Massaker von Babyn Jar: "Größter Gewaltexzess in der modernen Menschheitsgeschichte"
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Heute vor 80 Jahren begann das größte Einzelmassaker in der Geschichte des Holocaust. Ein häufig übersehenes, ignoriertes, in seiner Dimension unbekanntes Verbrechen
Alle Juden der Stadt Kiew und Umgebung müssen sich am Montag, dem 29. September 1941, um acht Uhr morgens an der Ecke Melnikowskaja und Dochturowskaja (neben dem Friedhof) einfinden. Ausweise, Geld und Wertsachen sind mitzubringen, ebenso warme Kleidung, Unterwäsche usw.
Jeder Jude, der dieser Anordnung zuwiderhandelt und an anderem Ort angetroffen wird, wird erschossen.
Jeder Bürger, der in eine von Juden verlassene Wohnung eindringt und sich Sachen aneignet, wird erschossen.
Dieser Aufruf, der überall in Kiew zu lesen war, leitet das Massaker von Babyn Jar ein, das sich heute zum 80-ten Male jährt. Während die Schlacht von Stalingrad zum "zentralen Erinnerungsort" der Deutschen gerade in den alten Bundesländern wurde, fristet - ebenfalls insbesondere in den alten Bundesländern - neben der Blockade von Leningrad, der größten "demographischen Katastrophe, die eine Stadt in der Geschichte der Menschheit jemals erfahren musste" - das Massaker von Babyn Jar ein Schattendasein durch Ignorieren, Vergessen oder Verdrängen. Dabei sollte die Erinnerung und das Gedenken an dieses unfassbare Verbrechen eine moralische Pflicht sein.
Der "größte Gewaltexzess in der modernen Menschheitsgeschichte"
Um Babyn Jar besser verstehen und einordnen zu können, ist vorab ein kurzer einführender Blick auf die Dimension des Krieges gegen die Sowjetunion, der sogenannten Operation Barbarossa, hilfreich. Der 22. Juni 1941 ist einer "der wichtigsten Tage in der Geschichte Europas. (…) Er war der Beginn einer Katastrophe, die sich der Beschreibung verweigert", betont der US-Historiker Timothy Snyder.
Der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion ist als der brutalste und ungeheuerlichste Feldzug in die Geschichte eingegangen. Der Historiker Wolfram Wette bezeichnet diesen Krieg als "den größten Gewaltexzess in der modernen Menschheitsgeschichte". Kein anderes Land in der Weltgeschichte hat so viele Menschen verloren wie die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg.
27 Millionen. So viele Sowjetbürger starben als Opfer des deutschen Krieges zwischen 1941 und 1945. Es ist eine Zahl, die viele hierzulande nicht kennen. Oder nicht kennen wollen.
Peter Jahn, Historiker, ehemaliger Leiter des Deutsch-Russischen Museums in Berlin-Karlshorst
Damit ist jeder siebte Sowjetrusse dem Krieg zum Opfer gefallen. Mehr als die Hälfte davon Zivilisten. 11,4 Millionen sowjetische Soldaten starben. Allein in zwei Kriegsmonaten verlor die Rote Armee fast so viele Männer wie die USA und Großbritannien im gesamten Krieg. Auf deutscher Seite fielen mit 2,7 Millionen die Hälfte der deutschen Soldaten an der Ostfront.
Auch weitere Zahlen des Krieges gegen die UdSSR lassen die kaum vorstellbaren Dimensionen des Grauens erahnen: Niemals in der Geschichte starben so viele Kriegsgefangene in so kurzer Zeit wie die Rotarmisten in deutscher Hand.
Von den rund 5,7 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen waren 3,3 Millionen verhungert, erfroren, an Seuchen gestorben oder erschossen worden. Timothy Snyder stellt einen erhellenden Vergleich an: "An einem beliebigen Tag im Herbst 1941 starben ebenso viele sowjetische Kriegsgefangene wie britische und amerikanische Kriegsgefangene während des ganzen Krieges." (Von einer Million gefangener deutscher Soldaten überlebten zwei Drittel die sowjetischen Lager, bevor sie spätestens zehn Jahre nach Kriegsende wieder zurückkehren konnten).
Geplante Verbrechen
Der Ostfeldzug, das "Unternehmen Barbarossa", ist der "ungeheuerlichste Eroberungs-, Versklavungs- und Vernichtungskrieg, den die moderne Geschichte kennt." (Ernst Nolte) Eine Reihe von Dokumenten belegen, dass die unvorstellbaren Verbrechen seitens des Dritten Reiches bereits vor Kriegsbeginn geplant waren.
Am 19. Mai 1941 hieß es einleitend in den "Richtlinien für das Verhalten der Truppen in Russland":
1. Der Bolschewismus ist der Todfeind des nationalsozialistischen deutschen Volkes. Dieser zersetzenden Weltanschauung und ihren Trägem gilt Deutschlands Kampf.
2. Dieser Kampf verlangt rücksichtsloses und energisches Durchgreifen gegen bolschewistische Hetzer, Freischärler, Saboteure, Juden und restlose Beseitigung jedes aktiven oder passiven Widerstandes.
Bereits eine Woche zuvor ermächtigte der "Erlass über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet 'Barbarossa' und über besondere Maßnahmen der Truppe", kurz "Kriegsgerichtsbarkeitserlass", jeden einzelnen Offizier zur Anordnung von verfahrenslosen Exekutionen gegen sowjetische Zivilisten, und erlaubte kollektive Repressalien gegen ganze Ortschaften.
Darüber hinaus wurde der Strafverfolgungszwang bei Straftaten von Soldaten der Wehrmacht gegen Zivilisten aufgehoben und somit die Sowjetunion in einen nahezu rechtsfreien Raum verwandelt.
Die "Richtlinien für die Behandlung politischer Kommissare" vom 6. Juni, kurz auch "Kommissarbefehl" genannt, erklärten:
Im Kampf gegen den Bolschewismus ist mit einem Verhalten des Feindes nach den Grundsätzen der Menschlichkeit oder des Völkerrechts nicht zu rechnen. Insbesondere ist von den politischen Kommissaren aller Art als den eigentlichen Trägern des Widerstandes eine haßerfüllte, grausame und unmenschliche Behandlung unserer Gefangenen zu erwarten. Die Truppe muß sich bewußt sein:
1. In diesem Kampfe ist Schonung und völkerrechtliche Rücksichtnahme diesen Elementen gegenüber falsch. Sie sind eine Gefahr für die eigene Sicherheit und die schnelle Befriedung der eroberten Gebiete.
2. Die Urheber barbarisch asiatischer Kampfmethoden sind die politischen Kommissare. Gegen diese muß daher sofort und ohne Weiteres mit aller Schärfe vorgegangen werden. Sie sind daher, wenn im Kampf oder Widerstand ergriffen, grundsätzlich sofort mit der Waffe zu erledigen.
Die vorgesehene Behandlung der Zivilbevölkerung fand ihren menschenverachtenden Niederschlag in den "Wirtschaftspolitischen Richtlinien für die Wirtschaftsorganisation Ost" vom 23. Mai:
Viele 10 Millionen von Menschen werden in diesem Gebiet überflüssig und werden sterben oder nach Sibirien auswandern müssen. Versuche die Bevölkerung dort vor dem Hungertode dadurch zu retten, daß man aus der Schwarzerdezone (ein Teil Zentralrusslands A. W.) Überschüsse heranzieht, können nur auf Kosten der Versorgung Europas gehen. Sie unterbinden die Durchhaltemöglichkeit Deutschlands im Kriege, sie unterbinden die Blockadefestigkeit Deutschlands und Europas.
Diese Richtlinien sind damit Überzeugungen, die bereits zwei Wochen zuvor bei der Besprechung der Staatssekretäre formuliert worden waren:
Der Krieg ist nur weiter zu führen, wenn die gesamte Wehrmacht im 3. Kriegsjahr aus Rußland ernährt wird. Hierbei werden zweifellos zig Millionen Menschen verhungern, wenn von uns das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird.
Gemischter Empfang
Am 19. September 1941 wurde Kiew besetzt. Wenige Tage später endete auch die verheerende Kesselschlacht im Osten der Stadt. 700.000 Rotarmisten hatten bei der Verteidigung Kiews ihr Leben verloren und 665.000 sowjetische Soldaten wurden gefangen genommen. Als die Wehrmachtssoldaten in Kiew einmarschierten, wurden sie mit sehr unterschiedlichen Gefühlen empfangen.
Während insbesondere Juden und Kommunisten unter sehr großer Angst vor der kommenden Zeit litten und zum Teil bereits die Flucht ergriffen hatten, setzte ein Teil der Bevölkerung Hoffnung auf die neue Zeit. Hoffnung, die durch die furchtbaren Erfahrungen des letzten Jahrzehnts (Holodomor und der Große Terror) gekennzeichnet und teilweise auch von dem Wunsch nach einem ukrainischen Nationalstaat beseelt war.