Macrons Machtspiel: Wann kommt die neue Regierung?
Seit mehr als 40 Tagen wartet Frankreich. Die politische Unsicherheit nimmt zu. Das Hinhalte- Spiel könnte gefährlich werden.
Macron wollte erst einmal die Olympischen Spiele abwarten, bevor er sich um die Ernennung eines neuen Premierministers oder einer neuen Premierministerin machen wollte. Man war gespannt.
Vor einer Woche begann er eine Reihe von "Konsultationen" mit den Parteiführern der verschiedenen im Parlament vertretenen politischen Kräfte. Er eröffnete sie mit den Führern des Linksbündnisses Nouveau Front populaire NFP – "Neue Front der kleinen Leute" –, das sich im Juni vor den Parlamentswahlen in Anlehnung an die historische antifaschistische Linkskoalition von 1936 gebildet hatte.
Am selben Tag, dem 23. August, empfing er nachmittags auch Vertreter der ebenfalls heterogenen Unterstützungskoalition des eigenen Präsidentenlagers wie Gabriel Attal, Edouard Philippe und François Bayrou, die liberal-konservativen Parteien unterschiedlicher Couleur angehören: Renaissance, Horizons und MoDem. Am Montag dieser Woche gab er einen Empfang für Marine Le Pen und Jordan Bardella vom rechtsextremen Rassemblement National (RN).
Keinen ausreichend tragfähigen Konsens gefunden
Doch am Abend erklärte er, keinen ausreichend tragfähigen Konsens gefunden zu haben, und startete einfach eine neue Runde von Konsultationen.
Mit der Ernennung einer neuen Regierung wird es in dieser Woche also wohl nichts mehr, denn nicht nur eröffnete Macron am Mittwoch die bis zum 8. September dauernden Jeux paralympiques, die nach dem Erfolg der Olympischen Spiele nun auch auf öffentliche Aufmerksamkeit hoffen dürfen.
Derzeit ist Macron auch noch auf Staatsbesuch in Serbien, an dessen Ende, wie es sich für einen ordentlichen Präsidentenbesuch gehört, der Verkauf französischer Kampfflugzeuge besiegelt wird. Essig also mit der Regierungsbildung.
Dabei ging es zunächst unmittelbar um die seit Wochen in der Schwebe hängende Frage der Ernennung eines neuen Premierministers oder einer neuen Premierministerin. Diese hatte Macron bereits seit dem Ausgang der Parlamentswahlen vom 30. Juni immer wieder auf den 7. Juli verschoben, die alte Regierung aber im Amt belassen.
"Rücktrittsregierung" seit 40 Tagen im Amt
Das seit Januar dieses Jahres amtierende Kabinett des jungen Premierministers Gabriel Attat hatte nach den für das Präsidentenlager in Gestalt des Mehrparteienbündnisses Ensemble verlorenen Parlamentswahlen (vom 30.06. und 07.07.24) am 16. Juli dieses Jahres offiziell seinen Rücktritt eingereicht.
Seitdem amtiert er nur noch geschäftsführend, allerdings schon seit Wochen, was auch zu der kuriosen Situation führte, dass – geschäftsführend amtierende – Regierungsmitglieder als Abgeordnete auf den Parlamentsbänken saßen, als z.B. zwischen dem 18. und 20. Juli in der Nationalversammlung über die Besetzung der Posten der Parlamentspräsidentin und der Vizepräsidenten abgestimmt wurde.
Vor allem aber schafft die zu Wochenbeginn seit vierzig Tagen im Amt befindliche Rücktrittsregierung – ein absoluter historischer Rekord in den Annalen der Fünften Republik und darüber hinaus – derweil Fakten.
Staatshaushalt mit drastischen Kürzungen
So legte Attal in der vorletzten Augustwoche einen Budgetentwurf für den bis zum 1. Oktober zu verabschiedenden Staatshaushalt vor, der ein konstantes Ausgabenniveau bis 2025 vorsieht, also Ausgaben einfriert, aber auch keine Steuererhöhungen vorsieht.
Unter Berücksichtigung der Inflationsrate bedeutet dies jedoch in vielen Bereichen eine Ausgabenkürzung. Inzwischen hat sich allerdings herausgestellt, dass Attals Entwurf im Bereich des Arbeitsministeriums in Wirklichkeit sogar Kürzungen in Höhe von drei Milliarden Euro vorsieht.
Akute Probleme im Gesundheitssektor
Dieser Kurs trifft vor allem den Gesundheitssektor, der ohnehin mit akuten Problemen zu kämpfen hat. So hat es in den letzten Tagen breite Empörung ausgelöst, dass in der Notaufnahme des Krankenhauses von Nantes offensichtlich vier Menschen gestorben sind, weil sie wegen Personalmangels zu spät behandelt wurden.
Gleichzeitig wurde bekannt, dass Mitarbeiter des Krankenhauses von Brest eine "Wand der Schande" errichtet hatten, d.h. durch Aufschriften auf einer Pinnwand öffentlich gemacht hatten, wie viele Menschen mehrere Dutzend Stunden auf eine Behandlung in der Notaufnahme warten mussten.
Mehr als zehn Stunden Wartezeit
Nach Angaben des Gewerkschaftsdachverbandes CGT warteten zwischen dem 10. Juli und dem 20. August in diesem Krankenhaus insgesamt 130 meist ältere Menschen mehr als zehn Stunden, davon etwa 40 mehr als zwanzig Stunden, auf Liegen auf eine medizinische Behandlung.
Die Probleme werden derzeit noch dadurch verschärft, dass aufgrund einer kürzlich erfolgten Änderung der Prüfungsordnung im Medizinstudium viele Ärztinnen und Ärzte in der Ausbildung ein Jahr warten, bevor sie eine Stelle im Krankenhaus antreten, um zu diesem Zeitpunkt kein schlechtes Prüfungsergebnis zu erzielen. 1.500 Arztstellen im öffentlichen Krankenhausdienst sind daher derzeit unbesetzt.
In einem solchen Kontext haushaltspolitische Weichenstellungen vorzunehmen, ist also kein technisches "Tagesproblem", das "geschäftsführend" mit einer ministeriellen Unterschrift erledigt werden könnte.
Das Linksbündnis fordert daher, dass in sensiblen Bereichen wie Gesundheit und Bildung endlich eine handlungsfähige Regierung mit Richtlinienkompetenz geschaffen wird. Gleichzeitig will sie die Staatsausgaben und die Steuern für hohe Einkommen und Vermögen erhöhen.
Das Problem mit dem Linksbündnis
Doch genau hier liegt der Knackpunkt. Denn die politischen Kräfte, die gegen das Linksbündnis stehen, stören sich, wie in den letzten Tagen erstmals unmissverständlich zum Ausdruck kam, vor allem an dessen Programm.
Das Wahlprogramm, auf das sich die wichtigsten Linksparteien vom 11. bis 14. Juni, also in den Tagen nach der Parlamentsauflösung vom 9. Juni, geeinigt haben, fordert einige Sofortmaßnahmen wie die Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns um vierzehn Prozent auf 1.600 Euro netto monatlich – , die Rücknahme der Rentenreform 2023 sowie die Entschärfung des Ausländergesetzes.
Die Kandidatin
Gleichzeitig hatten sich die Linksparteien am 23. Juli, wenn auch mühsam, auf eine gemeinsame Kandidatin für das Amt des künftigen Premierministers geeinigt: die Pariser Stadträtin und Finanzexpertin Lucie Castets.
Diese trat am gestrigen Donnerstag von ihrem Posten in der Pariser Stadtverwaltung zurück, um für das Amt der Premierministerin zur Verfügung zu stehen.
Zunächst beriefen sich die anderen Parteien auf die NPF-Komponente La France insoumise (LFI, "Das unbeugsame Frankreich"), also die linkspopulistische Wahlplattform von Jean-Luc Mélenchon, sei es wegen dieser Äußerung, sei es wegen der Führungsmethode Mélenchons – dessen in der Tat oft undemokratischer Führungsstil führte zum Rücktritt mehrerer LFI-Größen wie François Ruffin, die "Dissidenten" sitzen nun in der Grünen-Fraktion. Auch die bürgerlichen Parteien beriefen sich auf einen angeblichen Extremismus der LFI.
"Hetzkampagne"
Neben der inhaltlich zum Teil berechtigten Kritik an zu einseitigen oder die Probleme mit der Hamas ausblendenden Äußerungen zum Israel-Palästina-Konflikt, um es verkürzt auszudrücken – die Problematik kann an dieser Stelle nicht in der gebotenen Komplexität behandelt werden –, kommt seit Längerem eine nicht zu leugnende Hetzkampagne hinzu.
In Frankreich war dies aufgrund des historischen Gewichts der KP nach 1944 jahrzehntelang undenkbar, setzt sich aber seit Macrons Amtsantritt zunehmend durch.
Dabei hat die ursprünglich berechtigte Kritik an manchen außenpolitischen Projektionen von Teilen der Linken auf die Nahostregion längst den Boden rationaler Diskussion verlassen.
So behauptete der liberale Jetset-Philosoph Raphaël Enthoven kurz vor den Parlamentswahlen, der LFI-"Koordinator" (also Parteichef) Manuel Bompard bekenne sich mit einem roten Dreieck am Revers angeblich zu Anschlagszielen der Hamas.
Zwar verwendet die palästinensische islamistische Bewegung tatsächlich rote Dreiecke zur Feindmarkierung, aber viel weiter konnte ein vermeintlicher Intellektueller an der Realität nicht vorbeigehen.
Nicht nur, dass es höchst unwahrscheinlich erscheint, dass Bompard beispielsweise sich selbst als Anschlagsziel markierte, vor allem hat der rote Winkel eine lange Geschichte in der antifaschistischen und gewerkschaftlichen Linken.
Nach dem Ersten Weltkrieg war ein gleichschenkliges rotes Dreieck ein Symbol für die Unterstützung der Forderung nach dem Achtstundentag – also acht Stunden Schlaf, acht Stunden Arbeit und acht Stunden Freizeit pro Tag –, später wurde der rote Winkel zum Zeichen der politischen Häftlinge aus der Arbeiterbewegung in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern.
Bompard trug einfach (im Kontext der Parlamentswahlen, bei denen 27 von 29 Umfragen zunächst einen Wahlsieg der extremen Rechten vorhersagten) ein Antifa-Abzeichen, was bis dahin auch niemand missverstanden hatte.
Doch heute kennt die hetzerische Agitation gegen das fundamentale Erbe der Linken keine Grenzen mehr, wenn es darum geht, der extremen Rechten im Namen ihrer "Normalisierung" einen moralischen Persilschein auszustellen.
Mélenchon: "Hindernis beseitigt"
Doch am vergangenen Wochenende erklärten erst Mélenchon selbst und dann die anderen Mitgliedsparteien des Nouveau front populaire, dass dieses Hindernis in Form einer möglichen Regierungsbeteiligung der LFI nun ohnehin beseitigt sei:
Der LFI-Chef machte den Weg frei für die Bildung einer Linksregierung ohne Beteiligung der eigenen Partei an den Ministerposten, also mit einem parlamentarischen Tolerierungsmodell.
Der Vorsitzende der Parti Socialiste (PS), Olivier Faure, erklärte dazu am Sonntag, der Vorwand, der NFP wegen des angeblichen Extremismus der LFI den Eintritt in die Regierung zu verweigern, "existiere nun nicht mehr".
"Frankreichs Attraktivität für Investoren"
Doch Eric Ciotti von der zerstrittenen konservativen Partei Les Républicains (LR), die Fraktions- und Parteichefs der RN – Le Pen und Bardella – sowie Mitglieder des Macron-Lagers erklärten unisono, man wolle auch ohne Beteiligung der LFI keine Linksregierung, deren Programm man grundsätzlich ablehne.
Und bereits Mitte vergangener Woche nannte die ehemalige Regierungssprecherin Maud Bregeon in einer TV-Talkshow vor allem Steuererhöhungen als Problem, "die Frankreichs Attraktivität für Investoren verringern".
Dass der NFP für die Verabschiedung seines Programms im Parlament keine Mehrheit der Sitze haben würde, da die Linksallianz ebenso wenig wie alle anderen über eine absolute Mehrheit der Sitze verfügt, war den Verantwortlichen klar.
Sie wollten aber die anderen politischen Kräfte vor die Wahl stellen, entweder populäre Programmforderungen wie die Erhöhung des Mindestlohns zu akzeptieren oder vor der Öffentlichkeit die Verantwortung für deren Ablehnung zu übernehmen.
Macron will eine eigene Koalition schmieden
Macron wird nun versuchen, aus seinem Lager und der konservativen Opposition in Gestalt der LR eine alternative Koalition zu schmieden. Diese wird jedoch ebenso wie das Linksbündnis nicht über eine eigene Mehrheit der Sitze verfügen.
Am Montagabend erklärte Macron, die NFP mit der Regierungsbildung zu beauftragen, komme nicht in Frage: Die anderen seien alle dagegen. Olivier Faure kündigte am Dienstagmorgen an, die PS werde nicht an den neuen Beratungen mit Macron teilnehmen, die er als "Farce" bezeichnete; im Laufe des Tages folgten ihm alle Mitgliedsparteien des Nouveau Front Populaire. Diese blieben somit den neuen Konsultationen im Elyséepalast zur Regierungsbildung fern.
Aufruf zu Massenprotesten
Die Wahlplattform LFI rief unterdessen für kommenden Samstag, den 7. September, zu Massenprotesten gegen Macrons Gebaren auf.
Vorausgegangen war ein Aufruf der Studierenden- und Schülergewerkschaften (Union étudiante und Union syndicale lycéenne) zu Protesten an diesem Datum.
Doch die Gewerkschaften der abhängig Beschäftigten halten sich bislang bedeckt oder lehnen eine Beteiligung an den Protesten ab; die CGT, in deren Pariser Sektion am Donnerstag eine heftige Debatte stattfand, beruft sich auf die Unabhängigkeit von Gewerkschaften und Politik.
Dabei hatte der Gewerkschaftsdachverband CGT im Juni und Juli ebenso wie die traditionsreiche Liga für Menschenrechte (LDH) oder die Nichtregierungsorganisation ATTAC unmissverständlich zur Wahl des Linksbündnisses aufgerufen.
Vom Erfolg oder Misserfolg der ersten Protestmobilisierungen könnte die Stärke oder Schwäche der nächsten Regierung abhängen.