Luther als Klimaschützer und Freiheitskämpfer?

Martin Luther, Erasmus von Rotterdam
Nachlese zum Reformationstag. Über das Wirken des Reformators und das Friedensprogramm von Erasmus von Rotterdam
In seiner Predigt zum Reformationstag 2021 in Wittenberg hat der Ratsvorsitzende der "Evangelischen Kirche in Deutschland" (EKD), Heinrich Bedford-Strohm, "Freiheit" ein "Mega-Thema unserer Zeit" genannt. In der Beschreibung, was christliche Freiheit bedeute, verweist Bedford-Strohm auf Martin Luther.
Die von Luther in seiner "reformatorischen Wende" erfahrene "innerliche und äußerliche Freiheit" habe zu einem persönlichen Neuanfang Luthers und zu einem "neuen Aufbruch" in der Kirche geführt. Was diese Freiheit ausmache, sei der "Geist der Liebe."
Luthers "Sätze" hätten zwar nicht Kirchenspaltungen verhindert, seien heute aber zentral für die Überwindung von Spaltungen. Das von Gott geschenkte bzw. von Christus erworbene und im Glauben angenommene (Ge-)Recht-Sein und die daraus resultierende Freiheit führe nicht nur zur persönlichen Befreiung, sondern befähige auch zum Dienst am Nächsten und dem Gemeinwesen.
Daraus ergäben sich Konsequenzen für die Gestaltung von Welt, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik. Schon Luther habe die "immer größer werdende Ungleichheit zwischen Arm und Reich" gebrandmarkt. Der Reformation treu zu bleiben hieße heute, sich nicht mit "der skandalösen Missachtung der Lebensinteressen von Menschen überall auf der Welt" zufriedenzugeben. Der Prediger konkretisiert das mit dem Impfstoffmangel in armen Ländern, mit den Opfern des Klimawandels und den unverhältnismäßigen Rüstungsausgaben angesichts des Hungers in der Welt.
Kritische Fragen
Auf die gesellschaftliche und politische Relevanz christlichen Glaubens hinzuweisen, halte ich für richtig (gegen diejenigen, die meinen, Kirche habe sich nicht in Politik einzumischen und solle bei ihrem "Eigenen" bleiben, nämlich "Verkündigung", Seelsorge und karitative Nothilfe).
Was ich aber kritisiere, ist die Engführung auf Luther. Die Reformationsbewegung war weiter als die Kreise, die sich um Luther sammelten. Die Reformation und damit verbundene Freiheits- und Sozialimpulse sind nicht nur auf Luther zurückzuführen. Sollte man am Reformationstag nicht auch andere Reformatoren erwähnen, die die "Reformation" geprägt haben? Die EKD umfasst ja nicht nur lutherische Kirchen.
Und noch eins: Wieder einmal wird Luther hier als "Heros", als Helfer in zeitgeschichtlichen Herausforderungen beschworen. Ist das nicht ungeschichtlich? Brauchen wir Luther, um unsere Gegenwarts- und Zukunftsfragen zu lösen? Genügt es nicht auf Vernunft, Wissen, Herz und Gewissen zu achten, um zu wissen, was heute ansteht?
Es mag ehrenwert sein, wenn der Prediger seine Zuhörer mehr emotional als rational, durch sein Amt und seine persönliche Autorität für den Klimaschutz gewinnen will (den ich auch für wichtig halte). Aber wäre es nicht besser, wenn er die Hörer dazu einlüde, sich mit diesem Thema selbst zu beschäftigen und sich ein eigenes, begründetes Urteil zu bilden? Hinter Klimakrise usw. stecken umstrittene Sachfragen. Nicht alle werden die Sicht des Predigers teilen. Darf man sie ohne Weiteres dem Hörer als "Wort Gottes" überstülpen?
Müsste man nicht auch auf Schattenseiten der Persönlichkeit des großen Reformators, auf unheilvolle Wirkungen seiner Theologie aufmerksam machen?
Autoritätsorientierung ist kein protestantisches Prinzip, im Gegenteil!
Luther, ein Heros der Freiheit?
Luthers Freiheitsverständnis ist ambivalent:
Ein Christenmensch ist zwar ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan, er ist aber auch ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.
In der Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen", 1520
Im religiösen Bereich ist der Christ frei und da soll ihn niemand bestimmen dürfen. In weltlichen Angelegenheiten ist er dem Gemeinwohl und der Obrigkeit verpflichtet. Weitergeführt wird dieser Ansatz in der Lehre von den zwei "Regimenten", der "weltlichen" Sphäre und der "geistlichen" (Luthers Schrift "Von weltlicher Obrigkeit…" 1523).
Im staatlich-politischen Raum herrscht die "Obrigkeit" mit dem "Schwert", hier gelten Gesetze und Gehorsam, müssen eventuell Zwang und Gewaltanwendung ausgeübt werden; im geistlichen Bereich wirkt die Kirche mit dem Wort Gottes und den Sakramenten; die Annahme des Wortes Gottes, Glauben, kann nicht erzwungen werden. Beide Bereiche dürfen nicht vermischt werden, aber in beiden wirkt Gott zum Wohle des Menschen.
Dieses theologisch-gesellschaftliche Konstrukt hatte zu Luthers Zeiten zunächst einen gewissen befreienden Charakter, es wies Staat und Kirche in ihre Schranken. Luthers Ansatz wurde aber bald pervertiert. Luther und seine Anhänger waren auf den Schutz der Fürsten angewiesen.
Da in den Ländern, die die lutherische Reformation durchführten, die Leitung der Kirche durch Papst und Bischöfe ausfiel, übernahmen die Landesherren diese Funktion. Als "Obrigkeit" hatten sie nach lutherischem Verständnis für Stabilität im Staatswesen zu sorgen. Religiöse Abweichungen und Streitigkeiten stören die Ordnung. Nur die Landesherren hatten die Freiheit, eine der im Reich anerkannten Konfessionen zu wählen; die Untertanen waren verpflichtet, der Konfession des Landesherrn mit ihren Dogmen und Gebräuchen zu folgen ("Augsburger Religionsfriede", 1555).
Wer sich nicht einfügte, musste auswandern; hing er einer der nicht anerkannten Konfessionen an (z.B. der Täuferbewegung), wurde er als "Ketzer" hingerichtet. Das mit dem Staat verflochtenen "Landeskirchentum" entstand.
Luthers "Zwei-Regimenten-Lehre" – sie gehört zum lutherischen Bekenntnis (Augsburger Bekenntnis, Art. 16) – führte zur Staatshörigkeit der lutherischen Kirchen und zum Obrigkeitsstaat samt der Untertanenmentalität seiner Angehörigen. Dies waren Prägungen, die auch nach der langsamen Auflösung der an die Staatszugehörigkeit gebundenen Religionsverpflichtung blieben. Erst die Verfassung der Weimarer Republik garantierte allgemeine Religionsfreiheit in ganz Deutschland.
Luther lehnte einen "freien Willen" ab. In "De servo arbitrio" (1524) vergleicht Luther den Menschen mit einem Reittier, entweder sitze "Satan" auf und bestimme seinen Willen oder Gott sei es, der leite. Freiheit, auch Freiheit zum Guten, wäre dann ein Geschenk, von sich aus könnte der Mensch darüber nicht verfügen.
Ein anderes Freiheitsverständnis - Erasmus von Rotterdam
Der Gedanke einer christlichen, durch die Liebe bestimmten Freiheit war bei Erasmus von Rotterdam besser aufgehoben. Erasmus hat selbst die Unabhängigkeit von Fürsten, herrschenden Meinungen und Parteiungen gelebt. "Ich bin ein Liebhaber der Freiheit, ich kann und will nicht einer Partei dienen", bekennt er. Auch bei Luther trat er für die Freiheit der Forschung ein.
Gegen Luther hielt Erasmus an der Wahlfreiheit des Menschen fest. ("De libero arbitrio diatribe" 1524): Vernunft, Wissen und Gewissen, Herz, Liebe, das Vorbild Jesu, Sitten und die Gnade Gottes helfen dem Menschen auf dem Weg zum Guten. So wollte er die Freiheit und Würde des Menschen als Mitarbeiter des "gütigen Gottes" wahren. Beide Festlegungen zum freien Willen – die Luthers und die des Erasmus – haben Konsequenzen für die Politik, für den Umgang der Herrschenden mit dem Bürger und dessen Selbstverständnis im politischen Raum.
Luther beansprucht die "Deutungshoheit" über Evangelium und Glaube. Er verlangt Unterwerfung für seine Heilslehre, Erasmus sucht den Dialog. Er will lieber "mit wirksamen Argumenten disputieren als schroffe Behauptungen aufstellen." (Brief an Martin Luther, 1519).
Engstirnige Rechtgläubigkeit und verbissene Glaubensstreitigkeiten waren nicht sein Ding, schwierige Frage wollte er lieber offen lassen als Streit und Mißverständnisse hervorzurufen. Vorsichtig mahnt er Luther, das Herz vor "Zorn" und "Anmaßung" zu bewahren.
Die erasmische freundlich-vornehme, offene, tolerante, selbstkritische und oft ironisch-humorvolle Haltung ("Lob der Torheit" 1509) war mit Luthers Grobianismus, Rigorismus, Sendungsbewusstsein und Glaubenseifer nicht kompatibel und so kam es zum Bruch zwischen beiden.
Allgemeine Religionsfreiheit gehörte nicht zum Programm Luthers. Das zeigte sich in seiner harschen Ablehnung der Täufer, Müntzers … Thomas Müntzer hat ungleich schärfer als Luther die "Ungleichheit zwischen Arm und Reich" gebrandmarkt.
Erasmus als Reformer
In seiner Kirchenkritik, seinem Ruf "zu den Quellen", durch die Herausgabe des Neuen Testaments in der Ursprache Griechisch (Luther benutzte diese Ausgabe) und dem Befürworten es in die Volkssprachen zu übersetzen, gehört Erasmus zu den Begründern der Reformationsbewegung.
Ich Erasmus habe das Ei gelegt und Luther hat es geöffnet.
Brief an Johannes Caesarius
In manchen Ländern, z.B. in Spanien, war Erasmus für die Bildung des Protestantismus einflussreicher als Luther.
Erasmus lag der Frieden und die Eintracht im christlichen Europa am Herzen, wofür er sich in Kontakten, Briefen und Abhandlungen einsetzte. So suchte er auf seine Weise politisch und gesellschaftlich Einfluss zu nehmen.
Als Folge der Glaubensspaltungen sah er (in einem seiner Briefe) "ein kommendes grausames und blutiges Jahrhundert" voraus - was sich dann auch in den Religionskriegen bewahrheitete. In der Frage, wie gesellschaftliche Spaltungen zu überwinden seien oder wie Menschen unterschiedlichen Glaubens zusammenleben können, ist bei Erasmus mehr zu lernen als bei Luther.
Erasmus und sein Friedensprogramm
Neben den Zeitübeln des Kirchenverfalls und des Streits der Konfessionen sah er als weiteres Hauptübel die ständigen Kriege der weltlichen und geistlichen Machthaber an. Da konnte er in seinen Analysen radikal werden, so radikal, dass er in seiner Entschiedenheit dem modernen Pazifismus nahekam.
"Ein Friede kann nicht so ungerecht sein, dass er nicht auch dem 'gerechtesten' Kriege vorzuziehen wäre", lässt er den personifizierten "Frieden" sagen ("Querela pacis"/1517 - im Jahr des Thesenanschlags Luthers erschienen! Auszug: Telepolis 26/12/2019).
Er argumentiert mit der Unvereinbarkeit der Friedensbotschaft Jesu mit dem Krieg; geht den Übeln für das Volk nach, in dessen Interesse der Krieg nicht sein kann; zeigt die Nutzlosigkeit des Revanche-Krieges auf, der weitere Revanche hervorruft; wendet sich gegen Imperialismus, der neue Konflikte hervorruft; enthüllt die beschönigenden und fadenscheinigen Rechtfertigungen des "offenkundigen Wahnsinns" der Kriege; verurteilt Kriegstreiberei und Aufrüstung.
Er blickt auch über die Grenzen Europas hinaus. Bei den nichtchristlichen Völkern wie den Türken verliert die Christenheit durch ihre Kriegssucht, Zänkereien, Veräußerlichung und Gesetzlichkeit ihrer Religion die Glaubwürdigkeit, abgesehen davon, dass es christlichen Herrschern darum geht, unter dem Zeichen des Kreuzes nichtchristliche Völker auszuplündern. "Die übrigen Völker würden sich schneller einer solchen Religion zuwenden, die mit Freiheit gepaart ist", sagt ein "Fleischer" im Dialog des "Fischessens" ("Colloquia familiaria").
Erasmus beschränkt sich aber nicht auf die Schilderungen der Kriegsübel, sondern geht auch ihren Quellen nach. Es sind "verkehrte Begierden" der Herrschenden wie Machtsucht, Privatinteressen, Prestigestreben, Raffgier, Vergeltungswillen und die damit verbundene Abwendung vom "Maßstab des Gemeinwohls". Der Gipfel "verbrecherischer Machenschaften" ist erreicht, wenn sie Kriege dazu gebrauchen, die Einigkeit des Volkes zu spalten oder seine Freiheit zu unterdrücken, um so ihre wankende Macht zu stärken und das Volk "ungenierter ausbeuten zu können".
Republikanische Gesinnung blitzt auf, wenn Erasmus dem Regenten rät, "immer eingedenk zu sein, dass er als Mensch über Menschen, als Freier über Freie, schließlich als Christ über Christen gebietet." Die Zwiste über die Thronfolge können dadurch gelöst werden, dass der Nächste in der Verwandtschaft bestimmt wird oder durch "Volksabstimmung der Geeignetste erfunden wird." Wenn schon Krieg, dann müsste ein "im allerhöchsten Grade öffentliches Interesse" vorliegen und sollte "er nur unter Zustimmung des ganzen Volkes unternommen werden".
Aber eine vorherige ehrliche Bilanz zeigt meist, dass der Preis für einen Krieg höher ist als ein noch so teuer erkaufter Frieden. Krieg wird weitere Kriege hervorrufen, Entgegenkommen zeugt Entgegenkommen.
Es ist ersichtlich, dass sich in den erasmischen Bestimmungen des Verhältnisses "Regent"/"Volk" die zukünftigen Ideen der "Volkssouveränität", eines "Gesellschaftsvertrages" und des "allgmeinen Menschenrechts auf Freiheit" abzeichnen. Auf dem Weg zu demokratischen Entwicklungen ist Erasmus, wenn er den "consensus omnium", die Zustimmung aller – gegen jeden Absolutismus – zum Prinzip der politischen Lebensordnung erhebt.
Wie wird Frieden bewahrt?
Erasmus macht Vorschläge zur Friedenswahrung. Die Ursachen des Krieges sollen abgeschnitten werden. Es sind vorwiegend innenpolitische Mängel, die ein Kriegsklima begünstigen. In einem "Fürstenspiegel" ("Institutio principis Christiani" 1515), den Erasmus für die Erziehung des jungen Karl (V.) verfasste, entwickelt er Verhaltensweisen und Aufgaben, denen ein idealer Regent bei der "Staatsverwaltung" nachkommen muss.
In erster Linie ist es die Orientierung am Gemeinwohl, dazu gehört die umfassende Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen; die Sorge um das Wohlergehen des Einzelnen; gerechte Verteilung der Güter und Behebung der Armut; karitative Zuwendungen, da wo sie angebracht sind; eine nichtausbeuterische Wirtschaft und Verwaltung; überschaubare gerechte Gesetzgebung; vernünftige und maßvolle Steuerpolitik; Schutz des Fremden; allgemeine Volksbildung … All dies ist friedensfördernd. (Sehr vieles, von dem, was Erasmus nennt, wäre auch von modernen Regierungen zu beherzigen!)
Bei Konflikten, die in Krieg münden könnten, sollte eine Art Sicherheitsrat von klugen und gereiften Beamten, Kirchenleuten und Gelehrten als Schiedsgericht fungieren. Am besten wäre es, die Fürsten Europas würden sich auf "eine Art ewigen Friedens" einigen. Erasmus legt die Verwirklichung des Friedens aber nicht nur in die Hände der "Obrigkeiten und Herren", sondern auch in die des Volkes:
Zeigt, wieviel die Einigkeit der Menge gegen die Tyrannei der Mächtigen vermag!
In dieser Aussage ist ein Widerstandsrecht des Volkes gegen den tyrannischen Staat enthalten. Im äußersten Notfall konzediert auch der frühe Luther ein Recht zum Widerstand, dann wenn ein tyrannischer Herrscher in das "geistliche Regiment" massiv eingreift; der "Ungehorsam" darf aber nur passiv, nicht gewaltsam sein. ("Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei" 1523.)
Die geschichtliche Entwicklung der Jahrhunderte nach Erasmus ist über die Vorstellung eines vertraglich und rechtlich gesicherten "ewigen Friedens" zwischen einem Bund republikanisch verfasster Völker hinweggegangen. (Republikanisch heißt, dass Bürger repräsentativ an Regierungsgeschäften und -entscheidungen beteiligt sind, eine Forderung, die bei Erasmus angelegt ist.)
Die Idee ist aber nicht untergegangen. Kant hat sie in seiner folgenreichen Schrift "Zum ewigen Frieden" (1795) wieder aufgenommen und ausgeführt. (Kant bestimmt "republikanisch" wie eben angegeben. Ein dauerhafter Friede lässt sich nach seiner Ansicht nur durch Staaten mit republikanischer Verfassung gewährleisten. Hier müssen alle einem Krieg zustimmen und alle die Nachteile selbst tragen, was - so meint der Rationalist Kant - nicht ohne sorgfältiges Bedenken geschehen werde. Dies sei bei einem autokratischen Staatslenker, der einen Krieg "wie eine Art von Lustpartie aus unbedeutenden Ursachen" beschließt, nicht der Fall.)
Auch im beginnenden Nationalismus seiner Zeit sieht Erasmus Gefahren für den Frieden. Allein aufgrund der Nationalzugehörigkeit hassen die Angehörigen eines Landes diejenigen eines anderen, statt auf Gemeinsamkeiten zu achten und sich als Menschen "wohlzuwollen".
Manches bei Erasmus ist visionär und utopisch. Dennoch zeigt er sich in gesellschaftspolitischen Fragen und vor allem in der Beurteilung des Krieges realistischer, zukunftsweisender und lösungsorientierter als Luther. Der Wittenberger geht davon aus, dass der Krieg die Aufgabe habe, "die Bösen [Türken, Bauern …] zu bestrafen, die Gerechten zu beschützen und den Frieden zu bewahren." ("Ob Kriegsleute im seligen Stande sein können") Krieg ist nur im Notfall, als Verteidigungskrieg erlaubt, aber dann ist er "von Gott eingesetzt" und "hauen, stechen, brennen, töten" ist ein "göttliches Amt". Wie naiv und inhuman ist das!
Wann sind Situationen reiner Angriffs- oder Verteidigungskriege gegeben? Wer will das entscheiden? Fast immer sehen beteiligte Parteien ihren Krieg als berechtigt an, geben vor, angegriffen zu sein und sich im Verteidigungsfalle zu befinden! Angriffs- oder Verteidigungskriege bringen beide furchtbares Leid und immense Schäden mit sich, früher schon und erst recht bei "moderner" Kriegführung.
Die Instrumentalsierung der Person und Lehre Luthers im Ersten Weltkrieg
Zu Beginn des 1. Weltkrieges sprach man von "Deutschlands reine[r] Sache in dem ihm aufgezwungenen schweren Daseinskampfe" (Manifest "Aufruf an die Kulturwelt", unterzeichnet von 93 Gelehrten, Künstlern und Schriftstellern, darunter auch bekannte Theologen).
Realitäten, z.B. den völkerrechtswidrigen Überfall auf Belgien mit seinen Übergriffen, leugneten die Manifestoren. Man zog "Mit Gott für König und Vaterland" in einen "heiligen" Krieg, auch unter Berufung auf den deutschen "Kämpfer" und "Helden" Luther.
Luther sollte dem "deutschen Schwert" zum Siege verhelfen. Der Übermacht der Feinde wollte man im "Luthertrotz" standhalten. Die "Bösen" waren Franzosen, Russen, Engländer, Serben - versteht sich, dass auch sie sich in einem Verteidigungskrieg sahen. Das deutsche Volk - hieß es - sei ein von Gott auserwähltes Volk, das nun im Krieg seine Sendung, das Strafgericht an den missratenen Völkern, erfülle. "Wenn Russland Gott ruft, so ist das Gotteslästerung. Wir können es tun", so Friedrich Lahusen, Generalsuperintendent von Berlin, 1914.
Es ist eine traurige Tatsache, dass die meisten lutherischen Pfarrer und Theologen, aber auch katholische, sich der nationalen Kriegsbegeisterung anschlossen - gerade den Theologen hatte Erasmus auferlegt, das "Evangeliums des Friedens" laut zu verkündigen.
Der Schweizer Pfarrer Karl Barth sprach von einem "hoffnungslosen Durcheinander" aus "Vaterlandsliebe, Kriegslust und christlichem Glauben". Barth wandte sich dagegen, Gott in den Kanonendonner hineinzuziehen und sprach den Deutschen das Recht ab, als "Mandatare" Gottes "mit gutem Gewissen schießen und brennen" zu dürfen.
Anstelle des Evangeliums werde "eine germanische Kampfreligion in Kraft gesetzt, christlich verbrämt …" (Brief an Marin Rade, 1914). Bezeichnenderweise kam er aus der reformierten, nicht der lutherischen Tradition. (Später hat Barth als Bonner Theologieprofessor zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft die theologischen Grundlagen für die "Bekennende Kirche" gelegt. Sie wandte sich gegen die völkischen "Deutschen Christen".)
Schon längst vor dem Kriegsausbruch war man mit der "Zwei-Reiche-Lehre" religiös gerüstet, um im angeblichen "Verteidigungskrieg" die Bevölkerung in der Heimat und die Soldaten an der Front im Namen Gottes auf den "gerechten" Krieg einzuschwören. Es entstand ein wahrscheinlich neuer Verkündigungstyp: "Kriegspredigten", mit denen man das Kriegsgeschehen begleitete.
Angesichts militärischen Misserfolge versuchten Prediger die sinkende Siegeszuversicht durch Appell an die "Macht des Glaubens" (Otto Dibelius, Oktober 1918!) aufrechtzuerhalten – realitätsblind. Theologisch begründetes Widerstandspotential war in der Tradition des Bündnisses von "Thron und Altar" und im Zuge der Anpassung an den deutschen Nationalismus längst verloren gegangen.
Und nach dem Krieg hieß es:
Das musste so kommen, weil Deutschland nicht wollte, wie Gott will.
Dr. theol. Wilhelm Philipps, Berliner Superintendent, Mitbegründer der Deutschnationalen Volkspartei
Auch die "Dolchstoßlegende" wurde von deutschnationalen Vertretern des Protestantismus theologisch unterfüttert. Da war es dann nicht weit zur Erklärung der Thüringer "Deutschen Christen" Siegfried Leffler und Julius Leutheusser: auf den Weltkrieg, dem "Golgatha des Deutschen Reiches", folge mit Hitler "Deutschlands Auferstehung".
Welch abenteuerliche "Theologie", weit entfernt von den Grundlagen des christlichen Glaubens, zu denen Luther gerufen hatte! Kritisch-theologisches Nachdenken, wie es Karl Barth praktizierte, wurde durch eilfertige und distanzlose Anpassung an den Zeitgeist und Auslieferung an die Interessen des herrschenden politischen, militärischen und wirtschaftlichen Machtkomplexes ersetzt. Theologie wurde zu politischer Propaganda degradiert.
Unkritisches Luthergedenken, Theologie nach dem Zeitgeschmack, aktuellen Stimmungslagen, subjektiven Einstellungen, mit Ausrichtung auf die gerade herrschende Machtelite? Unter manchen Umständen mag es angebracht sein, auf aktuelle Herausforderungen und Strömungen einzugehen oder Bündnisse zu schließen.
Dabei kann es auch erhellend sein, auf herausragende Persönlichkeiten Bezug zu nehmen. Doch ohne kritische Prüfung und Auseinandersetzung sollte das nicht geschehen. Sonst wird dem Missbrauch der Religion, des Christlichen, der Theologie durch Auslieferung an fremde Interessen Tür und Tor geöffnet.
Theologie ist nicht mit subjektiven Glaubenseinstellungen und ihrer missionarischen Verbreitung in eins zusetzen - das sei hier einmal gesagt. Sie ist rationale Reflexion über Religion, über Glaubensüberzeugungen und ihre Wirkungen, mit den Methoden der Philologie, der historischen Forschung, des philosophischen Denkens, der Soziologie, Psychologie … Zurückhaltung, Prüfung, Auseinandersetzung mit Traditionen, Zeitgenossen und Zeitgeist, Dialog mit Vertretern des eigenen Faches und anderer Wissenschaften sind erforderlich, um zu begründeten, tragfähigen theologischen Erkenntnissen und Urteilen zu kommen.
Leistet Theologie dies, dann kann daraus auch das angemessene Wort zur richtigen Zeit entstehen, im Wagnis einer persönlich-engagierten Aussage Einzelner oder in der gemeinsamen Stellungnahme eines Gremiums.