Impfpflicht naht – Bundestag soll ohne Fraktionszwang entscheiden
Scholz für Abstimmungsprozedere wie bei Organspende und Sterbehilfe. Auch der Vorstand der Partei Die Linke spricht sich nun für eine allgemeine Impfpflicht aus
Wie bei anderen ethisch heiklen Themen soll der Bundestag demnächst ohne Fraktionszwang über eine allgemeine Covid-19-Impfpflicht abstimmen. "Das ist eine gute Praxis bei so grundlegenden Fragen", sagte der designierte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Dienstagabend in den ARD-"Tagesthemen".
"Fast jeder Deutsche hat dazu eine Meinung. Ich glaube, das sind genau die Fälle, die so entschieden werden müssen." In der Vergangenheit war dies etwa beim Thema Sterbehilfe und der Neuregelung der Organspende so gehandhabt worden.
Scholz selbst will einer allgemeinen Impfpflicht zustimmen und rechnet mit einer Einführung im Februar oder im März. Laut einer aktuellen Umfrage sind inzwischen Anhängerinnen und Anhänger aller Bundestagsparteien außer der AfD mehrheitlich dafür.
"Verfallsdatum" der Impfungen noch nicht ausgemacht
Unsicher war sich Scholz zunächst beim "Verfallsdatum" der Impfungen: "Wir diskutieren über die Frage, wann es so ist, dass die alte Impfung nicht mehr den vollständigen Impfschutz gewährleistet», sagte er im ZDF-"heute journal". Wissenschaftler seien momentan der Auffassung, dass es nach sechs Monaten "dringend erforderlich" sei, eine neue Impfung zu bekommen. In der Europäischen Union würde darüber diskutiert, dass nach neun Monaten kein vollständiger Impfschutz mehr gegeben sei. "Ich glaube, das ist etwas, wo wir uns einklinken sollten", sagte Scholz
Mit der geschäftsführenden Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und den Regierungschefs der Länder hatte er sich am Dienstag zudem darüber verständigt, dass in den kommenden Tagen neue Maßnahmen zur Eindämmung der aktuellen Infektionswelle in weiten Teilen Deutschlands beschlossen werden. Geplant sind demnach unter anderem Kontaktbeschränkungen für Ungeimpfte und strengere Auflagen für Großveranstaltungen.
Eine gute Nachricht für Versandhandelsriesen für Amazon sind geplante "2G"-Regeln – also Zutritt nur für Geimpfte und Genesene – für weitere Bereiche, darunter der Einzelhandel mit Ausnahme von Geschäften für den täglichen Bedarf.
Linke für "sozial gestaffelte" Bußgeldbescheide
Wenn der Bundestag demnächst über die allgemeine Impfpflicht entscheidet, könnte das Abstimmungsverhalten mancher Abgeordneter auch davon abhängen, wie sie konkret durchgesetzt werden soll und welche Sanktionen vorgesehen sind. Denn für eine allgemeine Impfpflicht für Volljährige hat sich am Dienstag auch der Vorstand der Partei Die Linke ausgesprochen, deren Mitglieder staatlichen Institutionen und Pharmakonzernen ansonsten oft misstrauen und zum Teil auch Erfahrung mit Polizeigewalt und Bußgeldbescheiden gemacht haben – wenn auch aus völlig anderen Gründen wie etwa der Teilnahme an Demos und Blockadeaktionen.
In dem Vorstandsbeschluss "Corona gemeinsam besiegen – solidarische Notbremse jetzt!" heißt es unter anderem:
Die Linke steht an der Seite der Wissenschaft und fordert deshalb einen Lockdown sowie eine allgemeine Impfpflicht für Volljährige als Mittel zum Kampf gegen die herrschende Sars-CoV-2-Pandemie. Die Impfpflicht wird die vierte Welle nicht mehr brechen können, ist aber als ultima ratio ein entscheidendes Instrument, weitere Wellen zu verhindern und Menschenleben zu retten.
Wir halten außerdem eine partielle und nur Berufsgruppen-gebundene Impfpflicht für unangebracht, da sie einerseits das Problem nicht lösen wird und andererseits noch mehr Druck und Verantwortung auf die Schultern des Pflegepersonals ablädt.
Aus dem Vorstandbeschluss der Partei Die Linke
Aus Vorstandskreisen hieß es am Mittwochmorgen, eine Zwangsimpfung mittels körperlicher Gewalt sei natürlich indiskutabel und tabu. Parteivorstandsmitglied Lorenz Gösta Beutin erklärte außerdem gegenüber Telepolis: "Die Bußgelder müssten natürlich sozial gestaffelt sein."
Die Parteichefinnen Janine Wissler und Susanne Hennig-Wellsow hatten sich vor diesem Beschluss zwar beide klar für die Impfkampagne ausgesprochen, aber doch in sehr unterschiedlichem Ton zum Umgang mit bisher Ungeimpften geäußert.
"Eine Impfpflicht ist keine Zwangsimpfung"
Hennig-Wellsow hatte vor wenigen Tagen klar für eine allgemeine Impfplicht plädiert: "Eine Impfpflicht ist keine Zwangsimpfung. Die Durchsetzung von Impfpflichten durch körperlichen Zwang ist weder rechtlich noch moralisch zu rechtfertigen. Eine Impfpflicht wird deshalb hier als sanktionsbewehrtes Instrument verstanden", hatten Hennig-Wellsow und drei Parteifreunde in einem Beitrag für die Rosa-Luxemburg-Stiftung erklärt.
Wissler hatte dagegen in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Rundschau für die Impfung als "Akt der Solidarität" und für geduldiges Erklären geworben:
"Es ist eine Errungenschaft der Zivilisation, dass die Frage des Überlebens nicht Ergebnis von natürlicher Auslese und des Rechts des Stärkeren ist. Gerade für die Linke, die traditionell an der Seite der ‚Schwachen‘ steht, leitet sich ein Bekenntnis zum Impfen logisch aus dem Menschen- und Gesellschaftsbild ab", schrieb Wissler in der vergangenen Woche. "Wir werben für das Impfen. Wir tun das freundlich, aufklärerisch und mit wissenschaftlichen Fakten, ohne Unterstellungen, ohne Ungeimpfte pauschal als rechts oder Corona-Leugner abzustempeln", hatte sie betont.
Etwas verärgert wirkte Wissler allerdings über die ehemalige Faktionschefin der Linken im Bundestag, Sahra Wagenknecht, die in Talkshows ihre impfskeptische Privatmeinung in den Vordergrund gestellt hatte.
In einer Umfrage zur Impfpflicht nach Parteienpräferenz sollen sich zuletzt 64 Prozent der Anhängerinnen und Anhänger der Linken dafür ausgesprochen haben. In der Zielgruppe der Unionsparteien waren es 85 Prozent, bei der SPD 83 Prozent, bei den Grünen 75 Prozent und bei der FDP 56 Prozent. Lediglich bei der AfD waren die Befürworter mit 27 Prozent deutlich in der Minderheit.
Teil des Vorstandsbeschlusses der Linken vom Dienstag sind allerdings auch die Forderung nach Freigabe der Impfstoffpatente und die bestmögliche soziale Kompensation von Lockdown-Maßnahmen: "Selbstständigen und Beschäftigten muss unbürokratischer und schneller geholfen werden als in den letzten Wellen. Wer in Kurzarbeit geht, muss 90 Prozent vom Lohn erhalten", heißt es darin.
Wer an die Vernunft der Menschen appelliere, solle ihre Sorgen und Nöte respektieren und klar zusagen, dass niemand aufgrund neuerlicher Schließungsmaßnahmen zur Kontaktreduzierung seine Existenz verliere oder mit Einbußen rechnen müsse.