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Massengewalt, Kriegsverbrechen oder Genozid: Ist das Label so wichtig?

US-Chefankläger Robert H. Jackson beim Hauptkriegsverbrechertribunal in Nürnberg 1945. Bild: Raymond D'Addario

In der Ukraine findet ein schrecklicher Angriffskrieg statt. Aber nicht jede sprachliche und rechtliche Zuspitzung bringt die Debatte voran

Wenn heute Regierungschefs von Völkermord in der Ukraine sprechen [1], werden neben der rechtlichen auch politische Ebenen adressiert: Um es vorwegzunehmen: Stand jetzt findet in der Ukraine ein schrecklicher Angriffskrieg, aber kein Genozid statt.

Als Genozid unumstritten anerkannt gelten neben der Shoah der Völkermord an den Tutsi in Ruanda 1994 und jener der Jungtürken an den Armeniern 1915. Weniger klar hingegen ist, ob die Situation der Uiguren in China, der Tamilen in Sri Lanka und die Verbrechen der US-Regierung an der eigenen schwarzen Bevölkerung Fälle von "strukturellem Genozid" sind.

Dieser Artikel skizziert die Genese des Rechtsbegriffs "Genozid", der von dem polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin aus dem heutigen Lwiw in der Ukraine (früher Lemberg) erdacht wurde und macht anhand strittiger Fälle aktuelle politische Dimensionen des Genozid-Begriffs sichtbar.

Ein Begriff kommt zurück nach Lwiw: Genozid

Der entfesselte gewalttätige Nationalismus ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert warf völkerrechtliche Fragen der Gruppenidentität und Autonomie auf: Wie konnte das Recht Minderheiten schützen?

Erst als die alliierten Kräfte nach dem Zweiten Weltkrieg den nationalsozialistischen Verbrechen ein Ende setzten, bedurfte es für die Eröffnung der Nürnberger Prozesse dringend juristischer Begrifflichkeiten, mit denen der Holocaust benannt und einige der Hauptverantwortlichen bestraft werden konnten. Zuvor stand es Staaten frei, die innerhalb ihrer Grenzen lebenden Menschen nach Gutdünken zu be- oder misshandeln. Rechte für Minderheiten sah das damalige Völkerrecht nicht vor.

Die an der Anklagevorbereitung beteiligten Juristen standen vor der kniffligen Frage, wie die Misshandlung von Juden und Angehörigen anderer Gruppen durch die Nazis vor dem Krieg angeklagt werden konnte. Nach gültiger Rechtslage mussten Verbrechen gegen die Menschlichkeit – ebenfalls ein neu definierter völkerrechtlicher Tatbestand, um die nationalsozialistischen Verbrechen zur Anklage bringen zu können – nicht in Verbindung mit Kriegsverbrechen begangen werden.

Dies beunruhigte die U-amerikanische Regierung jedoch: Wenn die USA Nazis wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit anklagten, die nichts mit dem Krieg zu tun hatten, würden ähnliche Verbrechen an ihrer eigenen schwarzen Bevölkerung ebenso justiziabel.

Die jahrhundertelange, gesetzlich abgestützte systematische Verfolgung schwarzer US-Amerikaner und die unsäglichen Gewalttaten gegen sie unterschieden sich von der Misshandlung der Juden und anderer Gruppen durch die Nazis lediglich in der Intensität, nicht aber der Art nach.

Den Last-Minute-Ausweg bot die Kombination zweier Konzepte. Zu den "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" wurde der Anklagepunkt "Genozid" hinzugefügt. Lemkin, der Erfinder des Verbrechens "Genozid" (griechisch: genos, Volk; lateinisch: caedere, töten) war in die USA emigriert. Bis auf zwei Angehörige war seine gesamte Familie im Holocaust ermordet worden. Ab 1945 assistierte Lemkin dem Hauptanklagevertreter der Vereinigten Staaten, Robert Jackson.

Lemkin definierte den Begriff "genocide" [2] als Zerstörung einer Nation oder einer ethnischen Gruppe. Der Begriff sollte alle Angriffe auf eine Bevölkerungsgruppe mit dem Ziel ihrer Vernichtung umfassen. Dazu zählten Massendeportationen, die erzwungene Senkung der Geburtenrate, wirtschaftliche Ausbeutung und die gezielte Unterdrückung der Intelligenzia, die soziale und politische Interessen, Eigenschaften und Lebensweisen [3] formulieren konnte.

Der entscheidende Punkt sei, so Lemkin, dass die Taten systematisch und gezielt verübt würden. Gaskammern und Krematorien sind nicht zufällig, und auch nicht improvisiert, sondern für die Auslöschung von Menschen und im Besonderen für die Gruppe der Juden Europas entwickelte Instrumente.

Verbrechen an schwarzen US-Amerikanern: nur der Tat nach genozidal

Eine Petition schwarzer US-Amerikaner von 1951 beschuldigte die US-Regierung mindestens dreier Formen des Völkermords: Tötung, Verursachung schwerer körperlicher oder geistiger Schäden und die absichtliche Schaffung von Lebensbedingungen, die auf die physische Zerstörung der Gruppe abzielen.

Zehntausende von schwarzen Männern und Frauen wurden aus keinem anderen Grund als ihrer Rasse getötet, massiv traumatisiert durch Rassentrennung und andere legalisierte Formen der Diskriminierung, und wurden absichtlich entsetzlichen Lebensbedingungen ausgesetzt.

Obgleich sehr überzeugend argumentiert wird, dass der systemische und strukturelle Charakter des Rassismus gegen Schwarze in den USA den Kriterien für Völkermord entspreche, wurde die Petition von keinem UN-Organ geprüft oder diskutiert; sie wurde von den Mainstream-Medien weitgehend ignoriert und sogar von Lemkin selbst abgelehnt.

Unbestreitbar erfüllt die Behandlung der schwarzen Amerikaner vor und nach dem Zweiten Weltkrieg den objektiven Tatbestand des Völkermords. Jedoch erwies es sich als schwierig, das Kriterium der Absicht und Zielgerichtetheit nachzuweisen, das für einen Völkermord notwendig ist.

Ohne Zweifel hatte die US-Regierung eine Vielzahl entsetzlicher und unrechter Verbrechen begangen. Verfolgung, Gewalt, Rassentrennung, ebenso wie Ausrottung, erfüllen nicht automatisch das juristische Kriterium für Völkermord: den Vorsatz der Vernichtung.

Dieser ist dann erfüllt, wenn eine Gruppe Lebensbedingungen unterworfen wird, die unweigerlich, wenn auch langsam, zu ihrer Zerstörung führen. Das "Wesen" (Spirit) einer Gruppe zu zerstören, ist nicht dasselbe wie die Mitglieder der Gruppe physisch zu vernichten – zumindest nicht im Verständnis moderner internationaler Strafgerichte.

Folgt man der Logik, war mit der Sklaverei sogar genau das Gegenteil von Völkermord beabsichtigt: Sklavenhalter wollten die fortdauernde Gefügigkeit der Sklaven sicherstellen; keinesfalls wollten sie billige Arbeitskräfte zerstören. Gewiss nahmen sie es billigend in Kauf, dass sich Sklaven zu Tode schufteten, solange sie leicht und billig ersetzt werden konnten.

Aber selbst dann war das Herbeiführen des Todes nicht die ausdrückliche Absicht des Sklavenhalters.

Das Beispiel der Uiguren: Struktureller Genozid

Es gibt hier einige Ähnlichkeiten mit der Situation der schwarzen US-Amerikaner, da China die Uiguren verfolgt und versklavt. Nur ist Chinas völkermörderische Behandlung der Uiguren viel breiter angelegt und stützt sich auf Handlungen, die speziell darauf abzielen, die Uiguren langsam, aber unausweichlich als Gruppe zu zerstören - sie unter anderem zu traumatisieren, sie zwangsweise zu sterilisieren, oder ihre Kinder in nicht-uigurische Familien zu geben.

Absichtserklärungen von Präsident Xi, der Kommunistischen Partei und anderen Regierungsvertretern zeigten einem Bericht des Newlines Institutes zufolge, dass China die Uiguren vollständig eliminieren wolle [4].

Der Begriff des "Strukturellen Genozids", kann dem Bericht zufolge auf die Uiguren in China angewandt werden, wo die Gruppe eine Art sozialen Tod erlebt.

Tamilen in Sri Lanka: Genozid ohne Öffentlichkeit

Nach 26 Jahren Bürgerkrieg forderte die sri-lankische Regierung 2009 alle ausländischen Beobachter und internationale Organisationen wie das Rote Kreuz unmissverständlich auf, die von der tamilischen Bevölkerungsminderheit bewohnte Region im Norden zu verlassen und erklärte eine "No Fire Zone" [5], in die sich alle tamilischen Zivilisten während der Militäroffensive zur endgültigen Niederschlagung der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) [6] begeben sollten.

Über Wochen waren Zehntausende in der Zone eingesperrt. Die Regierung bombardierte die eingekesselten Zivilisten aus der Luft und nahm sie am Boden unter Beschuss.

Kriegsvergewaltigungen und Exekutionen sind dokumentiert. Die in der No Fire Zone Eingesperrten wurde in wenigen Wochen nach Osten getrieben und ihre Anzahl wurde immer geringer. Das Massaker von Mullivaikkal war ein Blutbad, im dem Zehntausende umkamen und das unter dem Radar der Weltöffentlichkeit geschah.

Nach 2009 stoppten die Morde; die LTTE war zerschlagen, hinterließ aber ein politisches Vakuum, das bis heute fortbesteht. Mehr als 100 000 Menschen wurden in diesem Krieg ermordet. Die massive Unterdrückung der Tamilen hält an. Die Regierung ist nicht gewillt, den Tamilen ihr Land zurückzugeben.

Um die 3.000 tamilische politische Gefangene verrichten Zwangsarbeit. Die Region im Norden Sri Lankas ist mit 300 000 Soldaten (Luftwaffe und Marine nicht mitgezählt) durchweg militarisiert. Kriegsverbrechen werden nicht aufgearbeitet. Gedenkfeiern für die Toten sind nicht erlaubt.

Regierungskritiker verschwinden; mutmaßliche Abtrünnige werden gefoltert. Durch gezielte Siedlungspolitik versucht die sinhalesische Regierung, den Norden und den Osten der Insel zu spalten. Sinhalesische Siedler werden mit Privilegien ausgestattet, so dass die ökonomische Existenz tamilischer Einheimischer zerstört wird.

Noch heute werden viele Personen vermisst. Nur vereinzelt gibt es Demonstrationen von Tamilen in Jaffna oder Kilinochchi, die Informationen über den Verbleib verschwundener Angehörigen fordern. Tamilen in der Diaspora kämpfen um die internationale Anerkennung des "Strukturellen Genozids" an ihrem Volk.

Nicht jede Massengewalt ist ein Genozid

Die Definition "Genozid", die gezielte Vernichtung von Gruppen, erfuhr eine Bedeutungserweiterung. Jenseits der physischen Vernichtung bezeichnet "Kultureller Genozid" absichtsvolles Handeln, durch das die Unterdrückung der Sprache, der Religion, durch Landnahme und wirtschaftliche Ausbeutung die kulturelle Identität einer bestimmten (ethnischen) Gruppe zerstört und repressiv eine neue oktroyiert wird. Die Übergänge zur Zwangsassimilation sind fließend. Dabei bleiben die Betroffenen am Leben, werden aber massiv unterdrückt.

Geografisch näher liegende Massaker scheinen in der Öffentlichkeit größere Betroffenheit auszulösen. Die Massengewalt an Tamilen vor 13 Jahren und die fortwährende Unterdrückung mit dem Ziel der kulturellen Auslöschung bleiben von der Weltöffentlichkeit weitgehend unbeachtet.

Es erstaunt, dass seit drei Jahrzehnten währende lange Debatten über Konzepte wie "Identität", "Kultur" und "Gruppe", die in deren Dekonstruktion mündeten, in der heutigen Genozid-Forschung und in der Rechtspraxis kaum Spuren hinterlassen haben.

Robuste, statische Definitionen sind nun gar nicht mehr zeitgemäß und gelten als völlig überholt – und doch sind sie heute mehr denn je aktuell: Die Essenzialisierung von "Gruppe", "Volk" und "Kultur" zwingt die in Bedrängnis geratenen betroffenen Menschen dazu, sich in eine Art strategischer Opferschaft entlang bestimmter definierter Merkmale zu fügen.

Potenziell konkurrierende Opfererzählungen und affektive Aufladung

Wenn Justin Trudeau dem US-Präsidenten Biden beipflichtet, es handele sich im aktuellen Angriffskrieg Russlands in der Ukraine um einen Genozid an den Ukrainern, dann impliziert das auch eine Neubewertung der eigenen kanadischen Geschichte, und insbesondere der Kolonialverbrechen an den First Nations, die das Land aktuell beschäftigen.

Mit dem Begriff "Genozid" wurde kein neues Verbrechen bezeichnet, sondern nur eine Form der Massengewalt neu definiert. Die steile Karriere des Begriffs führte dahin, Genozid als das schrecklichste denkbare Verbrechen aufzufassen.

So nur wurde es überhaupt möglich, die Diskussion darüber, ob etwas "Genozid" genannt werden sollte, als einen Disput über das Verbrechen selbst aufzufassen – als würde mit der Einstufung als Nicht-Genozid das Leid und das Verbrecherische geleugnet und versucht, kollektive Leiderfahrungen zu delegitimieren.

Genozidale Diskriminierung und Leid, über Jahrhunderte tabuisiert, wandelten sich binnen weniger Jahrzehnte zu erstrebenswerten Attributen. Der Kampf um die Anerkennung von Leid wurde zum Wettkampf um das größte Leid, die schlimmste Vergangenheit, die diskriminierendste Gegenwart. Wie ist das zu erklären?

Nur das "Allerschlimmste", das Superlativ des Grauens, darf einen singulären Platz (Stichwort "Singularität des Holocaust") beanspruchen, an der Spitze der Opferkonkurrenten. Diese Beschwörungsformel ist inhaltlich leer; im Streit um Anerkennung des größten möglichen Leids geht es nicht um Argumente, sondern um Affekte.

Es geht um Aufmerksamkeitsökonomien, die sich auf den jeweiligen Ort in der Welt beziehen, den die Streitenden meinen behaupten zu müssen. Im Wettlauf um das Allerschlimmste geht es um Wichtigkeitskonkurrenz und moralische Relevanz. Implizit in der Erzählung ist auch, dass der, der am meisten gelitten hat, zu den Guten gehört.

Insofern darf es keine herausragende Rolle spielen, ob Massengewalt als Völkermord – eine juristische Einstufung – anerkannt wird oder nicht. Und das ist gar nichts Schlechtes – es verharmlost oder trivialisiert in keiner Weise die Schrecken der Behandlung der schwarzen US-Amerikaner, wenn man diese Behandlung "nur" als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Apartheid bezeichnet.

Dasselbe gilt für Kolonialverbrechen, Massaker und andere Gräueltaten in Kriegen. Massengewalt gegen Menschen ist der Schandfleck in der Geschichte eines jeden Täters. Ganz gleich, wie wir sie rechtlich beschreiben.


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https://www.heise.de/-7070797

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-biden-russland-putin-genozid-voelkermord-101.html
[2] http://www.preventgenocide.org/lemkin/AxisRule1944-1.htm
[3] https://en.wikipedia.org/wiki/A_Problem_from_Hell
[4] https://newlinesinstitute.org/uyghurs/the-uyghur-genocide-an-examination-of-chinas-breaches-of-the-1948-genocide-convention/
[5] https://www.youtube.com/watch?v=Rz_eCLcp1Mc&t=1s
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Liberation_Tigers_of_Tamil_Eelam