Medienversagen: Über Ballon-Lücken, Kampfdrohnen und Angriffskriege

Gemälde Drohnenkrieg von John Johnston, Acryl auf Leinwand, 2015. Bild John Johnston / CC BY-SA 2.0

Aus einem Spionageballon Chinas ist bereits eine drohende Ballon-Armada geworden. Warum die mediale Empörung? Die USA begehen weit schlimmere Grenzverletzungen. Ein Kommentar.

Wir wissen weiter nicht mit Sicherheit, was es mit dem Ballon auf sich hat, der von den USA vor der Ostküste abgeschossen wurde. Selbst die New York Times fühlt sich genötigt einzugestehen, dass noch unklar sei, ob der Ballon zu Spionagezwecke benutzt und von der chinesischen Regierung gestartet wurde.

Auch die Hardliner-Organisation "Center for Security and International Studies" in den USA stellt fest, dass "die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass es sich um einen verirrten Wetterballon handelt, der von seiner Flugbahn abgekommen ist".

Aber gehen wir davon aus, was sehr gut möglich ist, dass es sich um einen chinesischen Spionageballon gehandelt hat, der von der Regierung in Beijing bewusst über US-Territorium navigiert wurde. In diesem Fall ist es berechtigt, Kritik daran zu üben. Denn damit wird Misstrauen gesät, und es erhöht die internationalen Spannungen zwischen den beiden Ländern weiter.

Doch dann sollte umgehend die Einordnung kommen. Und hier versagen die Qualitätsmedien erneut. Statt sich in die Situation von anderen Ländern und deren Bevölkerung zu versetzen, die seit Jahrzehnten Opfer von aggressiven US-Grenzüberschreitungen werden, reihen sich die meisten Journalist:innen dem Washington-Establishment ein, das mit Anti-China-Rufen die Stimmung weiter anheizt.

Inklusive Selbstparodie: So wird analog zum "Missle Gap" (Raketen-Lücke) gegenüber der UdSSR im Kalten Krieg nun von einem "Balloon Gap" (Ballon-Lücke) gegenüber China gesprochen.

Der doppelte Standard in der Reaktion ist derart offensichtlich, dass viel intellektuelle Selbstdisziplinierung notwendig ist, um darüber hinwegzusehen. Denn Spionage ist keineswegs ein besonderer Charakterzug Chinas. Die USA sind Meister darin, selbst Verbündete systematisch auszuspionieren, siehe den NSA-Skandal und das Abhören von Merkels Handy.

Und auch, was die Verletzung von territorialer Souveränität anderer Länder angeht, sind die Vereinigten Staaten von Amerika führend. Sie bedrohen dauerhaft und mit oft tödlichen Folgen die Integrität anderer Nationen.

Nehmen wir zum Beispiel den Drohnenkrieg, den die US-Friedenaktivistin Medea Benjamin in ihrem gleichnamigen Buch "Killing by Remote Control" nennt. Pakistan, Afghanistan oder Jemen werden auf diese Weise seit zwanzig Jahren ins Visier genommen. Unter US-Präsident Barack Obama wurde das Drohnenprogramm stark ausgeweitet. Bis heute sterben Afghan:innen an den Bomben von Kampfdrohnen, die über ihren Köpfen kreisen und sie terrorisieren.

Die Tötungsroboter, gesteuert aus den USA – wobei die Signale an die Drohnen am anderen Ende der Welt über eine Relaisstation am US-Militärstützpunkt Ramstein/Deutschland weitergeleitet werden – haben ganze Familien, Hochzeits- und Beerdigungsgesellschaften ausgelöscht. Sie traumatisieren die Menschen, machen sie depressiv und schlaflos. Dazu kommen die unzähligen US-Raketenangriffe. Dagegen ist ein Spionageballon kaum der Rede wert.

Eine Studie aus dem Jahr 2021 kommt zu dem Schluss, dass rund hunderttausend US-Drohnen-Attacken und Luftschläge seit dem 11. September 2001 mindestens 22.000 Zivilisten getötet haben.

Aber auf diese permanente tödliche Verletzung von territorialer Souveränität anderer Länder durch die USA wird nicht hingewiesen, wenn es um den mutmaßlichen chinesischen Spionageballon geht. Es würde viel heiße Luft aus der Ballon-Affäre entweichen lassen.

Stattdessen schlagzeilt Tagesschau.de gestern munter im Fahrwasser eines Washington-Post-Artikels: "Weltweite Spionage per Ballon?" – aus Beijing. Jake Werner von Responsible Statecraft bringt es auf Telepolis auf den Punkt: Eine banale universelle Verhaltensweise wird künstlich aufgebläht und zum alleinigen Charakterzug eines bösartigen chinesischen Regimes gemacht, dem man nicht trauen darf.

Der Irak-Krieg ist in den Leitmedien kein Verbrechen

Ein ähnlicher doppelter Standard gilt in Hinsicht auf Angriffskriege. Der Überfall Russlands auf die Ukraine wird zu Recht als Verstoß gegen das Völkerrecht und Kriegsverbrechen gebrandmarkt. Für den Irak-Krieg wurde und wird dieser Maßstab aber nicht angelegt. Obwohl ein glasklares Beispiel für einen brutalen Angriffskrieg, gilt er weithin, wenn auch als gescheiterter Versuch, Demokratie und Stabilität in die Region zu bringen.

Vor fast exakt zwanzig Jahren, am 5. Februar 2003, log der damalige US-Außenminister Colin Powell vor dem UN-Sicherheitsrat über Beweise für ein mutmaßliches Massenvernichtungsprogramm des Irak. Ohne UN-Resolution starteten die Vereinigten Staaten daraufhin einen verheerenden Angriffskrieg gegen das Land, das sich gegen die überwältigende Militärmaschine der globalen Supermacht nicht wehren konnte. Studien gehen von rund einer Million toter Zivilisten durch den selbst erklärten "Anti-Terrorkrieg" der USA aus.

Schon mit einfachsten Mitteln lässt sich der niederdrückende doppelte Standard in der Behandlung der beiden Angriffskriege in der medialen Berichterstattung belegen. Man muss nur in das Archiv des Qualitäts- und Leitmediums Süddeutsche Zeitung gehen – um nur ein Beispiel zu nehmen – und ein paar Schlagworte in die Suchmaschine dort eingeben.

Die Wortkombination "Ukraine UND Angriffskrieg" ergibt für die knapp zwölf Monate nach Kriegsbeginn 2.373 Treffer, "Irak UND Angriffskrieg" für den gleichen Zeitraum nach der Invasion in den Irak hingegen ganze 67. Wobei bei den 67 Treffern nur ein Teil den Irak-Krieg als Angriffskrieg überhaupt bezeichnet (in einem Fall wird zum Beispiel über Saddam Husseins Überfall auf Kuwait als Angriffskrieg gesprochen). Und in den übrigen sind es fast ausschließlich Aussagen von Kriegsgegner:innen und Vertreter:innen der Friedensbewegung, die die SZ mitteilt.

Die Journalisten der Süddeutschen selbst enthalten sich bis heute fast gänzlich der Charakterisierung "Angriffskrieg" beim Irak-Überfall der USA, während sie demgegenüber durchgängig von einem russischen Angriffskrieg sprechen. Dass das auch die anderen Medien in Deutschland machen, lässt sich leicht bei einer Genios-Pressedatenbank-Abfrage belegen.

Der unterschiedliche Berichterstattungsmodus hinsichtlich der Folgen und Opfer der Kriege, der militärischen Unterstützung für das angegriffene Land, der Sanktionspolitik gegen den Aggressor, Forderungen nach einem sofortigen und bedingungslosen Ende des Angriffs usw. ist ebenso eklatant und leicht nachweisbar.

Es ist einer der Geheimnisse der intellektuellen und politischen Klasse, diesen Widerspruch nicht nur zu exerzieren, sondern in erstaunlichem Ausmaß verdrängen zu können, während man jeden mit Schlagworten wie "Whataboutism" oder "moralischem Relativismus" angreift, der auf den doppelten Standard verweist. Obwohl solche "radikalen Ansichten" in der Regel gar nicht erst in die öffentliche Arena zugelassen werden.

Die Bürger:innen sind auf eine vollumfängliche, differenzierte Berichterstattung angewiesen. Wenn aber Konflikte, Grenzüberschreitungen und Kriege nicht in notwendige Verstehenshorizonte gestellt werden, aus denen sie erst ihren politischen Sinn und Lösungsmöglichkeiten beziehen, befördert das Kräfte, die auf Eskalation und Konfrontation gepolt sind. Es stärkt Extremismus.

Das Verhältnis der USA und seiner Verbündeten zu China und Russland befindet sich in einem gefährlichen Stadium, angeheizt von öffentlicher Stimmungsmache, in dem die Hardliner Oberwasser haben und die Medien die Eskalationsspiralen weiterdrehen.

Es gäbe eine rationalere Reaktion: Die eigene, in der Dimension meist weiter reichende Gewalt-Politik angesichts der Grenzverletzungen und Aggressionsakte der anderen Seite zu hinterfragen und diplomatische Deeskalation zu wagen.

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