Massaker von Babyn Jar: "Größter Gewaltexzess in der modernen Menschheitsgeschichte"

Seite 2: Die Stadt brennt

Erste Anzeichen, dass die neue Herrschaft in Kiew diese Hoffnung nicht erfüllen würde, zeigten sich schon in den nächsten Tagen. Die Kiewerin Raisa Schwartzman beschreibt:

Ich sah einen deutschen Konvoi, der Kriegsgefangene vorantrieb. Es waren Tausende von ihnen, halbnackt und barfuß, mit Schaufeln in der Hand. Es gab Ukrainer, Russen und viele kleine jüdische Jungen. Sie wurden zum Friedhof von Lukianivka getrieben. Die Menschen warfen den Erschöpften, den hungernden Gefangenen, Brotstücke zu, aber wer auch immer welche aufhob, wurde getötet. Jugendliche, die hinter den Kriegsgefangenen herliefen, erzählten, dass sie Gruben ausgehoben haben, woraufhin die deutschen Soldaten sie erschossen und in diese Gruben warfen.

Am 24. September änderte sich dann die Lage in Kiew dramatisch. Nur fünf Tage nach Besetzung der Stadt kam es an verschiedenen Stellen im Stadtzentrum zu Explosionen und heftigen Bränden. Mehrere Hundert Angehörige der Wehrmacht kamen dabei ums Leben. Die Opferzahl der Einwohner ist unbekannt. Wie sich später herausstellen sollte, handelte es sich um eine zuvor vorbereitete Aktion des NKWD (der sowjetischen Geheimpolizei).

Die Deutschen reagierten umgehend:

Ereignismeldung 97, 28. September 1941.

Nachgewiesenermaßen Juden an den Brandstiftungen maßgeblich beteiligt. Angeblich 150000 Juden vorhanden. Überprüfung dieser Angaben noch nicht möglich. Bei erster Aktion 1600 Festnahmen. Maßnahmen eingeleitet zur Erfassung des gesamten Judentums. Exekution von mindestens 50000 Juden vorgesehen. Wehrmacht begrüßt Maßnahmen und erbittet radikales Vorgehen. Stadtkommandant öffentliche Hinrichtung von 20 Juden befürwortet.

Die nach dem Zweiten Weltkrieg wiederholt vorgebrachte Erklärung, das Massaker von Babyn Jar sei eine Reaktion auf die Zerstörung des Stadtzentrums gewesen, gehört jedoch ins Reich der Märchen. Obwohl der Krieg gegen die Sowjetunion nur wenige Monate alt war, hatte es bereits zu diesem Zeitpunkt schon eine Reihe von Massenerschießungen von Juden gegeben. So wurde beispielsweise am 19. September das Ghetto von Shitomir aufgelöst und 3.100 Juden erschossen.

Brände beherrschten vier Tage lang das Kiewer Stadtzentrum, bevor sie gelöscht werden konnten. Als am 28. September überall in Kiew ein Aushang zu lesen war, der einleitend in diesem Artikel zitiert wurde, glaubten viele, Juden würden deportiert, weil in der Nähe des angegebenen Treffpunkts ein Bahnhof lag.

In der Nacht vom 28. September wurde aber nicht nur überall in Kiew darüber diskutiert, was geschehen würde, jüdische Ehepartner wurden versteckt und eine Reihe von Juden begangen Selbstmord.

Endloser Menschenzug

Die Kiewerin L. Nartova , schrieb am 29. September in ihr Tagebuch:

Morgens klopft mein Nachbar an die Tür: "Schaut, was sich auf der Straße tut." Ich renne auf den Balkon hinaus und sehe Menschen, die in einer schier endlosen Kolonne vorüberziehen; sie füllen die ganze Straße und die Bürgersteige aus. Es gehen Frauen, Männer, junge Mädchen, Kinder, Greise, ganze Familien. Viele führen ihr Hab und Gut auf Schubkarren mit sich, aber die meisten tragen ihre Sachen auf den Schultern. Sie gehen schweigend, leise. Es ist unheimlich.

Mania Grinberg, die als eine der wenigen das Massaker überlebte, beschreibt das Geschehen auf der Straße:

Überall standen Leute herum ... einige, die sich verabschiedeten, standen und schauten, und auch sie glaubten, dass die Juden irgendwohin transportiert werden würden. Aber als sie sich der Melnikowa-Straße näherten, (…) da wurde den Leuten dort klar, was das zu bedeuten hatte, denn es waren Schüsse zu hören.