Lützerath: Tabula rasa für RWE
Die Polizei macht dem Konzern den Weg für weitere Braunkohleförderung frei. Das globale Klima dürfte so über die 1,5-Grad-Grenze getrieben werden. Bei der Räumung des besetzten Dorfs werden Schwerverletzte und Tote befürchtet.
Im rheinländischen Weiler Lützerath ist am Donnerstagmorgen die Räumung der besetzten Häuser und des dortigen Protestcamps fortgesetzt worden. Unter dem Dörfchen und den umliegenden Feldern mit fruchtbarem Lössboden liegen 280 Millionen Tonnen Braunkohle, die der in der Region und vor allem der dortigen Politik bestens vernetzte Energie-Konzen RWE gerne abbaggern und verbrennen möchte.
Dabei ist klar, dass allein im Tagebau Garzweiler II, für den Lützerath weichen soll, noch 100 Millionen Tonnen Braunkohle abbaubar sind, so Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin. Außerdem wäre da noch der nahegelegene und ebenfalls von RWE betriebene Tagebau Hambach, wo noch weitere über 100 Millionen Tonnen Kohle aus der Erde geholt werden können. Ganz zu schweigen von den ostdeutschen Braunkohlelöchern, die vor ein paar Jahren Leag zur kostenlosen Ausbeutung geschenkt wurden.
Wenn das alles und auch noch die Kohle unter Lützerath verbrannt wird, kommt das einem Abgesang auf die Pariser Klimaschutzvereinbarung gleich. Kemfert:
„Um ein auf Deutschland heruntergerechnetes Treibhausgasbudget einzuhalten, welches einer Beschränkung der globalen Erhitzung auf maximal 1,5 Grad mit einer Einhaltungswahrscheinlichkeit von 50 Prozent entspricht, dürfen aus den Tagebauen Hambach und Garzweiler II ab Januar 2021 noch maximal 200 Millionen Tonnen Braunkohle für die Kohleverstromung und -veredelung gefördert werden.“
Dennoch hatten Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) und seine nordrhein-westfälische Amts- und Parteikollegin Mona Neubaur mit RWE Anfang Oktober in höchst intransparente Weise einen Deal ausgehandelt, mit dem es grünes Licht für das Abbaggern der Kohle und den Abriss von Lützerath gab.
Dort hatte im Frühjahr 2022 mit Eckardt Heukamp der letzte Bauer aufgegeben, nach dem ein Gericht ihm nicht einmal zugestehen mochte, seinen Hof so lange zu behalten, bis ein Enteignungsverfahren abgeschlossen wäre. Am Donnerstagmorgen wurde nun sein ehemaliger Hof von Polizeibeamten gestürmt.
Auf Twitter und Mastodon berichten die Klimaschützerinnen und Klimaschützer unter Hashtags wie #Lützerath und #Lützerathbleibt über gewalttätiges Vorgehen der Polizei, die von allen Seiten in das Dorf gestürmt sei. Auf Videoschnippseln ist zu sehen, wie Polizisten aggressiv Demonstranten zur Seite boxen, die sich passiv verhalten, Polizisten, die es offensichtlich witzig finden, Demonstranten zu gefährden. Überall seien Kettensägen zu hören, schreibt die aus der Region stammende grüne Bundestagsabgeordnete Kathrin Henneberger.
Videos zeigen, dass hier und da Böller geflogen sind, aber das Gros der Demonstranten und die Organisatorinnen und Organisatoren betonen immer wieder die Friedfertigkeit des Protestes. Die Polizei behauptet, es seien auch Steine geworfen worden.
Der ehemalige Bundestagsabgeordnete der Linkspartei, Lorenz Gösta Beutin, berichtet im Gespräch mit Telepolis von einem Protestcamp im benachbarten Keyenberg, einem anderen Dorf an der Tagebaukante. Von dort seien bei Wind und Regen am Donnerstagmorgen 300 bis 400 Personen in einer Demonstration nach Lützerath aufgebrochen. Ein Teil habe die Polizeisperren umgehen können, ein anderer sich entschieden, die Beamten mit Sitzblockaden zu behindern. Zwischen den Dörfern seien die Polizisten eher entspannt gewesen.
Doch viele Demonstranten fühlen sich kriminalisiert. Die Bestseller-Autorin Katja Diehl berichtete auf Twitter, dass der gecharterte Bus, mit dem sie und andere am vergangenen Sonntag zu einer angemeldeten Demonstration nach Lützerath anreisten, unterwegs drei Stunden lang von der Polizei kontrolliert worden sei. Von allen Mitfahrenden seien Porträtaufnahmen gemacht worden.
"Eine Frage der Zeit, bis es Schwerverletzte oder Tote gibt"
Auch das Bündnis "Alle Dörfer bleiben", in dem sich ein Teil der Tagebauanwohner aus den drei deutschen Braunkohlerevieren zusammengeschlossen hat, spricht von einem gewaltsamen Vorgehen der Polizei. David Dreesen, Pressesprecher des Bündnisses aus Lützeraths Nachbardorf Kuckum, erklärt:
„Es wirkt, als solle die Räumung um jeden Preis und so schnell wie möglich durchgesetzt werden. Um die Geschwindigkeit zu erhöhen, verstößt die Polizei immer wieder gegen vereinbarte Absprachen, setzt sich über geltende Sicherheitsregeln hinweg und gefährdet massiv Menschenleben. Wenn das so weiter geht, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis es Schwerverletzte oder Tote gibt.
Wir appellieren in aller Dringlichkeit an Innenminister Herbert Reul, den Einsatz sofort zu unterbrechen, um für eine Deeskalation der Polizei zu sorgen. Recht und Gesetz gelten insbesondere für Vertreter des sogenannten Rechtsstaats.“
Aktivisten in einsturzgefährdeten Erdtunneln
In Lützerath aktive Gruppen warnten am Nachmittag vor dem Einsatz von schwerem Gerät in der Nähe eines Waldstücks bei Lützerath, weil es dort Tunnel gebe, in denen sich Menschen aufhielten, die bei Einstürzen zu Tode kommen könnten. Auf Twitter und Facebook wurde auch ein Foto von zwei vermummten Personen in einem Erdtunnel geteilt.
Das Bündnis "Alle Dörfer bleiben" weist zudem auf die haarsträubende, unmittelbare Vorgeschichte der Räumung hin. Landrat Stephan Pusch (CDU) habe zwar die Allgemeinverfügung unterschrieben, die dem Polizeieinsatz zugrunde liegt, sich jedoch nicht über die Notwendigkeit des Kohleabbaus, mit dem die Landesregierung ihr Ansinnen begründet hat, informiert. Dreesen:
„Es ist ein Skandal, dass Landrat Pusch in dieser politisch hochbrisanten Lage nicht einmal die Studien der Landesregierung, geschweige denn andere Studien gelesen hat, um sich ein unabhängiges Bild der Lage zu verschaffen. Er hat die Allgemeinverfügung einfach im blinden Gehorsam unterschrieben.
Heute hat die Polizei Lützerath gewaltsam gestürmt und eine chaotische, gefährliche Situation geschaffen. Die Eskalation muss beendet werden, bevor weitere Menschen verletzt werden. Wir fordern alle Verantwortlichen zum Stopp der Räumung auf. Es gibt keinen Beleg dafür, dass die Kohle unter Lützerath tatsächlich kurzfristig benötigt wird.“
Für den kommenden Samstag ruft "Alle Dörfer bleiben" mit zahlreichen anderen Organisationen und Bündnissen wie der Klima-Allianz zu einer Demonstration nach Lützerath beziehungsweise in den umliegenden Dörfern auf.
RWE ist - laut Wikipedia zu 23 Prozent im Besitz von knapp 80 nordrhein-westfälischen Städten und Kreisen. Mit sieben Prozent ist der US-amerikanische Vermögensverwalter Black Rock, dessen ehemaliger Deutschland-Chef Friedrich Merz (CDU) gerade durch rassistische Ausfälle von sich reden macht, der größte Einzelaktionär.