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Massaker von Babyn Jar: "Größter Gewaltexzess in der modernen Menschheitsgeschichte"

Denkmal für die ermordeten Juden von Babyn Jar. Bild: Olga Loboda 0806 / CC-BY-SA-4.0

Heute vor 80 Jahren begann das größte Einzelmassaker in der Geschichte des Holocaust. Ein häufig übersehenes, ignoriertes, in seiner Dimension unbekanntes Verbrechen

Alle Juden der Stadt Kiew und Umgebung müssen sich am Montag, dem 29. September 1941, um acht Uhr morgens an der Ecke Melnikowskaja und Dochturowskaja (neben dem Friedhof) einfinden. Ausweise, Geld und Wertsachen sind mitzubringen, ebenso warme Kleidung, Unterwäsche usw.

Jeder Jude, der dieser Anordnung zuwiderhandelt und an anderem Ort angetroffen wird, wird erschossen.

Jeder Bürger, der in eine von Juden verlassene Wohnung eindringt und sich Sachen aneignet, wird erschossen.

Dieser Aufruf, der überall in Kiew zu lesen war, leitet das Massaker von Babyn Jar ein, das sich heute zum 80-ten Male jährt. Während die Schlacht von Stalingrad zum "zentralen Erinnerungsort" der Deutschen gerade in den alten Bundesländern wurde, fristet - ebenfalls insbesondere in den alten Bundesländern - neben der Blockade von Leningrad, der größten "demographischen Katastrophe [1], die eine Stadt in der Geschichte der Menschheit jemals erfahren musste" - das Massaker von Babyn Jar ein Schattendasein durch Ignorieren, Vergessen oder Verdrängen. Dabei sollte die Erinnerung und das Gedenken an dieses unfassbare Verbrechen eine moralische Pflicht sein.

Der "größte Gewaltexzess in der modernen Menschheitsgeschichte"

Um Babyn Jar besser verstehen und einordnen zu können, ist vorab ein kurzer einführender Blick auf die Dimension des Krieges gegen die Sowjetunion, der sogenannten Operation Barbarossa, hilfreich. Der 22. Juni 1941 ist einer "der wichtigsten Tage in der Geschichte Europas. (…) Er war der Beginn einer Katastrophe, die sich der Beschreibung verweigert", betont der US-Historiker Timothy Snyder.

Der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion ist als der brutalste und ungeheuerlichste Feldzug in die Geschichte eingegangen. Der Historiker Wolfram Wette bezeichnet diesen Krieg als "den größten Gewaltexzess in der modernen Menschheitsgeschichte". Kein anderes Land in der Weltgeschichte hat so viele Menschen verloren wie die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg.

27 Millionen. So viele Sowjetbürger starben als Opfer des deutschen Krieges zwischen 1941 und 1945. Es ist eine Zahl, die viele hierzulande nicht kennen. Oder nicht kennen wollen.

Peter Jahn, Historiker, ehemaliger Leiter des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst

Damit ist jeder siebte Sowjetrusse dem Krieg zum Opfer gefallen. Mehr als die Hälfte davon Zivilisten. 11,4 Millionen sowjetische Soldaten starben. Allein in zwei Kriegsmonaten verlor die Rote Armee fast so viele Männer wie die USA und Großbritannien im gesamten Krieg. Auf deutscher Seite fielen mit 2,7 Millionen die Hälfte der deutschen Soldaten an der Ostfront.

Auch weitere Zahlen des Krieges gegen die UdSSR lassen die kaum vorstellbaren Dimensionen des Grauens erahnen: Niemals in der Geschichte starben so viele Kriegsgefangene in so kurzer Zeit wie die Rotarmisten in deutscher Hand.

Von den rund 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen waren 3,3 Millionen verhungert, erfroren, an Seuchen gestorben oder erschossen worden. Timothy Snyder stellt einen erhellenden Vergleich an: "An einem beliebigen Tag im Herbst 1941 starben ebenso viele sowjetische Kriegsgefangene wie britische und amerikanische Kriegsgefangene während des ganzen Krieges." (Von einer Million gefangener deutscher Soldaten überlebten zwei Drittel die sowjetischen Lager, bevor sie spätestens zehn Jahre nach Kriegsende wieder zurückkehren konnten).

Geplante Verbrechen

Der Ostfeldzug, das "Unternehmen Barbarossa", ist der "ungeheuerlichste Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg, den die moderne Geschichte kennt." (Ernst Nolte) Eine Reihe von Dokumenten belegen, dass die unvorstellbaren Verbrechen seitens des Dritten Reiches bereits vor Kriegsbeginn geplant waren.

Am 19. Mai 1941 hieß es einleitend in den "Richtlinien für das Verhalten der Truppen in Russland":

1. Der Bolschewismus ist der Todfeind des nationalsozialistischen deutschen Volkes. Dieser zersetzenden Weltanschauung und ihren Trägem gilt Deutschlands Kampf.

2. Dieser Kampf verlangt rücksichtsloses und energisches Durchgreifen gegen bolschewistische Hetzer, Freischärler, Saboteure, Juden und restlose Beseitigung jedes aktiven oder passiven Widerstandes.

Bereits eine Woche zuvor ermächtigte der "Erlass über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet 'Barbarossa' und über besondere Maßnahmen der Truppe", kurz "Kriegsgerichtsbarkeitserlass", jeden einzelnen Offizier zur Anordnung von verfahrenslosen Exekutionen gegen sowjetische Zivilisten, und erlaubte kollektive Repressalien gegen ganze Ortschaften.

Darüber hinaus wurde der Strafverfolgungszwang bei Straftaten von Soldaten der Wehrmacht gegen Zivilisten aufgehoben und somit die Sowjetunion in einen nahezu rechtsfreien Raum verwandelt.

Die "Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare" vom 6. Juni, kurz auch "Kommissarbefehl" genannt, erklärten:

Im Kampf gegen den Bolschewismus ist mit einem Verhalten des Feindes nach den Grundsätzen der Menschlichkeit oder des Völkerrechts nicht zu rechnen. Insbesondere ist von den politischen Kommissaren aller Art als den eigentlichen Trägern des Widerstandes eine haßerfüllte, grausame und unmenschliche Behandlung unserer Gefangenen zu erwarten. Die Truppe muß sich bewußt sein:

1. In diesem Kampfe ist Schonung und völkerrechtliche Rücksichtnahme diesen Elementen gegenüber falsch. Sie sind eine Gefahr für die eigene Sicherheit und die schnelle Befriedung der eroberten Gebiete.

2. Die Urheber barbarisch asiatischer Kampfmethoden sind die politischen Kommissare. Gegen diese muß daher sofort und ohne Weiteres mit aller Schärfe vorgegangen werden. Sie sind daher, wenn im Kampf oder Widerstand ergriffen, grundsätzlich sofort mit der Waffe zu erledigen.

Die vorgesehene Behandlung der Zivilbevölkerung fand ihren menschenverachtenden Niederschlag in den "Wirtschaftspolitischen Richtlinien für die Wirtschaftsorganisation Ost" vom 23. Mai:

Viele 10 Millionen von Menschen werden in diesem Gebiet überflüssig und werden sterben oder nach Sibirien auswandern müssen. Versuche die Bevölkerung dort vor dem Hungertode dadurch zu retten, daß man aus der Schwarzerdezone (ein Teil Zentralrusslands A. W.) Überschüsse heranzieht, können nur auf Kosten der Versorgung Europas gehen. Sie unterbinden die Durchhaltemöglichkeit Deutschlands im Kriege, sie unterbinden die Blockadefestigkeit Deutschlands und Europas.

Diese Richtlinien sind damit Überzeugungen, die bereits zwei Wochen zuvor bei der Besprechung der Staatssekretäre formuliert worden waren:

Der Krieg ist nur weiter zu führen, wenn die gesamte Wehrmacht im 3. Kriegsjahr aus Rußland ernährt wird. Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird.

Gemischter Empfang

Am 19. September 1941 wurde Kiew besetzt. Wenige Tage später endete auch die verheerende Kesselschlacht im Osten der Stadt. 700.000 Rotarmisten hatten bei der Verteidigung Kiews ihr Leben verloren und 665.000 sowjetische Soldaten wurden gefangen genommen. Als die Wehrmachtssoldaten in Kiew einmarschierten, wurden sie mit sehr unterschiedlichen Gefühlen empfangen.

Während insbesondere Juden und Kommunisten unter sehr großer Angst vor der kommenden Zeit litten und zum Teil bereits die Flucht ergriffen hatten, setzte ein Teil der Bevölkerung Hoffnung auf die neue Zeit. Hoffnung, die durch die furchtbaren Erfahrungen des letzten Jahrzehnts (Holodomor und der Große Terror) gekennzeichnet und teilweise auch von dem Wunsch nach einem ukrainischen Nationalstaat beseelt war.

Die Stadt brennt

Erste Anzeichen, dass die neue Herrschaft in Kiew diese Hoffnung nicht erfüllen würde, zeigten sich schon in den nächsten Tagen. Die Kiewerin Raisa Schwartzman beschreibt:

Ich sah einen deutschen Konvoi, der Kriegsgefangene vorantrieb. Es waren Tausende von ihnen, halbnackt und barfuß, mit Schaufeln in der Hand. Es gab Ukrainer, Russen und viele kleine jüdische Jungen. Sie wurden zum Friedhof von Lukianivka getrieben. Die Menschen warfen den Erschöpften, den hungernden Gefangenen, Brotstücke zu, aber wer auch immer welche aufhob, wurde getötet. Jugendliche, die hinter den Kriegsgefangenen herliefen, erzählten, dass sie Gruben ausgehoben haben, woraufhin die deutschen Soldaten sie erschossen und in diese Gruben warfen.

Am 24. September änderte sich dann die Lage in Kiew dramatisch. Nur fünf Tage nach Besetzung der Stadt kam es an verschiedenen Stellen im Stadtzentrum zu Explosionen und heftigen Bränden. Mehrere Hundert Angehörige der Wehrmacht kamen dabei ums Leben. Die Opferzahl der Einwohner ist unbekannt. Wie sich später herausstellen sollte, handelte es sich um eine zuvor vorbereitete Aktion des NKWD (der sowjetischen Geheimpolizei).

Die Deutschen reagierten umgehend:

Ereignismeldung 97, 28. September 1941.

Nachgewiesenermaßen Juden an den Brandstiftungen maßgeblich beteiligt. Angeblich 150000 Juden vorhanden. Überprüfung dieser Angaben noch nicht möglich. Bei erster Aktion 1600 Festnahmen. Maßnahmen eingeleitet zur Erfassung des gesamten Judentums. Exekution von mindestens 50000 Juden vorgesehen. Wehrmacht begrüßt Maßnahmen und erbittet radikales Vorgehen. Stadtkommandant öffentliche Hinrichtung von 20 Juden befürwortet.

Die nach dem Zweiten Weltkrieg wiederholt vorgebrachte Erklärung, das Massaker von Babyn Jar sei eine Reaktion auf die Zerstörung des Stadtzentrums gewesen, gehört jedoch ins Reich der Märchen. Obwohl der Krieg gegen die Sowjetunion nur wenige Monate alt war, hatte es bereits zu diesem Zeitpunkt schon eine Reihe von Massenerschießungen von Juden gegeben. So wurde beispielsweise am 19. September das Ghetto von Shitomir aufgelöst und 3.100 Juden erschossen.

Brände beherrschten vier Tage lang das Kiewer Stadtzentrum, bevor sie gelöscht werden konnten. Als am 28. September überall in Kiew ein Aushang zu lesen war, der einleitend in diesem Artikel zitiert wurde, glaubten viele, Juden würden deportiert, weil in der Nähe des angegebenen Treffpunkts ein Bahnhof lag.

In der Nacht vom 28. September wurde aber nicht nur überall in Kiew darüber diskutiert, was geschehen würde, jüdische Ehepartner wurden versteckt und eine Reihe von Juden begangen Selbstmord.

Endloser Menschenzug

Die Kiewerin L. Nartova , schrieb am 29. September in ihr Tagebuch:

Morgens klopft mein Nachbar an die Tür: "Schaut, was sich auf der Straße tut." Ich renne auf den Balkon hinaus und sehe Menschen, die in einer schier endlosen Kolonne vorüberziehen; sie füllen die ganze Straße und die Bürgersteige aus. Es gehen Frauen, Männer, junge Mädchen, Kinder, Greise, ganze Familien. Viele führen ihr Hab und Gut auf Schubkarren mit sich, aber die meisten tragen ihre Sachen auf den Schultern. Sie gehen schweigend, leise. Es ist unheimlich.

Mania Grinberg, die als eine der wenigen das Massaker überlebte, beschreibt das Geschehen auf der Straße:

Überall standen Leute herum ... einige, die sich verabschiedeten, standen und schauten, und auch sie glaubten, dass die Juden irgendwohin transportiert werden würden. Aber als sie sich der Melnikowa-Straße näherten, (…) da wurde den Leuten dort klar, was das zu bedeuten hatte, denn es waren Schüsse zu hören.

Holocaust durch Kugeln

An einem bestimmten Punkt des Weges, mussten die nicht-jüdischen Begleiter umkehren. Von dort aus wurden die Juden von deutschen Soldaten und zwei Polizeibataillone zu den jüdischen und orthodoxen Friedhöfen und dahinter zu einer großen Schlucht gedrängt und geprügelt, die im Volksmund Babyn Jar (Altweiberschlucht) genannt wurde. Menschen, die erst nach Sonnenuntergang dort ankamen, wurden über Nacht eingesperrt und am folgenden Tage ermordet.

Die Verwaltungsabteilung der 454. Sicherungsdivision berichtete am 2. Oktober 1941 über die Lage in Kiew:

Die Einwohnerzahl wird auf etwa die Hälfte des Normalstandes, also auf rund 400 000, geschätzt. Die Juden der Stadt waren aufgefordert worden, sich zwecks zahlenmäßiger Erfassung und zur Unterbringung in einem Lager an bestimmter Stelle einzufinden. Es meldeten sich etwa 34 000, einschließlich der Frauen und Kinder. Alle wurden, nachdem sie ihre Wertsachen und Kleidungsstücke hatten abgeben müssen, getötet, was mehrere Tage in Anspruch nahm.

Offiziell bezifferte die Verwaltung des Dritten Reiches die Opferzahl des Massakers vom 29. und 30. Septembers in Babyn Jar mit 33.711. Bis heute wird versucht, die Namen aller Opfer herauszufinden [2].

Die Ermordung unschuldiger Menschen in Babyn Jar ging noch bis zur Befreiung Kiews durch die Rote Armee weiter und wird Gegenstand eines zweiten Artikels sein. Der dritte und letzte Teil wird die komplexe und tragische Geschichte des Ortes Babyn Jar bis heute und das Gedenken an die Opfer betrachten.

Die Menschen sprechen lassen

Tragischerweise können nur die wenigen Überlebenden das Grauen der brutalen Ermordung zahlreicher Menschen in Babyn Jar in Worte fassen. Eine Warnung vorab an sensible Leser: Die folgenden Texte gehen an die Grenze des Erträglichen.

Genja Batasheva:

Die Straße war mit den ersten Panzersperren blockiert, Deutsche und Polizisten mit Gewehren und Hunden standen zwischen den Bäumen. Sie zwangen die Menschen, ihre Sachen, Dokumente und Schmuck abzugeben.

Hier begann das Schrecklichste. "Schneller", - wir hörten nur diese Worte. Von allen Seiten kamen Schläge. Mama, deckte uns zu, wie sie konnte. Sie versuchte, uns zu retten. (...) Ich habe keine Worte, um das Geschehen zu beschreiben. Die Leute rissen sich die Haare aus, schrien hysterisch, wurden verrückt. Plötzlich sah ich einen schreienden Säugling auf dem Boden liegen. Ein Faschist stürzte sich auf ihn und erschlug ihn mit einem Gewehrkolben.

In diesem Moment verlor ich wahrscheinlich das Bewusstsein, und was dann geschah, weiß ich nicht mehr. Als ich wieder zu mir kam, waren meine Mutter, meine Schwester und mein Bruder nicht mehr da. Ich fing an, mich wie eine Verrückte umzusehen und nach den Händen der Leute zu greifen. Mehrmals zog mich der Menschenstrom fast in den Gang zwischen den Hügeln, aber ich wich aus und suchte weiter nach meiner Familie. Ich hatte nur einen Gedanken: "Ich werde mit ihnen sterben."

Plötzlich sah ich Manja Pal'ti. Sie war ein Mädchen aus unserem Hof. Sie war allein. Wir reichten uns instinktiv die Hände und ließen einander nicht mehr los. Sie war 13 und ich war 17 Jahre alt und wir wollten nicht sterben. Wir gingen auf einen Polizisten zu und baten ihn: - Bitte, lassen Sie uns gehen, wir sind Russen. Er schaute auf unser blondes Haar und antwortete: - Ich sehe, dass ihr keine Juden seid. Aber wenn ihr hier seid, dann bleibt ihr hier.

Ein anderer Polizist war nachgiebiger. Er führte uns zu den Deutschen, die neben dem Auto standen, und begann ihnen etwas zu erklären. Ich sagte ihnen, dass wir Schwestern seien, die Deutschen schrieben unsere Adresse auf und fragten dann nach unseren Nachnamen. Ich dachte, dass das unser Ende sei.

Ich sagte ihnen: "Mein Nachname ist Bataschewa und Manjas Nachname ist Tscherneckaja" (wir hatten eine Nachbarin in unserem Hof mit einem solchen Nachnamen). Die Deutschen waren überrascht, und ich zeigte ihnen an den Fingern, dass wir Cousinen sind. Sie setzten uns in das Auto. Es gab ein kleines Heckfenster. Ich schaute hinaus und weinte. Ich dachte, ich hätte meine Mutter gesehen, wie sie zur Schlucht ging.

Liudmyla Borodianska (fünf Jahre alt):

Dann hörte ich die hysterischen Schreie einer Frau. Sie nahmen ihr ihre fünfzehnjährige Tochter weg, aber sie gab sie nicht her. Dann schlugen sie sie mit einem Gewehrkolben, sie töteten sie wahrscheinlich, und die Deutschen zogen ihre Tochter und schleppten sie irgendwohin. Da bekam ich große Angst und ging näher zu meiner Mutter (…)

Dann sah ich einen Deutschen mit einem Klappmesser auf einen alten Mann zuging, er sagte etwas zu ihm, dann packte ihn am Bart und fing an, ihn mit aller Kraft am Bart zu ziehen. Der alte Mann schrie laut auf, Blut floss über sein Gesicht, und der Bart blieb in den Händen des Faschisten zurück. Als ich das sah, begann ich zu schreien und zu weinen und bat meine Mutter, diesen schlimmen Ort zu verlassen, an dem Tante und Großvater getötet werden und wir vielleicht auch getötet werden. Dann begannen sie, uns zusammenzutreiben, und wie eine Herde wurden wir immer näher an den Abgrund getrieben.

Yelena Yefimovna [3]:

Ich wartete nicht auf das nächste Kommando, sondern warf mein Mädchen in die Schlucht und fiel auf sie drauf. Eine Sekunde später fielen Körper auf mich. Dann wurde alles still. (...) Ich spürte, dass meine Tochter sich nicht bewegte. Ich lehnte mich an sie heran und deckte sie mit meinem Körper zu. Um sie vor dem Ersticken zu bewahren, machte ich Fäuste aus meinen Händen und legte sie unter ihr Kinn. (...) Die Exekution war seit 9.00 Uhr morgens im Gange, und überall war Blut zu sehen. Wir waren zwischen den Leichen eingeklemmt.

Ich spürte, wie jemand über die Leichen ging und auf Deutsch fluchte. Ein deutscher Soldat prüfte mit einem Bajonett, ob noch jemand am Leben war. Zufällig stand er auf mir, so dass der Bajonettstoß an mir vorbeiging.

Als er wegging, hob ich den Kopf. (...) Ich befreite mich, stand auf und nahm meine bewusstlose Tochter in die Arme. Ich ging die Schlucht entlang. Als ich einen Kilometer zwischen uns und dem Ort der Hinrichtung gelegt hatte, spürte ich, dass meine Tochter kaum noch atmete. Da es nirgendwo Wasser gab, befeuchtete ich ihre Lippen mit meinem eigenen Speichel.

Dina Pronicheva [4]:

Wir waren 25 bis 30 Personen am Rande der Klippe. Nach den Schüssen stürzten die Leute neben mir über die Klippe. Bevor mich die Kugel traf, rannte ich die Treppe hinunter. Ich fiel auf die erschossenen Leute und tat so, als wäre ich tot. (...) Ein Polizist sah, dass keine Spur von Blut an mir war. Er rief einen Deutschen an und sagte ihm, dass ich noch am Leben zu sein schien. Ich hielt den Atem an: Einer seiner Füße stieß mich so, dass ich mit dem Gesicht nach oben lag. Der Deutsche trat mit seinen Füßen auf meine Brust und mein Handgelenk. Dann war er sicher, dass ich tot war und ging weg.

(...) Sie begannen, uns mit Erde zu bedecken. Die Erdschicht war dünn, so dass es mir gelang, herauszukommen. Ich kroch im Dunkeln leise zur Mauer und kletterte mit größter Mühe die Klippe hinauf, in der Nähe der Stelle, an der wir entkleidet worden waren, bevor wir erschossen wurden. Als ich die Klippe hinaufkletterte, rief mich ein Junge, der ebenfalls überlebt hatte. Zusammen mit ihm versuchte ich zwei Tage lang, aus Babyn Yar herauszukommen. Am ersten Tag versteckte ich mich auf einem Baum, und der Junge saß im Gebüsch; am zweiten Tag saß ich in einer Müllgrube. Am Morgen des dritten Tages wurde der Junge getötet. Ich hörte zwei Schüsse, aber ich sah den Schützen nicht.

Irina Khoroshunowa, eine Einwohnerin Kiews, schrieb am 2. Oktober 1941 in ihr Tagebuch:

Schon sagen alle, dass die Juden ermordet werden. Nein, nicht ermordet werden, sondern schon ermordet worden sind. Alle, ohne Ausnahme - Greise, Frauen und Kinder. Jene, die am Montag nach Hause zurückgekehrt waren, sind auch schon erschossen worden. Das ist noch Gerede, aber es kann keinen Zweifel daran geben, dass es den Tatsachen entspricht. Es sind keine Züge von Lukjanowka abgefahren. Leute haben gesehen, wie Autos warme Kleider und andere Sachen vom Friedhof abtransportiert haben. Die deutsche "Sorgfalt". Sie haben sogar schon die Trophäen sortiert!

Ein russisches Mädchen hat seine Freundin auf den Friedhof begleitet und sich von der anderen Seite durch die Umzäunung geschlichen. Sie hat gesehen, wie entkleidete Menschen in die Richtung von Babyn Jar geführt wurden, und Gewehrschüsse gehört. Es gibt immer mehr von diesen Gerüchten und Berichten. Ihre Ungeheuerlichkeit will nicht in unsere Köpfe hineingehen. Aber wir sind gezwungen, sie zu glauben, denn die Erschießung der Juden ist eine Tatsache. Eine Tatsache, die anfängt, uns allen den Verstand zu rauben.

Es ist unmöglich, diese Tatsache anzuerkennen und einfach weiterzuleben. Die Frauen um uns herum weinen. Und wir? Wir haben auch geweint am 29. September, als wir dachten, dass sie ins Konzentrationslager transportiert werden. Aber jetzt? Ist es etwa möglich zu weinen?

Ich schreibe, und die Haare stehen mir zu Berge. Ich schreibe, aber diese Worte drücken nichts aus. Ich schreibe deswegen, weil es notwendig ist, dass die Menschen der Welt von diesem ungeheuerlichen Verbrechen erfahren und es rächen können. Ich schreibe, und in Babyn Jar geht das Massenmorden von wehrlosen und völlig unschuldigen Kindern, Frauen und Greisen weiter, von denen viele, so sagt man, halb lebendig begraben werden, weil die Deutschen ökonomisch denken und es nicht mögen, Kugeln unnötig zu verschwenden. (…)

Gab es jemals irgend etwas Vergleichbares in der Geschichte der Menschheit? Niemand hätte sich etwas Vergleichbares auch nur ausdenken können. Ich kann nicht weiter schreiben. Es ist unmöglich zu schreiben, unmöglich zu versuchen, das Geschehene zu verstehen - denn in dem Augenblick, in dem es uns bewusst wird, werden wir den Verstand verlieren.

Teil 2: Babyn Jar: Zwei Tage und zwei Jahre [5]

Benutzte Literatur

Berkhoff, Karel: Harvest of Despair.
Hartmann, Christian: Unternehmen Barbarossa. Hrynevych, Vladyslav und Magocsi, Paul Robert (Hrsg.): Babyn Yar. History and Memory
Kusnezow, Anatloij: Babij Jar. Overy, Richard: Russlands Krieg.
Pohl, Dieter: Die Herrschaft der Wehrmacht.
Snyder, Timothy: Bloodlands.
Wette, Wolfram und Ueberschär, Gerd R.: Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion: Unternehmen Barbarossa 1941


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[1] https://www.heise.de/tp/features/Hitler-In-die-russischen-Staedte-gehen-wir-nicht-hinein-sie-muessen-vollstaendig-ersterben-4288622.html
[2] https://www.spiegel.de/geschichte/massaker-von-babi-jar-opfer-haben-namen-kommentar-a-1114350.html
[3] https://www.yadvashem.org/education/educational-materials/learning-environment/babi-yar/primary-sources.html
[4] http://babynyar.gov.ua/en/dina-pronichyeva
[5] https://www.heise.de/tp/features/Babyn-Jar-Zwei-Tage-und-zwei-Jahre-6224867.html