Massengewalt, Kriegsverbrechen oder Genozid: Ist das Label so wichtig?
- Massengewalt, Kriegsverbrechen oder Genozid: Ist das Label so wichtig?
- Verbrechen an schwarzen US-Amerikanern: nur der Tat nach genozidal
- Nicht jede Massengewalt ist ein Genozid
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In der Ukraine findet ein schrecklicher Angriffskrieg statt. Aber nicht jede sprachliche und rechtliche Zuspitzung bringt die Debatte voran
Wenn heute Regierungschefs von Völkermord in der Ukraine sprechen, werden neben der rechtlichen auch politische Ebenen adressiert: Um es vorwegzunehmen: Stand jetzt findet in der Ukraine ein schrecklicher Angriffskrieg, aber kein Genozid statt.
Als Genozid unumstritten anerkannt gelten neben der Shoah der Völkermord an den Tutsi in Ruanda 1994 und jener der Jungtürken an den Armeniern 1915. Weniger klar hingegen ist, ob die Situation der Uiguren in China, der Tamilen in Sri Lanka und die Verbrechen der US-Regierung an der eigenen schwarzen Bevölkerung Fälle von "strukturellem Genozid" sind.
Dieser Artikel skizziert die Genese des Rechtsbegriffs "Genozid", der von dem polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin aus dem heutigen Lwiw in der Ukraine (früher Lemberg) erdacht wurde und macht anhand strittiger Fälle aktuelle politische Dimensionen des Genozid-Begriffs sichtbar.
Ein Begriff kommt zurück nach Lwiw: Genozid
Der entfesselte gewalttätige Nationalismus ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert warf völkerrechtliche Fragen der Gruppenidentität und Autonomie auf: Wie konnte das Recht Minderheiten schützen?
Erst als die alliierten Kräfte nach dem Zweiten Weltkrieg den nationalsozialistischen Verbrechen ein Ende setzten, bedurfte es für die Eröffnung der Nürnberger Prozesse dringend juristischer Begrifflichkeiten, mit denen der Holocaust benannt und einige der Hauptverantwortlichen bestraft werden konnten. Zuvor stand es Staaten frei, die innerhalb ihrer Grenzen lebenden Menschen nach Gutdünken zu be- oder misshandeln. Rechte für Minderheiten sah das damalige Völkerrecht nicht vor.
Die an der Anklagevorbereitung beteiligten Juristen standen vor der kniffligen Frage, wie die Misshandlung von Juden und Angehörigen anderer Gruppen durch die Nazis vor dem Krieg angeklagt werden konnte. Nach gültiger Rechtslage mussten Verbrechen gegen die Menschlichkeit – ebenfalls ein neu definierter völkerrechtlicher Tatbestand, um die nationalsozialistischen Verbrechen zur Anklage bringen zu können – nicht in Verbindung mit Kriegsverbrechen begangen werden.
Dies beunruhigte die U-amerikanische Regierung jedoch: Wenn die USA Nazis wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit anklagten, die nichts mit dem Krieg zu tun hatten, würden ähnliche Verbrechen an ihrer eigenen schwarzen Bevölkerung ebenso justiziabel.
Die jahrhundertelange, gesetzlich abgestützte systematische Verfolgung schwarzer US-Amerikaner und die unsäglichen Gewalttaten gegen sie unterschieden sich von der Misshandlung der Juden und anderer Gruppen durch die Nazis lediglich in der Intensität, nicht aber der Art nach.
Den Last-Minute-Ausweg bot die Kombination zweier Konzepte. Zu den "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" wurde der Anklagepunkt "Genozid" hinzugefügt. Lemkin, der Erfinder des Verbrechens "Genozid" (griechisch: genos, Volk; lateinisch: caedere, töten) war in die USA emigriert. Bis auf zwei Angehörige war seine gesamte Familie im Holocaust ermordet worden. Ab 1945 assistierte Lemkin dem Hauptanklagevertreter der Vereinigten Staaten, Robert Jackson.
Lemkin definierte den Begriff "genocide" als Zerstörung einer Nation oder einer ethnischen Gruppe. Der Begriff sollte alle Angriffe auf eine Bevölkerungsgruppe mit dem Ziel ihrer Vernichtung umfassen. Dazu zählten Massendeportationen, die erzwungene Senkung der Geburtenrate, wirtschaftliche Ausbeutung und die gezielte Unterdrückung der Intelligenzia, die soziale und politische Interessen, Eigenschaften und Lebensweisen formulieren konnte.
Der entscheidende Punkt sei, so Lemkin, dass die Taten systematisch und gezielt verübt würden. Gaskammern und Krematorien sind nicht zufällig, und auch nicht improvisiert, sondern für die Auslöschung von Menschen und im Besonderen für die Gruppe der Juden Europas entwickelte Instrumente.