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Machtkampf im Iran: Warum Proteste noch keine Revolution sind

Studierende der Amir Kabir Universität protestieren gegen Hijab und die Islamische Republik im September 2022. Bild: Darafsh / CC BY-SA 4.0

"Nieder mit der Diktatur", skandieren die Protestierenden. Doch die Führung im Iran wird weiter loyal unterstützt von Militär und religiösen Bevölkerungsschichten. Riskieren die Proteste einen Bürgerkrieg und regionale Destabilisierung?

Handelt es sich bei den politischen Ereignissen tatsächlich um eine Revolution, wie weit und breit angenommen wird? Im wissenschaftlichen Sinne des Wortes kann m. E. noch lange nicht von revolutionären Bewegungen die Rede sein. Es handelt sich bislang um eine Protestbewegung, die sich als nachhaltig erwiesen hat und Merkmale aufweist, die ganz sicher zu einer Veränderung der Machtverhältnisse in der islamischen Republik beitragen könnte.

Unter dem Slogan von Zan Sendegi Azadi (Frau, Leben, Freiheit) gibt es eine breite Einigkeit über die Abschaffung des Schleierzwangs und die Unterlassung der tagtäglichen Menschenrechtsverletzungen durch die Bassiji Miliz des Regimes. Einig sind sich auch alle mit dem Slogan "Nieder mit der Diktatur" über die Abschaffung der Diktatur in der islamischen Republik.

Diesen Protestbewegungen haben sich auch vereinzelte, unsystematische Streiks in verschiedenen Branchen und Landesteilen angeschlossen. Völlig unklar ist bisher jedoch, wie der Prozess von einer reinen Protestbewegung auf ein höheres Niveau der machtpolitischen Herausforderung der theokratischen Herrschaft ablaufen sollte.

Eine Protestgruppe im Iran, die sich "Straßenanführer" nennt, charakterisierte die Bewegung als eine von dezentral und bewusst unsystematisch agierenden Menschen, die sich alle als Leader verstehen und deshalb keine Führung benötigen. Sie werden insbesondere nicht angeleitet von im Iran beheimateten oder außerhalb Irans seit Jahrzehnten bestehenden politischen Gruppierungen, die vor sich hin dümpeln und über keine Massenbasis im Iran verfügen.

Das liegt daran, dass sie sich entweder in Abhängigkeit von den USA begeben haben oder nicht in der Lage waren, die Führung der islamischen Republik und deren Machtbasis politisch mit einer vom Volk mitgetragenen Alternative zu konfrontieren.

Ferner erwägt oder suggeriert diese Gruppierung eine nationale Armee, die angeblich im Begriffe ist zu entstehen. Spätestens an dieser Stelle zeigt sich m. E. die Naivität dieser Gruppe und vielleicht auch der Bewegung als Ganzes. Die Idee einer bewaffneten Machtergreifung durch eine eigene Armee mag angesichts des Erfolges der Revolutionsgarden während und nach der islamischen Revolution verlockend sein. Sie ignoriert jedoch die historischen Hintergründe der beiden Prozesse.

Das monarchistische Pahlawi Regime stützte sich hauptsächlich auf eine sehr starke Armee, die allerdings aus Soldaten bestand, die keinerlei Veranlassung hatten, das Regime zu schützen und dafür ihr Leben zu opfern.

USA, Israel könnten Umsturz instrumentalisieren

Ganz im Gegenteil hatte sich sehr bald das Heer der Soldaten der antimonarchistischen Volksbewegung angeschlossen. Heute ist umgekehrt eine mindestens millionenstarke religiöse Zivilbevölkerung, die auch materiell die Hauptprofiteure der islamischen Republik sind, jederzeit bereit, mit der Waffe in der Hand ihr Leben zu opfern und den Sturz des Systems zu verhindern.

Unter Berücksichtigung dieser Realität riskieren die "Straßenanführer", ob es ihnen bewusst ist oder nicht, nichts weniger als einen Bürgerkrieg, den das militärische mächtige Regime allemal gewinnen und das Überleben ihres Systems sogar auf weitere Jahrzehnte festigen könnte.

Die despotisch herrschende Theokratie der Islamischen Republik ist nicht mehr reformierbar, sie verkörpert eine grassierende Korruption, tiefgreifende Inflation, Macht- und Einkommensungleichheit, eine – wie ich sie beschreiben würde – merkantilistische, d.h. auf einem ausbeuterischen Bündnis fußenden Ökonomie zwischen Großhändlern und Theokratie.

Diese Großhändler sind auf Importe von Fertigprodukten und Exporte von Rohstoffen ausgerichtet und blockieren die Möglichkeit einer umfassender Industrialisierung und Binnenmarktentwicklung. Die Herrschenden der islamischen Republik haben allein wegen ihres dysfunktionalen Managements von Wirtschaft und Verwaltung bei dem überwiegenden Teil der Bevölkerung längst keine Legitimität mehr. Ihnen geht es inzwischen nur noch um die eigene Fortexistenz, sei es auch mit nackter Gewalt.

Andererseits ist ein Sturz der iranischen Führung – wenn er überhaupt so ohne weiteres möglich wäre – mit der Gefahr verbunden, dass die USA, Israel und deren arabische Verbündete ihn instrumentalisieren, um den Mittleren Ostens zu destabilisieren oder gar das Land territorial aufzulösen oder in mehrere Teile zu spalten.

Immerhin hat die Islamische Republik zweifelsohne zur relativen Stabilität des Mittleren Ostens beigetragen, den islamischen Staat zurückgedrängt sowie verhindert, dass Syrien das Schicksal Libyens ereilen wird und Irak in mehrere Teile zerfällt. Jedwede interne Veränderung müsste daher der Tatsache der regional stabilisierenden Funktion des Irans Rechnung tragen. Der Iran ist unbestritten das geopolitisch wichtigste Land im Mittleren Osten.


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