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Megakirchen

Die Crystal-Cathedral-Megakirche in Kalifornien. Foto: Nepenthes. Lizenz: CC BY-SA 3.0

Christliche Gemeinden, die nicht schrumpfen, sondern wachsen

In Deutschland stehen viele Kirchen leer, bei den Gottesdiensten bleiben die Bänke frei, und manche Gebäude werden gar nicht mehr als Kirchen genutzt. Es gibt aber auch sehr große Kirchengemeinden, und sie wachsen. Weniger in Deutschland, dafür aber in den USA, Südkorea, Brasilien und einigen afrikanischen Ländern.

"Megakirchen" nennt man solche meist protestantisch-evangelikalen Gemeinden ab 2000 Gottesdienstbesuchern pro Woche. Die Größte weltweit ist die Yoido-Gemeinde im südkoreanischen Seoul mit angeblich 230.000 sonntäglichen Gottesdienstbesuchern1 [1] bzw. 480.0002 [2] wöchentlichen Besuchern, während die deutschlandweit größte, das Gospel Forum Stuttgart "nur" auf etwa 3500 Besucher kommt. Was sind die Gründe für diese Entwicklung?

"Die größten Gemeinden weltweit sind evangelikal", freute sich kürzlich Idea, der (evangelikale) Informationsdienst der Evangelischen Allianz: "Eine Untersuchung ergab, dass fast alle zum charismatisch-pfingstkirchlichen Flügel gehören."3 [3] Die südkoreanische Yoido-Gemeinde gegründete Pfingstgemeinde beschäftigt demnach mehr als 600 Pastoren und hat über 600 Missionare in 50 Länder ausgesandt. Pfingstgemeinden betonten Zeichen und Wunder und man praktiziere Krankenheilung durch Gebet. Das Stuttgarter Gospel Forum ist eine unabhängige charismatische Gemeinde.

Trump nicht bibelfest genug

Ein Schwerpunkt dieser Entwicklung liegt in den USA: Laut Hartford Institute for Religion Research [4] gibt es dort ungefähr 1650 Megakirchen, deren größte in Houston, Texas im Schnitt 60.000 wöchentliche Besucher in den Gottesdiensten zählt. Sie sind gesellschaftliche akzeptiert, so sprach Megachurch-Pastor Rick Warren das "inauguration prayer" für Obama (vgl. Wildern im christlichen Paralleluniversum [5]). Allerdings tendieren die meist konservativen Pastoren eher zu konservativer Politik.

So schrieb Idea [6]: "Der Republikaner Donald Trump ist im Vergleich zur Demokratin Hillary Clinton der bessere Kandidat für das Amt des US-Präsidenten. Diese Überzeugung äußerte der leitende Pastor der Megakirche 'First Baptist Church' in Dallas (US-Bundesstaat Texas), Robert Jeffress." Allerdings findet auch Trump nicht immer Gnade vor den Augen der Evangelikalen, rügt Idea im selben Artikel: "Der Presbyterianer Trump gilt als nicht bibelfest. So hatte er bei einer Veranstaltung von 'Zwei Korinther, 3,17' gesprochen - statt korrekt vom 'Zweiten Korinther(brief) 3:17'." So etwas geht natürlich gar nicht ...

Polarisierung zwischen kleinen und großen Gemeinden

Die Anzahl der Christen in den USA nimmt nicht zu, aber sie verteilen sich anders: Vieles deutet auf eine zunehmende Polarisierung zwischen eher kleinen und sehr großen Gemeinden hin, so Thomas Kern [7], der den Lehrstuhl für Soziologie in Bamberg innehat. Zusammen mit Uwe Schimank [8], Professor für Soziologische Theorie an der Universität Bremen, führt er eine DFG-Studie [9] durch: "Weshalb sind Megakirchen attraktiv? Kulturelle Reproduktion und Netzwerkstrukturen einer neuen kirchlichen Organisationsform in den USA". Eine PostDoc-Stelle hatte Insa Pruisken [10] inne, die dazu Anfang 2013 vor Ort in Houston forschte und nun wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie in Chemnitz ist.

Ziel der Studie ist, das Wachstum von Megakirchen zu untersuchen. Eine "interessante Entwicklung", sagt Thomas Kern, "nämlich eine Umverteilung innerhalb der Kirchenlandschaft." Ganz kleine Gemeinden bis etwa 200 Besucher nehmen zu, ebenso wie die ganz großen mit mindestens 2000 Besuchern. Der mittlere Bereich jedoch nimmt ab, solche Gemeinden werden immer weniger. "Die großen Gemeinden werden nicht nur immer mehr, sondern tendenziell auch immer größer."

Die Zahl der US-Megakirchen sei seit dem Jahr 1970 stark gewachsen, bis 2012 um das 25fache pro einer Million Einwohner, von 0,2 auf 5,1. Die fünf größten haben etwa 150.000 sonntägliche Gottesdienstbesucher. Die tatsächliche Entwicklung sei allerdings schwer zu beziffern, die Zahl der Megakirchen sei möglicherweise viel größer, vermutet Kern. Erstens, weil es schon in den USA viele Denominationen gebe, die nicht zentral erfasst werden. Viele Gemeinden gehörten zudem keiner Denomination an - für wen sollen sie ihre Zahlen sammeln und liefern? Zweitens sei nicht immer klar, wie Gemeinden ihre Gottesdienstbesucher überhaupt zählten. Das Zahlenmaterial zu den Megakirchen müsse daher insgesamt sehr vorsichtig interpretiert werden.

Glaubensinhalte werden uninteressant

Immerhin zwei - tendenziell evangelikale - Organisationen beschäftigen sich mit der Materie, das Hartford Institute [11] sowie das Leadership Network [12]. Gemeinsam erstellten sie die 2015 Megachurch Study [13].

Nicht nur die Größe der Megakirchen ist für Forscher interessant - auch die Glaubensinhalte sind es - sie werden für die Gläubigen selbst nämlich uninteressant: Immer weniger Gläubige interessieren sich für theologische Fragen. Thomas Kern nennt es einen "Umbruch in der Kirchenlandschaft in den USA: Gemeinden ohne Denomination werden umfangreicher und scheinen eine Rolle zu spielen." In den späten 1980ern sprach der Religionssoziologe Robert Wuthnow [14] von einem "decline of denominationalism"; die theologischen Unterschiede zwischen den Kirchen verlieren für die Mitglieder immer mehr an Bedeutung. Nur noch eine grobe Orientierung zwischen evangelikal, fundamentalistisch und liberal sei interessant, so Kern, "aber die genaue theologische Zugehörigkeit einer Gemeinde ist für die Mitglieder nicht mehr ganz so wichtig. Die Leute interessieren sich für Inhalte, aber nicht für ihre theologische Fundierung."

Bekehrung und Abendmahl

Als Beispiel nennt er Bekehrung und Abendmahl: Die persönliche Bekehrung ist für die Evangelikalen ein "Muss" - aber die Feinheiten des Abendmahlsverständnisses? Bei dem sich beispielsweise Lutheraner und Reformierte stark unterscheiden? "Das sind wichtige theologische Fragen, über die man sich vor wenigen Jahrhunderten noch die Köpfe eingeschlagen hat, im Wortsinn, aber jetzt ist es nicht mehr wichtig. Wichtig ist nur noch die individuelle Erlösung."

Was nicht bedeutet, dass die Gläubigen ungebildet sind: "Ich würde nicht sagen, dass das Reflexionsvermögen abnimmt. Das Durchschnittsmitglied ist möglicherweise sogar besser biblisch gebildet, aber nicht theologisch systematisch. Man ist eher pragmatisch - und das ist auch typisch für Evangelikale. Der Glaube muss funktionieren, dann ist er richtig. Das heißt, er muss Alltagsprobleme lösen, es müssen Wunder passieren, dann weiß man, was richtig ist - das ist natürlich eine funktionalistische Erklärung." Die "Identität" der Gemeinde ist zunehmend durch eine pragmatische Ausrichtung bestimmt.

Was suchen die Leute in Megakirchen? Die Forscher sehen mehrere Gründe für den Zulauf

"Die Evangelikalen sind in den USA in den letzten Jahrzehnten sehr stark geworden", sagt Insa Pruisken: "Eine sozialstrukturelle Bedingung ist vermutlich, dass der Evangelikalismus zunehmend eine anerkannte Religion für die gebildetere Mittelschicht darstellt."

Für Thomas Kern ist der wichtigste individuelle Grund die Anonymität - wer will, könne anonym bleiben. Megakirchen finden sich in der Stadt, eine unverbindliche Zugehörigkeit ist möglich, der sonst oft üblichen Sozialkontrolle kann man ausweichen. Gleichzeitig wird die Teilhabe an einer intensiven Gemeinschaft geboten: Das ist für das Wachstum einer Megakirche genauso wichtig. "Die Gläubigen können aber selbst bestimmen, wie stark sie sich in die Gemeinde einbringen wollen. Gerade die Wahlmöglichkeit zwischen Anonymität und intensiver Gemeinschaft ist somit entscheidend."

Vom Kindergarten bis zur Insolvenzberatung

Sodann, weil die Religion pragmatisch ist, sind diese Kirchen theologisch eben auch nicht so streng, sondern fast volkskirchlich orientiert. Man sei evangelikal, die Stellung von Mann und Frau ist unterschiedlich, aber auch Homosexuelle könnten die Gottesdienste besuchen: " Man hört dann eben, dass man sein Schwulsein nicht ausleben solle, aber man wird da nicht unbedingt rausgeschmissen." Megakirchen grenzen sich von ihrer Umwelt weniger stark ab als viele traditionelle evangelikale Gemeinden.

Megakirchen bieten eine lebensnahe Beratung, und ihre Spiritualität ist an der modernen Lebensführung ausgerichtet. Es gibt alles vom Kindergarten bis zur Insolvenzberatung.

"Die Show ist perfekt"

Ein weiterer wichtiger Grund für ihr Wachstum sind die perfekten "Events", sagt Thomas Kern: "Die Gottesdienste und anderen Veranstaltungen sind absolut durchrationalisiert, im Gottesdienst ist jedes Element darauf ausgerichtet, dass Gläubige sich wohl fühlen: Die Parkplätze, die Begrüßung beim Eingang, die Sitzordnung, die Musik..." Ein großer Unterschied zu Deutschland: "Hier wird eine Liturgie 'runtergerissen', und wie der einzelne sich fühlt, ist egal. Aber in Megakirchen ist der Gottesdienst DAS zentrale Ereignis im Gemeindeleben. Die Show ist perfekt. Das ist gar nicht hämisch gemeint. Da gehen die Leute dann auch gern hin."

Aber nicht in Deutschland, sagt Insa Pruisken: "Megakirchen sind in Deutschland kein so relevantes Phänomen wie beispielsweise in den USA, es gibt vergleichsweise wenige sehr große evangelikale Gemeinden, die das Kriterium einer Megakirche von 2000 Gottesdienstbesuchern an einem Wochenende erfüllen. Zu einem wesentlichen Teil sind diese Gemeinden vermutlich auch sehr stark von den USA beeinflusst."

Das dürfte theologische und kulturelle Hintergründe haben. Eine theologische Begründung für das Wachstum ist der so genannte Missionsbefehl im Matthäusevangelium [15]: "so wird Wachstum legitimiert, und das will und muss jeder einzelne Gläubige in seinem Leben umsetzen. Diese Form von Religion findet vermutlich zurzeit weniger Akzeptanz in der katholischen oder evangelischen Kirche."

Hier geht es eher um Ökumene.


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[3] https://www.heise.de/tp/features/Megakirchen-3287498.html?view=fussnoten#f_3
[4] http://www.hartfordinstitute.org/megachurch/definition.html
[5] https://www.heise.de/tp/features/Wildern-im-christlichen-Paralleluniversum-3419815.html
[6] http://www.idea.de/politik/detail/us-baptist-donald-trump-ist-der-bessere-praesidentschaftskandidat-96981.html
[7] https://www.uni-bamberg.de/soztheorie/personen/lehrstuhlinhaber/
[8] http://www.empas.uni-bremen.de/index.php?id=98&no_cache=1
[9] http://gepris.dfg.de/gepris/projekt/210588186
[10] https://www.tu-chemnitz.de/hsw/soziologie/Institut/Profile/insap/index.php
[11] http://www.hartfordinstitute.org/
[12] http://leadnet.org
[13] http://www.hartfordinstitute.org/megachurch/2015_Megachurches_Report.pdf
[14] https://sociology.princeton.edu/faculty/robert-wuthnow
[15] http://www.bibel-online.net/buch/luther_1912/matthaeus/28/