Maryam H.: Femizid oder Ehrenmord?

Seite 3: Die "Ehre" der Familie als Kernstück der Scharia

Die "Ehre" des Mannes liegt zwischen den Beinen der Frau, ist eine häufige Erklärung für das Phänomen "Ehrenmord". Oder anders ausgedrückt: Knackpunkt ist die sexuelle Selbstbestimmung, die vor allem Frauen, aber auch Homosexuellen, nicht zugestanden und deren Inanspruchnahme nicht selten mit dem Tod geahndet wird.

Ehrenmorde finden statt in zutiefst patriarchal strukturierten, häufig religiös determinierten Gesellschaften, in denen nicht individuelle Lebensentwürfe , sondern die strengen Regeln des Kollektivs, der Familie, der Sippe, des Clans, der Community, des jeweiligen Landes, oder des Herkunftslandes gelten, gegen die nicht verstoßen werden darf. Diese Strukturen sind nicht nur - aber vor allem - in der islamischen Welt zu finden. Jedoch auch nicht unisono in der gesamten islamischen Welt, wie Fabian Goldmann in seinem Artikel "Tödliche Ehre: Wenn Männer Frauen ermorden" richtig beschreibt.

In den meisten islamischen Ländern ersetzt die Scharia ein weltliches Justizwesen, so auch in Afghanistan. Die Scharia ist ein umfassende Normen-, Werte- und Rechtssystem, dessen Kernstück das Familienrecht ist, mit dem Frauen entrechtet und stark reglementiert werden. Unter dem Stichwort "Ehre" wird Recht privatisiert, Männer werden zum Richter - und im Zweifelsfall auch zum Henker - aller Frauen und Mädchen, aber auch aller Jungen und Männer, die sich dem Diktat der Scharia nicht unterwerfen. Männer MÜSSEN die "Ehre" der Familie beschützen.

Diese liegt häufig zwischen den Beinen der Frauen und Mädchen. Verletzen diese die "Ehre" der Familie, bleibt den männlichen Mitgliedern nichts anderes übrig, als die "Familienehre" wieder herzustellen.

Das wird von ihnen erwartet, sonst fällt die gesamte Familie in der Community in Ungnade. Im schlimmsten Falle durch den Mord an der Person, die meistens weiblich ist, die die "Familienehre" beschmutzt hat. In aller Regel obliegt die Durchführung des Mordes dem jüngsten männlichen Mitglied der Familie. So werden diese schon in jungen Jahren auf Gedeih und Verderb - und nicht selten buchstäblich mit einer Leiche im Keller - in die Community eingebunden. Dort haben sie sich dadurch zwar Ansehen verschafft, aber sie können nicht mehr ausbrechen.

Sonst droht ihnen dasselbe Schicksal wie vorher ihrem Opfer. So werden Ehrenmorde zur tragenden Säule des Familienrechts, das wiederum eine der tragenden Säulen der Scharia ist. Nun mögen einige einwenden, dieses Phänomen gibt es nicht nur in islamischen Ländern oder Communities. Das stimmt.

Nur ist diese Region der Welt seit 1.400 Jahren vom Islam geprägt. Religionen fallen - entgegen der sie umgebenden Saga - nicht vom Himmel, sondern sind Produkt einer kulturellen Entwicklung sowie bestimmter - patriarchaler - Traditionen und beeinflussen ihrerseits Kultur und Traditionen. Das bedeutet, die kulturelle Prägung überträgt sich auch auf nicht-islamische Communities, sofern diese nicht von alters her gleichermaßen patriarchal geprägt sind.

Religionen sind Herrschaftsinstrumente, insbesondere der Herrschaft der Männer über Frauen. Das haben wir hierzulande etwas aus den Augen verloren, weil wir den Einfluss der Kirchen halbwegs eindämmen konnten. Aber es ist noch gar nicht so lange her, da war Jungfräulichkeit ein Wert an sich, Sex vor der Ehe - für Frauen - verpönt, das weiße Kleid und der Schleier stehen immer noch für die "Reinheit" der Braut, auch wenn das im Jahre 2021 reichlich albern klingt.

Das Christentum beruht auf dem Mythos der unbefleckten Empfängnis, der Gebärneid ist mit dem "Sündenfall" in der "Genesis" verankert, auch heutzutage werden Mädchen oft stärker reglementiert und kontrolliert als ihre Brüder, ein Mann mit wechselnden Sexualpartnerinnen oder mehreren gleichzeitig "sammelt Erfahrungen", eine promiskuitive Frau gilt als "Flittchen", Frauen haben sittsam zu warten, bis ein Mann sie anspricht, Debatten um "Ehe für alle" oder den Paragraphen 218 sind christlich geprägt, das Verhütungsverbot der katholischen Kirche sorgt in weiten Teilen der Welt für viel Elend und kostet auch Menschenleben. Die sexuelle Ausbeutung Untergebener innerhalb kirchlicher Strukturen durch Würdenträger wurde von der Autorin dieses Textes in diesem Medium mehrfach thematisiert.

Scharia auch in Deutschland

Nun ist Afghanistan Afghanistan und Deutschland ist Deutschland, werden viele denken. Hier gilt die Scharia nicht. Formal ist das richtig, doch sie existiert in den Köpfen von Männern wie den Brüdern von Maryam H., sie bestimmt ihr Denken und ihr Handeln. Und dieses beschränkt sich nicht nur auf ihre Familie, ihre Communities, sondern auch auf die hiesige Gesellschaft, vor allem auf die Frauen.

Unabhängig von klassischen Ehrenmorden treten afghanische Männer immer wieder im Zusammenhang mit schweren Gewaltverbrechen in Erscheinung. Der Mörder der 2016 in Freiburg ermordeten Maria L. war ein Asylsuchender aus Afghanistan, ebenso der Mörder der 2017 in Kandel ermordeten Mia sowie der Mörder der 2018 in Flensburg ermordeten Mireille B.

Der Mord an Maryam H. ist zwar speziell, aber kein Einzelfall, auch das muss bei der Bewertung der Tat mit bedacht werden. Und vor allem bei der Antwort auf die Frage, wie diese Männer integriert werden können. Auch die ist sehr einfach: Gar nicht. Menschen, die tief in diesem frühmittelalterlichen Denken verhaftet sind, sind mit einer modernen westlichen Gesellschaft nicht kompatibel. Deshalb sollten wir es tunlichst vermeiden, immer mehr junge, kräftige, gewaltaffine Männer mit vormodernen Anschauungen aufzunehmen.

Luftbrücke für Frauen

Zumal es der Bundeszentrale für politische Bildung zufolge allein in der Altersgruppe 20 bis 29 einen Überschuss von etwa 421.000 Männern gibt (Stand 31.12.2018). Insgesamt gibt es bei den unter 60-Jährigen mehr als 1,2 Mio. mehr Männer als Frauen. Starker Männerüberschuss wirkt sich nicht positiv auf eine Gesellschaft aus, insbesondere nicht für Frauen. Gerade junge Männer - häufig ohne jede Perspektive - sind generell ein großes gesellschaftliches Problem, das sich auch in Kriminalität niederschlägt - in Gewalt gegen Frauen zumal.

Wir können es ja mal mit den Schwestern versuchen, den Frauen beispielsweise, die in den vergangenen Jahren aktiv für Frauenrechte in Afghanistan gestritten haben sowie die Mädchen und Frauen, die sie betreut und beschützt haben. Für sie alle sollte unverzüglich eine Luftbrücke eingerichtet werden. Diese Verantwortung erwächst nicht nur aus dem Asylrecht, sondern aus 20 Jahren letztlich sinnlosem Krieg, der - so zumindest die damalige offizielle Begründung - einst begonnen wurde, die Rechte von Frauen zu erstreiten.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.