Massengewalt, Kriegsverbrechen oder Genozid: Ist das Label so wichtig?

Seite 2: Verbrechen an schwarzen US-Amerikanern: nur der Tat nach genozidal

Eine Petition schwarzer US-Amerikaner von 1951 beschuldigte die US-Regierung mindestens dreier Formen des Völkermords: Tötung, Verursachung schwerer körperlicher oder geistiger Schäden und die absichtliche Schaffung von Lebensbedingungen, die auf die physische Zerstörung der Gruppe abzielen.

Zehntausende von schwarzen Männern und Frauen wurden aus keinem anderen Grund als ihrer Rasse getötet, massiv traumatisiert durch Rassentrennung und andere legalisierte Formen der Diskriminierung, und wurden absichtlich entsetzlichen Lebensbedingungen ausgesetzt.

Obgleich sehr überzeugend argumentiert wird, dass der systemische und strukturelle Charakter des Rassismus gegen Schwarze in den USA den Kriterien für Völkermord entspreche, wurde die Petition von keinem UN-Organ geprüft oder diskutiert; sie wurde von den Mainstream-Medien weitgehend ignoriert und sogar von Lemkin selbst abgelehnt.

Unbestreitbar erfüllt die Behandlung der schwarzen Amerikaner vor und nach dem Zweiten Weltkrieg den objektiven Tatbestand des Völkermords. Jedoch erwies es sich als schwierig, das Kriterium der Absicht und Zielgerichtetheit nachzuweisen, das für einen Völkermord notwendig ist.

Ohne Zweifel hatte die US-Regierung eine Vielzahl entsetzlicher und unrechter Verbrechen begangen. Verfolgung, Gewalt, Rassentrennung, ebenso wie Ausrottung, erfüllen nicht automatisch das juristische Kriterium für Völkermord: den Vorsatz der Vernichtung.

Dieser ist dann erfüllt, wenn eine Gruppe Lebensbedingungen unterworfen wird, die unweigerlich, wenn auch langsam, zu ihrer Zerstörung führen. Das "Wesen" (Spirit) einer Gruppe zu zerstören, ist nicht dasselbe wie die Mitglieder der Gruppe physisch zu vernichten – zumindest nicht im Verständnis moderner internationaler Strafgerichte.

Folgt man der Logik, war mit der Sklaverei sogar genau das Gegenteil von Völkermord beabsichtigt: Sklavenhalter wollten die fortdauernde Gefügigkeit der Sklaven sicherstellen; keinesfalls wollten sie billige Arbeitskräfte zerstören. Gewiss nahmen sie es billigend in Kauf, dass sich Sklaven zu Tode schufteten, solange sie leicht und billig ersetzt werden konnten.

Aber selbst dann war das Herbeiführen des Todes nicht die ausdrückliche Absicht des Sklavenhalters.

Das Beispiel der Uiguren: Struktureller Genozid

Es gibt hier einige Ähnlichkeiten mit der Situation der schwarzen US-Amerikaner, da China die Uiguren verfolgt und versklavt. Nur ist Chinas völkermörderische Behandlung der Uiguren viel breiter angelegt und stützt sich auf Handlungen, die speziell darauf abzielen, die Uiguren langsam, aber unausweichlich als Gruppe zu zerstören - sie unter anderem zu traumatisieren, sie zwangsweise zu sterilisieren, oder ihre Kinder in nicht-uigurische Familien zu geben.

Absichtserklärungen von Präsident Xi, der Kommunistischen Partei und anderen Regierungsvertretern zeigten einem Bericht des Newlines Institutes zufolge, dass China die Uiguren vollständig eliminieren wolle.

Der Begriff des "Strukturellen Genozids", kann dem Bericht zufolge auf die Uiguren in China angewandt werden, wo die Gruppe eine Art sozialen Tod erlebt.

Tamilen in Sri Lanka: Genozid ohne Öffentlichkeit

Nach 26 Jahren Bürgerkrieg forderte die sri-lankische Regierung 2009 alle ausländischen Beobachter und internationale Organisationen wie das Rote Kreuz unmissverständlich auf, die von der tamilischen Bevölkerungsminderheit bewohnte Region im Norden zu verlassen und erklärte eine "No Fire Zone", in die sich alle tamilischen Zivilisten während der Militäroffensive zur endgültigen Niederschlagung der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) begeben sollten.

Über Wochen waren Zehntausende in der Zone eingesperrt. Die Regierung bombardierte die eingekesselten Zivilisten aus der Luft und nahm sie am Boden unter Beschuss.

Kriegsvergewaltigungen und Exekutionen sind dokumentiert. Die in der No Fire Zone Eingesperrten wurde in wenigen Wochen nach Osten getrieben und ihre Anzahl wurde immer geringer. Das Massaker von Mullivaikkal war ein Blutbad, im dem Zehntausende umkamen und das unter dem Radar der Weltöffentlichkeit geschah.

Nach 2009 stoppten die Morde; die LTTE war zerschlagen, hinterließ aber ein politisches Vakuum, das bis heute fortbesteht. Mehr als 100 000 Menschen wurden in diesem Krieg ermordet. Die massive Unterdrückung der Tamilen hält an. Die Regierung ist nicht gewillt, den Tamilen ihr Land zurückzugeben.

Um die 3.000 tamilische politische Gefangene verrichten Zwangsarbeit. Die Region im Norden Sri Lankas ist mit 300 000 Soldaten (Luftwaffe und Marine nicht mitgezählt) durchweg militarisiert. Kriegsverbrechen werden nicht aufgearbeitet. Gedenkfeiern für die Toten sind nicht erlaubt.

Regierungskritiker verschwinden; mutmaßliche Abtrünnige werden gefoltert. Durch gezielte Siedlungspolitik versucht die sinhalesische Regierung, den Norden und den Osten der Insel zu spalten. Sinhalesische Siedler werden mit Privilegien ausgestattet, so dass die ökonomische Existenz tamilischer Einheimischer zerstört wird.

Noch heute werden viele Personen vermisst. Nur vereinzelt gibt es Demonstrationen von Tamilen in Jaffna oder Kilinochchi, die Informationen über den Verbleib verschwundener Angehörigen fordern. Tamilen in der Diaspora kämpfen um die internationale Anerkennung des "Strukturellen Genozids" an ihrem Volk.