese große Menge von Menschen zusammenzuhalten.

So spiegeln sich im Verhältnis der politischen Parteien zueinander, wie es durch eine Wahl hergestellt wird, zweifellos die Größenordnungen der politischen Strömungen in der Bevölkerung. Wie kann es dann jedoch geschehen, dass die breite Bevölkerung selbst mit diesem Resultat der Spiegelbildlichung inzwischen unzufrieden ist? Sie fühlt sich ja von allen politischen Parteien verraten und verkauft. Ganz so einfach scheint die Chose also nicht zu sein, wenigstens nicht aus Sicht der Bevölkerung.

Doch darüber hinaus ist dies ein irreführendes und rein von der Logik her höchst zweifelhaftes Argument. Es besagt ja: Die politischen Strömungen der Bevölkerung werden einigermaßen getreu repräsentiert, die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kräfteverhältnisse jedoch nicht. Und das ist ohne jeden Zweifel korrekt.

Bundestag als Selbstbedienungsladen des öffentlichen Dienstes

Bei politischen Entscheidungen kommt es jedoch häufig nicht auf die parteipolitischen, sondern auf die sozialen und wirtschaftlichen Kraftfelder an. Wenn das Parlament über Beamtengesetze zu befinden hat und die bei weitem stärkste Berufsgruppe der Entscheider Beamten sind, dann ist nicht daran zu denken, dass andere als von höchstpersönlichen Interessen der Abgeordneten geleitete Entscheidungen getroffen werden.2 [3] Und daher dienen denn auch viele politische Entscheidungen den persönlichen wirtschaftlichen Interessen der Angestellten und Beamten im öffentlichen Dienst.

So hat auf dem Höhepunkt der Euro-Staatsschuldenkrise der Bundestag im Haushalt 2012 das Weihnachtsgeld für Beamten ausgerechnet zu einem Zeitpunkt erhöht, als die Neuverschuldung des Bundeshaushalts gesenkt werden sollte. Sie wurde jedoch nicht gesenkt, sondern um vier Milliarden Euro erhöht. Dafür strich die Koalition beim Arbeitslosengeld II und bei den Maßnahmen zur Eingliederung von Arbeitslosen jeweils eine Milliarde Euro. So sieht die Realität der Vertretung der Interessen des ganzen Volkes aus. Der parlamentarische Robin Hood kämpft für sein eigenes Weihnachtsgeld, nämlich das der Beamten…

Und genau das ist der springende Punkt: Bei allen Entscheidungen, die sich auf allgemeine politische Orientierungen beziehen wie etwa die Frage, ob die Bundesrepublik ihre Truppen in ein fremdes Land schicken soll, ob der Tierschutz für Haustiere gestärkt oder der Anbau von Yamswurzelgewächsen in Burkina Faso mit Entwicklungshilfe gefördert werden sollte, reicht es völlig hin, wenn im Parlament die großen Strömungen der Bevölkerung so einigermaßen repräsentiert werden - obwohl auch dies komplizierter ist, als es auf den ersten Blick scheinen mag; denn in der Regel sind die einen dafür, die anderen dagegen und der Rest ist unentschieden. Sollen diese drei "Strömungen" nun im Parlament ihre Widerspiegelung erfahren? Und wenn ja: Wem wäre damit geholfen?

Wenn das Volk keinen Krieg will und seine Vertreter doch…

Die grobe Repräsentation der verschiedenen Strömungen in der Bevölkerung ist durch die unterschiedliche Stärke der Fraktionen im Parlament ja tatsächlich auch so einigermaßen gewährleistet. Aber - Bemerkung am Rande: Auch dies ist eine Form der spiegelbildlichen Repräsentativität, wie sie durch parteipolitische Wahlen ausdrücklich hergestellt wird.

Doch selbst hier ist die Repräsentativität in einer entscheidenden Lebensfrage höchst zweifelhaft: So hat die Mehrheit des Bundestags das Mandat der Bundeswehr in Afghanistan mehrfach verlängert, als die Mehrheit der Bevölkerung längst gegen den Einsatz der Truppen am Hindukusch war. Während 70 Prozent der Bevölkerung den Krieg in Afghanistan ablehnen, stimmten im Januar 2011 stolze 72 Prozent der Abgeordneten im Bundestag einer weiteren Verlängerung zu.

420 von 579 Abgeordneten sprachen sich in der namentlichen Abstimmung für das neue Mandat aus, 116 dagegen. 43 enthielten sich. Im Vorjahr hatten 429 von 586 Parlamentariern für das damalige Mandat gestimmt, 111 waren dagegen und 46 enthielten sich. Übrigens eine Konstante der Politik: Die Politiker führen Kriege, während die Bevölkerung gegen den Krieg ist.

Auch dies ist ein deutlicher Hinweis auf eine im Laufe von Jahrzehnten gewachsene Diskrepanz zwischen dem, was Politiker für richtig halten, und dem, was die Bevölkerung meint. Die Bevölkerung kennt den Preis von Kriegen und weiß, wer ihn bezahlt. Politiker sind dem nicht so ausgesetzt. Sie demonstrieren ihre Macht, wenn sie Kriege führen, und das ist ihnen wichtiger, als viel Elend und Leid von den Menschen abzuwenden. Und sie können sich auch noch durch medienwirksame Truppenbesuche in Begleitung von Fernsehteams und Talkshowmoderatoren wichtig tun.

Politiker sind ähnlich wie Beamten und Manager eine Berufsgruppe, die ständig über die Verwendung von Geldern bestimmt, das ihnen nicht selbst gehört - und die außerdem durch geltendes Recht und Gesetz vor Strafe oder Verlust geschützt sind, wenn sie dieses Geld völlig sinnlos verschleudern.

Jeder Unternehmer bezahlt die Folgen seiner finanziellen Fehlentscheidungen selbst und geht daher grundsätzlich behutsam damit um, um Fehlinvestitionen und im schlimmsten Fall den Konkurs zu vermeiden. Politiker können ungestraft Milliardenbeträge verpulvern und sich anschließend auch noch als Manager der durch eigene Fehler entstandenen Krise zu produzieren.

Wider jede Vernunft und die informierte Warnung aller Fachleute hat die europäische Politik aller Couleurs so die Einführung des Euro durchgeboxt, anschließend alle damit verbundenen Regeln gebrochen und lastet auf dem Höhepunkt der Krise den Steuerzahlern die finanzielle Bürde bei der Bewältigung der durch ihr schuldhaftes Versagen entstandenen Krise auf.

Repräsentierten die Repräsentanten tatsächlich die wirtschaftlichen Interessen derjenigen, die sie zu repräsentieren vorgeben - nämlich die Mehrheit der Bevölkerung -, dann könnten und dürften sie das gar nicht tun. Doch die Mehrheit derjenigen, von deren Arbeit die Politiker leben, kommt in ihrem Kalkül überhaupt nicht vor.

Bei allen politischen Entscheidungen, die mit handfesten wirtschaftlichen, sozialen und auch kulturellen Interessen zu tun haben, ist es für das demokratische System fatal, dass ein sattes Drittel der Bevölkerung ohne jede Vertretung ist. Da käme es sehr wohl darauf an, dass sich in den Parlamenten die realen Kräfteverhältnisse der Gesellschaft widerspiegeln, sonst nämlich klafft ein krasses Missverhältnis zwischen Repräsentanten und Repräsentierten. Und das klafft ja längst; denn diese Kluft öffnet sich im Verlauf der Zeit immer stärker und stärker, weil sich die Fülle der auf Grund des Missverhältnisses entstandenen Verzerrungen kumuliert.

Die Kluft zwischen den Repräsentanten und denen, die sie repräsentieren sollten, aber nicht mehr repräsentieren, wächst von Jahr zu Jahr und von Legislaturperiode zu Legislaturperiode. Dieser Prozess ist in repräsentativen Demokratien unaufhaltsam und auch unumkehrbar.

Herrschaft der Betonköpfe

Die Strukturen verfestigen sich. Diejenigen, die sich an die Schalthebel der politischen Macht gekämpft haben, verteidigen ihre einmal errungenen Positionen. Und es gibt keine Kraft, die sich dagegen stemmen könnte. Die Herrschaft der politischen Kaste betoniert sich immer stärker ein und ist inzwischen unumkehrbar in Stahlbeton gegossen.

Da hatten sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestags zunächst eine überaus moderate Aufwandsentschädigung gewährt, für die jedermann Verständnis hatte. Nach 1949 bekamen die Bundestagsabgeordneten eine steuerfreie Aufwandsentschädigung von 600 DM, ein Tagegeld von 400 DM, einen Unkostenersatz von 300 und einen Reisekostenersatz von 300 DM. Bescheiden.

Im Laufe der 65 Jahre, die seither vergingen, kamen stattliche Beträge hinzu. Heute bekommen die Abgeordneten als finanzielle Entschädigung für ihr Mandat zunächst einmal 8.252 Euro. Sie soll Verdienstausfälle ausgleichen, die dem Abgeordneten durch die Ausübung seines Mandats entstehen, und seine Unabhängigkeit garantieren. Seit 1977 ist die Abgeordnetenentschädigung steuerpflichtig, aber von Rentenbeiträgen befreit. Das ist sozusagen das Grundgehalt. Auch nicht gerade zu viel.

Aber sie dürfen natürlich neben ihrem Mandat noch einen Beruf ausüben. Darüber hinaus sitzen viele Abgeordnete in Aufsichtsräten, Verwaltungsräten und Beiräten und werden dafür reichlich vergütet.

Geld fließt aus vielen Quellen

Im Laufe von Jahrzehnten sind immer neue Beträge hinzugekommen. Zusätzlich zur Diät erhält jeder Abgeordnete eine steuerfreie Kostenpauschale von 4.123 Euro (Stand 2013), die jährlich den gestiegenen Preisen angepasst und unabhängig von den tatsächlichen Kosten gezahlt wird. Anders als jeder Steuerzahler muss ein Parlamentarier seine Kosten also nicht nachweisen. Das ist ein Privileg. Hinzu kommt, dass Abgeordnete schon nach einem Jahr eine monatliche Altersversorgung von 192 Euro erwerben (ein normaler Rentner bekommt nur 26 Euro pro Beitragsjahr).

Jedem Bundestagsabgeordneten stehen 16.019 Euro (seit August 2013) im Monat für die Beschäftigung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Berlin und im Wahlkreis zur Verfügung. Bis zu 12.000 Euro werden im Jahr für Büromaterial, Software, technische Ausstattung, Handy, Internet, Briefpapier, etc. gegen Einzelnachweise vom Bundestag bezahlt. Bei Dienstreisen zahlt der Bundestag innerdeutsche Flüge im Rahmen der Abgeordnetentätigkeit, jeder Abgeordnete hat darüber hinaus eine Netzkarte der Deutschen Bahn (1. Klasse) und kann den Bundestagsfahrdienst in Berlin kostenfrei nutzen.

Hat ein Abgeordneter dann auch noch ein Fraktionsamt und ist zum Beispiel stellvertretender Fraktionsvorsitzender, Fraktionsvorsitzender, parlamentarischer Geschäftsführer oder Vorsitzender eines der vielen Ausschüsse, zahlt ihm die Partei zusätzlich ein Gehalt. Die Partei greift alles Geld natürlich auch bei den Steuerzahlern ab. Die Beträge unterscheiden sich von Fraktion zu Fraktion und werden öffentlich meist nicht bekannt gegeben. Ein stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion bekommt im Monat beispielsweise zusätzlich 3.713 Euro, der Vorsitzende 3.906 Euro.

Auf diese wundersame Weise wächst die Zahl der stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden ständig. Im 17. Bundestag hat die CDU-Fraktion zehn, die SPD neun stellvertretende Vorsitzende. Darüber hinaus hat die CDU-Fraktion 42 Vorstandsmitglieder, darunter Arbeitskreisvorsitzende und weitere Würdenträger, die allesamt unzulässige Zulagen kassieren. In manchen Landtagen hat fast die Hälfte aller Abgeordneten irgendein Amt und kassiert damit Zulagen.

In den Länderparlamenten gelten grundsätzlich ähnliche Regelungen. So bekommt ein Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg zum Beispiel monatlich 7.199 sowie eine Pauschale von 1.507 Euro für die private Altersvorsorge, die die steuerfinanzierte Pension ablöst. Der Landtagspräsident sowie die einzelnen Fraktionschefs bekommen zusätzlich das 1,25-fache der Abgeordnetendiät, also rund 15.000 Euro im Monat.

In Nordrhein-Westfalen haben die Abgeordneten beispielsweise geradezu schamlos hingelangt. So verdoppelten sie 2005 ihre Diäten von monatlich 4.807 Euro auf 9.500 Euro und erhöhten im Januar 2012 noch einmal auf 10.726 Euro. Das ist besonders deshalb skandalös, weil Landtagsabgeordneter sein bestenfalls ein Halbtagsjob ist, keinesfalls aber eine hauptberufliche Tätigkeit.

Wenn es darum geht, mal eben großzügig hinzulangen, kennen Abgeordnete aller Ebenen keinerlei Hemmungen. Einige Zeit nach der Wende wurde den Abgeordneten im neuen Landtag von Sachsen-Anhalt schmerzlich bewusst, dass viele von ihnen in der nächsten Legislaturperiode nicht wiedergewählt werden würden. Anspruch auf eine Abgeordnetenpension, so bestimmt es das Abgeordnetengesetz, besteht erst nach sechs Jahren Zugehörigkeit. Und so beschloss der Landtag im April 1993 eine Regelung, die den nicht wiederkehrenden Mitgliedern eine Altersentschädigung ab dem 55. Lebensjahr sicherte.

Über die "Diäten" wird in der Öffentlichkeit meist völlig irreführend diskutiert. Viele Beobachter kritisieren, dass die Abgeordneten sich ihr "Gehalt" gewissermaßen selbst bewilligen können - das verdient auch jede Kritik, ist aber nicht das Hauptproblem. Die Abgeordneten selbst halten dem stets entgegen, dass ihre Aufwandsentschädigung sich im Vergleich zu Managergehältern im unteren Bereich bewegt, und das stimmt sogar. Aber was managen die schon? Doch absolut gar nichts.

Es stimmt eben auch, dass mit allen zusätzlichen Einnahmen denn doch ein ordentlicher Gesamtbetrag zusammenkommt. Alles in allem verfügen die Abgeordneten im Schnitt über Geld und geldwerte Vorteile in Höhe von gut 30.000 Euro im Monat. Das verdient nicht unbedingt sehr viel Mitgefühl der arbeitenden Menschen, die mit wesentlich weniger über die Runden kommen müssen.

Politik in der Hand von "beknackten" Berufspolitikern

Tatsächlich haben die Berufspolitiker in Bundestag, Landtagen und im Europaparlament durch mieseste Trickserei die Dinge auf den Kopf gestellt. Die "Diäten" sollten ja ursprünglich einmal für den aufreibenden Aufwand der Parlamentstätigkeit entschädigen. Sie waren und sind noch immer als Entschädigungen für ihren Aufwand gedacht. So lautet auch die offizielle Bezeichnung. In Wahrheit jedoch entschädigen sich die Abgeordneten für ihren Aufwand heute vollständig aus anderen Töpfen. Und die Diäten sind nichts anderes als das Berufspolitiker-Grundgehalt, von dem sie unter anderem ihren Lebensunterhalt bestreiten.

Die Verteilung der Gelder auf die einzelnen Abgeordneten nach dem Gleichheitsprinzip generiert große Ungleichheit: Für die vielen Abgeordneten, die im Hauptberuf Beamte und Angestellte im unteren und mittleren Dienst sind, läuft das mitunter auf eine Verdoppelung und Verdreifachung ihrer Einkünfte hinaus.

Für sie bedeutet der Eintritt in ein Parlament einen deutlichen Einkommensgewinn, von dem sie zuvor nicht einmal träumen durften. Daher kleben sie auch so sehr an ihrem Abgeordnetensitz. Der Beruf des Politikers bedeutet für sie den Eintritt in eine höhere Einkommensklasse. Und folglich hängen sie an ihrem Posten.

Wer als Abgeordneter seinen ursprünglichen Beruf aufgibt - und das tun die meisten - ist wirtschaftlich abhängig und darauf angewiesen, bei der nächsten Wahl wiedergewählt zu werden. Um wiedergewählt zu werden, braucht er das Wohlwollen seiner Partei und seiner Fraktionsführung, und das erwirbt er sich durch Wohlverhalten.

Für hoch qualifizierte Spitzenkräfte hingegen bedeutet das Abgeordnetenmandat eine einschneidende finanzielle Verschlechterung. Die Folge: Im Bundestag finden sich kaum Spitzenkräfte. Es herrscht Mittelmaß. Spitzenleute tun sich das auf Dauer nicht an, meint der einstige Jungsozialist und wirtschaftspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Wolfgang Roth, nachdem er an die Spitze der Europäischen Investitionsbank (EIB) gewechselt war:

Wer ökonomisch denkt, ist völlig beknackt, wenn er in den Bundestag geht. Das Parlament ist, finanziell gesehen, eine nette Karriere für einen Studienrat, aber sonst ...

Wolfgang Roth

Dass es bei ihrer Parlamentsarbeit auch und vor allem um ihre ureigensten und höchst persönlichen wirtschaftlichen Interessen geht, wissen und praktizieren die Politiker im Bundestag selbst am allerbesten: Es kommt nicht von ungefähr, dass sich besonders viele beamtete Abgeordnete ausgerechnet im Innenausschuss des Bundestags tummeln, zu dessen vornehmsten Aufgaben die Besoldung von Beamten und öffentlichen Angestellten gehört. Und im Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten finden sich immer besonders viele Land- und Forstwirte.

Die Begründung lautet natürlich, dass Beamte besonders viel von Besoldungsfragen und Landwirte besonders viel von Landwirtschaft verstehen. Daran besteht auch gar kein Zweifel. Aber außerdem haben sie besonders ausgeprägte und höchst persönliche wirtschaftliche Interessen, die sie in ihrer Ausschussarbeit wirksam vertreten und durchsetzen können.

Jeder Politiker würde den Gedanken sofort begreifen: Wenn in einem Parlament die Partei Die Linke die Mehrheit der Abgeordnetensitze bekäme, obwohl sie in der Bevölkerung noch nicht einmal von zehn Prozent gewählt würde, dann würde der Bundestag nur sehr wenige Entscheidungen treffen, die von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert werden könnten.

Wenn in einem Parlament jedoch große soziale und berufliche Gruppen überhaupt nicht und stattdessen relativ kleine Gruppen drastisch überrepräsentiert sind, dann soll dieses Parlament ausgerechnet bei Entscheidungen, die soziale, wirtschaftliche, berufliche und kulturelle Interessen betreffen, Entscheidungen fällen, die den entweder gar nicht oder aber unterrepräsentierten Interessen entsprechen? Für wie doof halten die demokratischen Politiker eigentlich das Volk?

Demokratietheoretische Märchenstunden fürs Volk

Das gehört nun eindeutig in die demokratietheoretische Märchenstunde. Und wem, glauben die Politiker, diesen Bären noch aufbinden zu können? Zumal ja wirtschaftliche, berufliche und soziale Interessen ein wesentlich stärkeres Gewicht haben als allgemeine politische Orientierungen an den großen, in der Bevölkerung vorherrschenden Strömungen.

Wen also repräsentieren die Parlamentarier - außer ihre politischen Parteien und sich selbst? Die entwickelten Demokratien unserer Zeit des Niedergangs rekrutieren ihr politisches Personal im Wesentlichen durch Laufbahnen in politischen Parteien und durch Wahlen. Und das bedeutet konkret: Der Bundestag, die Landtage und auch die tausende von Kreistagen, Stadt- und Gemeinderäten spiegeln nicht die breite Bevölkerung, sondern vor allem die Funktionsträger und Aktivisten in den politischen Parteien wider. Und das wiederum ist eine ganz und gar jämmerliche Form der Repräsentation. Es ist eine Form der Repräsentation, an der kaum etwas Demokratisches dran ist.

Längst haben die Parlamente ihre Bestimmung völlig eingebüßt, das Volk zu repräsentieren. Sie sind zu Stätten verkommen, in denen sich Parteifunktionäre treffen und Entscheidungen registrieren, die Parteigremien ausgekungelt haben. Ein Parteipolitiker wirft nicht im Moment seiner Wahl sein Wolfsfell ab und mutiert zu einem friedlichen Schaf, das die Parlamentswiese auf der Suche nach der blauen Blume des Gemeinwohls abgrast.3 [4]

Mit der wachsenden Professionalisierung politischer Laufbahnen kommt es zunehmend zu einem wechselseitigen Durchdringungsprozess von Behördenmitarbeitern, Beschäftigten und Amtsträgern aller politischen Ebenen von der Gemeinde bis hin zum Bund. Beamte und Angestellte begegnen einander in den politischen Parteien, in den Behörden und den politischen Ämtern. Die "politische Kaste" aller Ebenen bleibt weitgehend unter sich, ihre Angehörigen tauschen sich untereinander aus und geben einander die Klinken in die Hände.

Die Machtelite und die Idioten im Volk

Über Fluch und Segen des Systems der repräsentativen Demokratie wird meist nur gar zu theoretisch diskutiert. Es hat Vorteile und es hat Nachteile. Darin liegt nicht das Problem. Das repräsentative System im Stadium der entwickelten Demokratie ist etwas grundsätzlich anderes als das in den jungen Jahren einer sich kraftvoll entwickelnden Demokratie.

Im Endstadium haben sich die Strukturen so verfestigt und verhärtet und die Oligarchien sich festgefressen, dass das gesamte System nur noch Chaos gebiert und die herrschende Machtelite sich gegen die Bevölkerung zusammenrottet und ihr Schaden zufügt.

Mit dem System der repräsentativen Demokratie verbinden sich zwei Ansprüche: (1) Es will die soziale und politische Struktur der Bevölkerung widerspiegeln und (2) es will so dem Gemeinwohl besonders erfolgreich dienen, indem es den wesentlichen Strömungen in der Bevölkerung Gehör verschafft.

Das politische System der Bundesrepublik - wie auch das System aller anderen repräsentativen Demokratien - leistet weder das eine noch das andere. Es behandelt große Teile der Bevölkerung als quantité négligeable, und es dient nicht dem Gemeinwohl sondern partikularen Interessen.

Die Interessen der Repräsentanten und der Repräsentierten - einfacher: der Politiker und der breiten Bevölkerung - sind im Laufe der Jahrzehnte kontinuierlich auseinander gedriftet, und zwar zu Gunsten der Interessen der Politiker und zu Lasten und auf Kosten der Bevölkerung. Die Bevölkerung weiß das längst. Die Politiker streiten das noch vehement ab.

Die Politiker eint der Blick von oben herab auf die Bevölkerung und ein ausgeprägtes Eigeninteresse an Positionen, Karrieren und Pfründen. Sie empfinden eine gehörige Verachtung für das gemeine Volk: "Die Überzeugung, dass er es draußen im Lande mit Millionen von Idioten zu tun hat, gehört zur psychischen Grundausstattung des Berufspolitikers", soll Hans Magnus Enzensberger einmal gesagt haben.

Mehr noch: Weil die Beziehung zwischen den Repräsentanten und denjenigen, die sie repräsentieren sollten, nachhaltig gestört ist und die Repräsentanten ganz und gar andere Interessen verfolgen als die Repräsentierten, hat sich ein Sumpf aus Korruption und Kungelei ausgebreitet, der die politische Szenerie weitgehend beherrscht.

Wenn jedoch die Repräsentanten andere Interessen vertreten als diejenigen, die sie repräsentieren sollen, ist der innere Friede des Landes gefährdet. Denn auf einer Interessengleichheit von Repräsentanten und Repräsentierten, von Vertretungsmacht und politischem Volk beruht der demokratische Frieden. Dessen ernsthafte Gefährdung drückt sich vorerst noch nur in herrschender Politikverdrossenheit und verbreiteter Politikerschelte aus. Doch es ist damit zu rechnen, dass die Kluft sich weiter öffnet und in nicht allzu ferner Zukunft zu offener Demokratiefeindlichkeit auswächst.

Teil 4 [5]: Parlamentarier sind Vertreter der Parteifunktionäre.

Die 4. Folge zeigt, wie die staatlich finanzierten politischen Parteien alle Spuren von demokratischer Spontaneität und Selbstorganisation im Keim ersticken. Wenn den Parteien die Mitglieder in hellen Scharen davonlaufen und die Leute sich von der Politik und den Politikern in Massen abwenden, so macht das gar nichts. Dann greifen die Parteien halt den Steuerzahlern noch etwas tiefer in die Taschen und lassen sie ihre Organisationen bezahlen.

In den Gründungsjahren der Bundesrepublik wäre niemand auf die absurde Idee verfallen, dass die Parteien sich von den Steuerzahlern finanzieren lassen dürften, nur weil sie aus eigener Kraft nicht existenzfähig sind. Heute ist das zur Selbstverständlichkeit geworden. Die politischen Parteien könnten keine zwei Tage überleben, entzöge man ihnen die staatliche Unterstützung, mit der sie sich selbst künstlich am Leben erhalten. Die politischen Parteien und ihre Amts- und Mandatsträger sind so gut wie vollständig staatsfinanziert. Sie haben den Staat usurpiert und nähren sich prächtig von den Tributzahlungen der Steuerzahler.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-3363017

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.heise.de/tp/features/Die-repraesentative-Demokratie-frisst-ihre-Kinder-3362995.html
[2] https://www.heise.de/tp/features/Leben-wie-die-Maden-im-Speck-3363017.html?view=fussnoten#f_1
[3] https://www.heise.de/tp/features/Leben-wie-die-Maden-im-Speck-3363017.html?view=fussnoten#f_2
[4] https://www.heise.de/tp/features/Leben-wie-die-Maden-im-Speck-3363017.html?view=fussnoten#f_3
[5] https://www.heise.de/tp/features/Parlamentarier-sind-Vertreter-der-Parteifunktionaere-3363115.html