Mehrheit für Ausweitung der Impfpflicht im Ethikrat und Warten auf Novavax
Gremium plädiert dafür, Bußgelder "in sozialer Staffelung" zu verhängen. Eine direkte Zwangsimpfung soll ausgeschlossen werden
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat die Empfehlung des Deutschen Ethikrats begrüßt, der er im vergangenen Jahr vielleicht noch widersprochen hätte. Die bisher nur für bestimmte Berufsgruppen vorgesehene Covid-19-Impfpflicht soll nach Mehrheitsmeinung des Gremiums ausgeweitet werden. 13 von 20 Mitgliedern des Ethikrats befürworten die Ausweitung auf alle in Deutschland lebenden impfbaren Erwachsenen. Sieben Ratsmitglieder plädierten dafür, die Ausweitung auf besonders "vulnerable" Erwachsene – wie Ältere und Vorerkrankte – zu beschränken.
Die am Mittwoch vorgelegte Ad-hoc-Empfehlung mit der Überschrift "Ethische Orientierung zur Frage einer allgemeinen gesetzlichen Impfpflicht" sei jedoch mit 20 Ja- und vier Nein-Stimmen verabschiedet worden, erklärte das Gremium.
Die Ausweitung sei zu rechtfertigen, wenn sie "gravierende negative Folgen möglicher künftiger Pandemiewellen wie eine hohe Sterblichkeit, langfristige gesundheitliche Beeinträchtigungen signifikanter Bevölkerungsteile oder einen drohenden Kollaps des Gesundheitssystems" abschwächen oder verhindern könne, heißt es in der Stellungnahme.
"Beeinträchtigung rechtlich und moralisch geschützter Güter"
Der Rat wies zugleich darauf hin, dass eine Impfpflicht immer eine "erhebliche Beeinträchtigung rechtlich und moralisch geschützter Güter" sei. Sie könne Zudem "kein Allheilmittel gegen die Pandemie sein, sondern nur als Teil einer umfassenden, evidenzbasierten, differenzierten und vorausschauenden Pandemie-Gesamtstrategie erwogen werden". Eine erweiterte Impfpflicht müsse daher von weiteren Maßnahmen wie einer "flächendeckenden Infrastruktur mit sehr vielen niedrigschwelligen Impfangeboten und ausreichend Impfstoff" flankiert werden.
Lauterbach begrüßte am Mittwoch die Stellungnahme des Ethikrats und betonte, bei einer Abstimmung im Bundestag selbst für eine Impfpflicht stimmen, weil eine "Bewältigung immer neuer Wellen" aus seiner Sicht nicht möglich sei.
Mehrere Monate vor Beginn der Impfkampagne hatte Lauterbach im Mai 2020 eine grundlegend andere Haltung geäußert: "Eine Impflicht macht bei SarsCov2 so wenig Sinn wie bei Grippe", hatte der SPD-Gesundheitspolitiker damals via Twitter erklärt. "Wenn die Impfung gut wirkt wird sie auch freiwillig gemacht. Dann keine Impflicht nötig. Wenn sie viele Nebenwirkungen hat oder nicht so gut wirkt verbietet sich Impflicht. Daher nie sinnvoll."
Vorbehalte bei Novavax möglicherweise geringer
Allerdings setzt er nun Hoffnungen in den neuen Corona-Impfstoff des US-Herstellers Novavax, der als "Totimpfstoff" auf einer anderen Technologie basiert als die bisher verfügbaren Vakzine, daher vielleicht bei Impfzögerern auf weniger Bedenken stößt und ab Anfang 2022 in Deutschland erhältlich sein soll.
Vier Millionen Dosen seien bestellt und würden bald zur Verfügung gestellt, versprach Lauterbach am Mittwoch in der Hauptstadt Die Effektivität zum Schutz vor symptomatischen Infektionen wurde von der EU-Arzneimittelbehörde EMA mit rund 90 Prozent angegeben. Für die neue Virusvariante Omikron ist das allerdings noch nicht geklärt.
Einige Skeptiker, darunter die prominente Linke-Politikerin Sahra Wagenknecht, die in ihrer Partei eine Minderheitenposition vertritt, hatten in den vergangenen Monaten erklärt, lieber auf klassische Totimpfstoffe zu warten. Ihr Parteivorstand hat sich bereits Anfang Dezember für eine allgemeine Impfpflicht für Erwachsene ausgesprochen, die laut Umfragen Anhängern aller Bundestagsparteien außer der AfD mehrheitlich befürwortet wird.
Novavax gilt zwar als Totimpfstoff und funktioniert nicht auf mRNA-Basis, ist aber auch kein ganz klassischer Totimpfstoff. Er enthält in Mottenzellen hergestelltes Spike-Proteine und einen Wirkverstärker. Die mRNA-Impfstoffe enthalten den im Reagenzglas hergestellten "Bauplan" für das Spike-Protein, also den Bestandteil, mit dem das Virus an menschliche Zellen andockt. Damit soll das Immunsystem für den Fall einer echten Infektion trainiert werden.
Ethikrat will "Frontstellung" vermeiden
Der Ethikrat rief am Mittwoch die Bundesregierung auf, bei der Umsetzung der Impfpflicht "bewusst darauf hinzuwirken, Frontstellungen zwischen geimpften und nicht geimpften Menschen zu vermeiden". Eine Durchsetzung der Impfpflicht mit körperlicher Gewalt müsse ausgeschlossen werden. Ratsmitglied Wolfram Henn schlug zur Durchsetzung der Impfpflicht wiederholte Bußgelder "in sozialer Staffelung" vor. Es dürfe "nicht angehen, dass sich wohlhabende Impfgegner 'freikaufen' können", sagte der Humangenetiker der Saarbrücker Zeitung. Die lange parteiübergreifende Absage an eine allgemeine Impfpflicht bezeichnete Henn als größten Fehler in der Pandemie-Politik "überhaupt".
Momentan gelten 70,5 Prozent der deutschen Bevölkerung als vollständig geimpft, darunter auch Minderjährige.