Medien im Nahost-Krieg: Ein Präsident, den man nicht (aner-)kennt

"Ein humorvoller Moment mit dem Präsidenten der Palästinensischen Autonomiebehörde Mahmoud Abbas". Bild (2009): Weißes Haus
Mediensplitter (54): Nachrichten sollen keine bestimmte Meinung nahelegen. Über angemessenen und abwertenden Sprachgebrauch. Journalismus darf kein Stroh dreschen.
In aktuellen Beiträgen auf tagesschau.de zum Krieg in Nahost ist dieser Tage immer wieder die Rede von "Palästinenserpräsident Abbas". Das machen mittlerweile viele etablierte Medien wie Die Zeit, Der Spiegel, Tagesspiegel oder auch Süddeutsche Zeitung.
Offenbar in Anlehnung an entsprechende Formulierungen auch in westlichen Nachrichten-Agenturen wie hier beim ZDF exemplarisch, mit Verweis auf die Deutsche Presse-Agentur (dpa) oder auf Agence France Press (AFP).
Das macht diesen Sprachgebrauch nicht angemessener. Nachrichten als journalistisch-informationsbetonte Beiträge haben die Form von sehr knappen Ticker-Teasern oder kurzen Meldungen oder längeren Berichten.
Sachlichkeit
Sie sollen laut Journalistik-Experten hierzulande wie Walther von La Roche nicht zuletzt besonders sachlich formuliert sein. Warum?
Weil sie als informationelle Grundversorgung für die Menschen in demokratisch verfassten Gesellschaften gelten und die Basis liefern sollen, damit sich diese Menschen möglichst eigenständig ihre Meinung bilden und entsprechend handeln können – z.B. wählen gehen, demonstrieren, eine Partei gründen oder in eine Gewerkschaft eintreten.
Vor allem Nachrichten sollen daher weder eine bestimmte Meinung nahelegen oder gar propagieren, und sie sollen mit Blick aufs Publikum im Sinne von "größter gemeinsamer Nenner" auch keine Person im Einzugsgebiet gleichsam "vor den Kopf stoßen", also durch abwertende Formulierungen schon frühzeitig ausschließen aus der Kommunikation.
Daher sei hier gefragt: Warum wird Mahmud Abbas - den man nicht mögen muss und kritisieren kann – als "Palästinenserpräsident" bezeichnet?
Und zwar mittlerweile nicht nur in Springer-Medien wie Bild, die auch hier wieder noch einen Schritt weiter sind und Abbas als "Palästinenser-Boss" abwerten. Das mag mit Springers deutlichen politischen "Unternehmensgrundsätzen" zusammenhängen.
Rechtsruck selbst hier?
Spannender scheint vor allem, warum mittlerweile auch viele andere Medien diese Wortwahl nachvollziehen. Rechtsruck selbst hier? Wenn Medien, die sich als "Mitte" verstehen dürften, zunehmend und "bis aufs Wort" so klingen wie jene aus dem klar konservativen Springer-Konzern? Schauen wir genauer hin:
Beim "Wording", einer anscheinend oft unbewussten redaktionellen Praxis, werden bestimmte Formulierungen gewählt, die, ob gewollt oder nicht, häufig deutlich wertend wirken. Nicht selten klar abwertend. "Palästinenserpräsident Abbas" mag dafür exemplarisch sein.
Die Gegenprobe
Ein probates Mittel der Medienanalyse, womit sich u.a. Sabine Schiffer beschäftigt, ist eine Art "Gegenprobe": Würden die gleichen oder sogar dieselben Medien auch formulieren: "Franzosenpräsident Macron" bzw. "Deutschenkanzler Scholz"?
Die Frage stellen heißt, sie zu beantworten: selbstverständlich nicht. Noch weniger wahrscheinlich "Amerikaner-Präsident Biden" oder gar "Israeli-Premier Netanjahu".
Um die sprachliche und damit auch soziale Schieflage ganz deutlich zu machen: Sich palästinensisch verstehende Menschen leben in den palästinensischen Gebieten (Gazastreifen, Westjordanland), aber nicht nur. Viele leben auch in den USA, in Deutschland etc. Sich jüdisch verstehende Menschen leben in Israel, aber nicht nur. Viele leben auch in den USA, in Deutschland etc.
Zu Recht aber käme keine ernst zu nehmende Redaktion hierzulande auch nur auf die Idee, Ausdrücke wie "Juden-Premier Netanjahu" oder "Juden-Präsident Herzog" zu verwenden. Eben weil solche Formulierungen klar abwerteten, hier insbesondere antisemitisch wären und wirkten.
Warum aber erscheint dann eine entsprechende Formulierung wie "Palästinenser-Präsident Abbas" mittlerweile verbreitet in vielen deutschen Medien?
Abwertungen
Wenn solche Formulierungen verwendet werden, wird damit die betreffende Person tendenziell (und tendenziös) abgewertet – womöglich nolens volens. Auch hier helfen medienanalytische Vergleiche, um sprachliche Strukturen und Muster des "Wording" und damit auch des "Framing" zu rekonstruieren, also des impliziten Vorgebens von Interpretationsrahmen mittels journalistischer Beiträge.
In Medien wie Bild wird nach dem gleichen Muster immer wieder geschrieben von "Russen-Präsident Putin" oder auch über "Ex-Russen-Präsident Medwedew" – was übrigens, abseits der Abwertung, schon deswegen abwegig ist, weil das Wort "Ex-" sich ja auf "Präsident" beziehen soll und nicht auf "Russen". Aber geschenkt – Hauptsache, die Blatt-Linie stimmt grundsätzlich.
Und diese Orientierung wirkt ja: Wenn in Nachrichten-Überschriften (und nicht nur in Kommentaren) bei Bild die Rede ist von "Kreml-Despot" oder auch von "China-Herrscher".
Konstruktiv: Wie es besser geht
Wie könnte die fragwürdige Formulierung "Palästinenser-Präsident Abbas" vermieden werden? Ganz einfach (und ohne sich an dieser Nachrichten-Stelle schon auf komplexe Debatten über dessen tatsächliche Legitimation oder Macht einlassen zu müssen) lautet eine konstruktive Kritik: "palästinensischer Präsident Abbas", mit dem Adjektiv als Attribut vorweg.
Dieses Eigenschaftswort als Antwort auf die Frage "Welcher/was für ein Präsident?" wertet selbstverständlich auch. Denn es gibt für uns Menschen kaum ein Wort, das gar nicht wertete – wenn uns etwas komplett gleichgültig wäre, würden wir uns damit gar nicht erst befassen, als endliche Wesen mit endlichen Ressourcen. Und somit hätten wir dafür wohl buchstäblich "keine Worte".
Aber eine Formulierung wie "palästinensischer Präsident" erscheint doch schon wesentlich sachlicher als "Palästinenserpräsident".
"Palästina-Präsident" wäre in mancher Hinsicht wiederum wertender und scheint zumal im Deutschen wenig praktikabel, weil es 1.) derzeit kaum einen physisch/geografisch existenten Staat "Palästina" gibt und, vielleicht noch wichtiger, weil 2.) der deutsche Staat nicht zur mittlerweile klaren Mehrheit der UN-Mitglieds-Staaten gehört, die Palästina bereits als Staat anerkannt haben, hier in der aktuellen Version von Wikipedia:
Von den 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen haben 138 (72 Prozent) den Staat Palästina als unabhängigen Staat anerkannt. Die Gesamtbevölkerung dieser Staaten beträgt mehr als 5, Milliarden Menschen, was in etwa 80 % der Weltbevölkerung entspricht. Seit dem 29. November 2012 (UN-Resolution 67/19) hat der Staat Palästina den Status eines Beobachterstaats bei den Vereinten Nationen. Durch diese Aufwertung des völkerrechtlichen Status Palästinas erhielten die Palästinenser Zugang zum Internationalen Strafgerichtshof und weiteren Unterorganisationen der UN.
Wikipedia
Zurück zur Sprachpraxis in weiten Teilen des hiesigen Journalismus.
Die Machtverhältnisse und Medienrealität
Hier wird, gleichsam in der Nuss-Schale oder eben im Brennglas einer vermeintlich unscheinbaren Formulierung wie "Palästinenserpräsident", auch deutlich, dass es einerseits um bisher etablierte Machtverhältnisse samt entsprechender Medienrealitäten geht (alle wichtigen "westlichen" Länder einschließlich Israels anerkennen bisher nicht die Existenz eines Staates Palästina), und dass andererseits diese Machtverhältnisse global in relativ starkem Wandel begriffen scheinen.
Der "Globale Süden" wirkt selbstbewusster, und das bisherige Bündnis des "globalen Nordens" scheint angesichts weltweiter Umwälzungen brüchiger: In der UN-Vollversammlung stimmten vor einigen Tagen mehr als zwei Drittel der Staaten-Vertreter per Resolution für eine sofortige humanitäre Waffenruhe im Gazastreifen.
Darunter viele Gesandte aus Ländern, die Palästina bereits als Staat anerkannt haben. Aber darunter auch Regierungen etablierter "westlicher" Länder wie Frankreich und Spanien. Andere Regierungen wie die deutsche, die britische und die italienische hatten sich enthalten. Einige wenige, insgesamt 14 Regierungen stimmten dagegen, darunter neben manchen sehr kleinen Pazifik-Staaten sowie Paraguay die Regierungen der USA und Israels sowie jene der vier EU-Staaten Österreich, Ungarn, Kroatien und Tschechien.
Was kann uns das Ganze lehren?
Es scheint angesichts globaler Krisen und Umbrüche sowie angesichts von Tiefstwerten, was das geschwundene Vertrauen vor allem junger Menschen gegenüber etablierten Medien betrifft, journalistisch mehr denn je angemessen, weil professionell, gerade in Nachrichten über Kriegsgeschehen besonders sachlich zu formulieren.
Sich stärker als bisher der eigenen sowie der redaktionellen Position samt der damit verbundenen Interessen und Beschränkungen bewusst zu werden. Nicht zuletzt dafür sollten Redaktionen nützlich sein – eben nicht als Sprachrohre organisierter Interessen, sondern als Organe gesellschaftlich-offener, auch selbstkritischer Kommunikation.
Denn sonst wäre Journalismus kaum etwas anderes als das, was Karl Kraus (1874 bis 1936) schon 1924, vor beinahe 100 Jahren, aphoristisch kritisierte: ein "Terminhandel", bei dem "das Getreide", also der eigene Stoff, der besondere Kern selbst als Idee nicht vorhanden sei, aber dennoch "effektives Stroh gedroschen" werde.