Juli Zeh zum Ukraine-Krieg: Verhandeln statt Wünschen

Ein Gräberfeld mit ukrainischen Flaggen

Ein Gräberfeld in Charkiw

(Bild: Jose HERNANDEZ Camera 51/Shutterstock.com)

Zeh kritisiert eine Politik der militärischen Stärke und Kriegsbefürwortung durch urbane Medienschaffende. Sie fordert mehr Mut zu Verhandlungen. Ein Telepolis-Interview.

Die Eskalation im russisch-ukrainischen Krieg seit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine am 24. Februar 2022 dauert inzwischen mehr als 1000 Tage an.

Über eine Million Tote und Verletzte und die Gefahr einer Ausweitung des Krieges durch weitere Raketenlieferungen der NATO an die Ukraine erhöhen den Druck auf die Bundesregierung, für einen Waffenstillstand zu wirken. In einem Appell sprechen sich 38 Menschen des öffentlichen Lebens für Friedensverhandlungen aus.

Die Schriftstellerin Juli Zeh ist eine der Unterzeichnerinnen des Appells. Im Telepolis-Interview spricht sie über die Notwendigkeit einer Verhandlungslösung im Ukraine-Krieg, die Vernachlässigung des Völkerrechts, Konflikte zwischen Stadt- und Landbevölkerung, auch in der Friedensfrage, sowie über den Beitrag von Schriftstellerinnen und Schriftstellern zum Frieden.

▶ Sie haben den "Appell der 38: Eine Minute vor 12!" unterzeichnet. Frau Zeh, was hat Sie dazu bewegt?

Juli Zeh
Unsere Gesprächspartnerin Juli Zeh
(Bild: Sven Mandel/Commons/CC BY-SA 4.0)

Zeh: Der Ukraine-Krieg ist eine Katastrophe für die Menschen in der Ukraine und nach wie vor eine eklatante Bedrohung der Sicherheit in Europa und weltweit. Die Anstrengungen, diesen Krieg zu beenden, dürfen nicht nachlassen, nur weil er jetzt schon so lange geht.

Die meisten der Leute, die den neuen Appell unterschrieben haben, sagen schon seit langer Zeit, dass der Krieg nicht anders enden kann als durch einen Waffenstillstand und den Versuch, eine Verhandlungslösung zu finden – auch wenn es nicht das ist, was wir uns wünschen.

Natürlich müsste, wenn es gerecht zuginge, Russland besiegt und die Ukraine in ihrem Territorium wiederhergestellt werden. Wir dürfen aber nicht mit dem Wünschenswerten argumentieren, sondern mit dem praktisch Machbaren und der dringenden Notwendigkeit, eine schlimmere Sicherheitsbedrohung zu minimieren.

Deshalb haben wir nun ein weiteres Mal wiederholt, dass der diplomatische Weg eingeschlagen werden muss, wenn möglich unter deutscher Mitwirkung.

Wer badet die Kriegspolitik aus?

▶ In Ihrem früheren literarischen Werk setzten Sie sich mit der Rolle des Völkerrechts im Krieg auseinander. Kann es einen Beitrag zum Frieden leisten? Muss es von uns allen dafür immer wieder von neuem erkämpft werden?

Zeh: Das Völkerrecht wurde in seiner Wirkung und Gültigkeit in den letzten zwei Jahrzehnten stark untergraben, weil mächtige Nationen sich nicht daran gehalten haben. Dazu gehören auch Länder aus der westlichen Hemisphäre.

Momentan scheint der Glaube zurückzukehren, man könnte ein Gleichgewicht in der Geopolitik nur durch Abschreckung und militärische Stärke herstellen, während der Glaube an Recht und Ausgleich zur Friedenssicherung zurücktritt.

Das ist falsch. Trotz der Rückschläge, die wir immer wieder erleben, müssen wir weiter daran arbeiten, den Frieden auf der Welt durch Verhandlungen, Vertragsschlüsse und Einigungen zu sichern und nicht durch gegenseitige Bedrohung.

▶ In Ihrem jüngeren literarischen Werk befassen Sie sich mit Konflikten zwischen Stadt- und Landbevölkerung. Worin sehen Sie die Ursachen für diese Konflikte und inwiefern können sie durch Krieg und Aufrüstung verschärft werden?

Zeh: Es geht vor allem auch um Konflikte zwischen soziokulturellen Gruppen. Die Menschen in der ländlichen Umgebung, wo ich lebe, haben die Menschen oft den Eindruck, dass in den Redaktionszimmern und Politikstuben der Hauptstädte vollmundig eine unbedingte Fortsetzung des Kriegs gefordert wird – während genau diese reichen, gebildeten und mobilen Menschen in den Städten aber niemals bereit wären, an der Front zu sterben.

Sie wären auch im Fall einer kriegerischen Gefahr für Deutschland selbst die Ersten, denen es möglich wäre, das Land zu verlassen und sich in Sicherheit zu bringen, weil sie in ihren Berufen auch an anderen Orten arbeiten können, Sprachen sprechen und vielleicht Freunde im Ausland haben.

Mit anderen Worten, man denkt in den weniger mobilen, bodenständigeren und schwächer gebildeten Gesellschaftsschichten oft: "Ihr fordert und entscheidet Dinge, die wir im Zweifel ausbaden müssen." Das erzeugt Wut, und diese Wut kann ich oft verstehen.

Schriftsteller für den Frieden: ein konstruktiver Diskurs

▶ Der Appell der 38 fordert: "Wir appellieren an alle politischen Akteure: Vergessen wir unsere Differenzen und handeln gemeinsam, um das Schlimmste zu verhindern!" Welche Rolle messen Sie Schriftstellerinnen und Schriftstellern dafür bei? Warum und wie sollten sie sich heute für den Frieden einsetzen?

Zeh: Wir Schriftsteller können nichts entscheiden, aber wir können versuchen, zum Diskurs beizutragen, Perspektiven zu ändern und sachliche Gespräche zu ermöglichen. Bei vielen wichtigen Fragen geht es momentan darum, den Diskurs weniger moralisch und dafür pragmatischer und konstruktiver zu führen – und dabei die Interessen von möglichst vielen Gruppen einzubinden.

Das ist eigentlich normale demokratische Praxis, damit tun wir uns derzeit aber ein wenig schwer. Ich glaube, an dieser Stelle können Schriftsteller, die es gewöhnt sind, sich in andere Menschen einzufühlen, vielleicht ein bisschen weiterhelfen.

Benjamin Roth sprach mit Juli Zeh. Juli Zeh ist Schriftstellerin, promovierte Juristin und ehrenamtliche Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg.

Ferner ist sie journalistisch aktiv und meldet sich in politischen Auseinandersetzungen zu Wort – unter anderem zur NSA-Affäre und zu Grundrechtseingriffen in der Covid-19-Pandemie. Zuletzt erschienen ihre Bücher "Zwischen Welten" mit Simon Urban im Lucherhand-Verlag und "Der war's" mit Elisa Hoven im Carlsen-Verlag.