Michael Lüders: Deutschlands Israel-Politik auf dem Prüfstand

Portrait von Michael Lüders

Michael Lüders auf der Leipziger Buchmesse 2017

(Bild: Amrei-Marie/Commons/CC BY-SA 4.0[null])

Der Bestsellerautor begibt sich mit seinem neuen Buch auf gefährliches Terrain. Schonungslos analysiert er die israelische Politik und schlägt ein Umdenken vor. Eine Rezension.

In den vergangenen Jahren war der Nahost-Experte, umtriebige Publizist und Nachfolger von Peter Scholl-Latour als Vorsitzender der Deutsch-Arabischen Gesellschaft (DAG) ein willkommener und vom Publikum geschätzter Kommentator der arabischen Welt.

Ob bei Phönix oder Anne Will, Lüders glänzte durch seine ruhige, faktenbasierte und ausgewogene Meinung, seine Sprachkenntnisse in der orientalischen Welt und eine Meinung, die oft konträr zum Mainstream den Diskurs bereicherte.

Der studierte Islamwissenschaftler wurde zudem zu einem gefeierten und gefragten Autor – seine Dutzenden von Werken brachten dem deutschsprachigen Publikum eine andere, der eurozentrischen Perspektive entgegengesetzte Faktenlage nahe. Im Zuge von Dscheikh Jarrah 2020 und dem 7. Oktober 2023, ist es um den ehemaligen Zeit-Redakteur stiller geworden.

Das hat einen Grund: Mit seinen Werken legt er bewusst den Finger in die offene Wunde der deutschen Staatsräson. Lüders entlarvt neben der Mitschuld der USA am "Armageddon im Orient" (so der Titel eines seiner Bücher von 2018) insbesondere die historischen und aktuellen Pläne wie Verbrechen der ultranationalistischen Regierung in Israel.

Lüders ist Gegenwind gewohnt: Die Berufung auf eine Gastprofessur in der Geburtsstadt von Karl Marx, der Universität Trier an der Mosel, hat heftige Reaktionen ausgelöst. Die konservative, pro-israelische Lobbyorganisation "Deutsch-Israelische Gemeinschaft (DIG)" protestierte gemeinsam mit dem AstA der Universität gegen insgesamt drei Gastauftritte.

Seine Analysen bestechen nach wie vor durch Klarheit, Mut und Schärfe und finden deshalb keinen Platz im Einheitsbrei deutsch-medialer Staatsräson. Nicht zuletzt um das zu ändern, treibt es Lüders in die politischen Reihen um Sahra Wagenknecht.

Auf der Suche nach Vergebung

Sein aktuelles Werk, ein 300-seitiges Recherche-Kolloquium mit dem Titel "Krieg ohne Ende?", ist im September 2024 im Goldmann-Verlag erschienen.

Das ist auf den ersten Blick erstaunlich: Der Goldmann Verlag ist ein Primus im Taschenbuchbereich und gehört zur Verlagsgruppe Bertelsmann. Die bisherigen Iran-Nahost-Werke waren noch beim Konkurrenten CH. Beck erschienen.

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In der heutigen repressiven Kunst- und Literaturszene ist es ein Achtungserfolg, dass Dr. Lüders im Kreis der renommierten und nicht in einem Kleinstverlag publizieren durfte. Ob dies auch in Zukunft so sein wird, bleibt abzuwarten. Denn das Werk mit dem Untertitel "Warum wir (die Deutschen, LS) für den Frieden im Nahen Osten unsere Haltung zu Israel ändern müssen" hat Sprengkraft.

Getreu dem Brechtschen Motto, dass bewusste Lügner Verbrecher sind, begibt sich Lüders auf Spurensuche der deutsch-israelischen Beziehungen.

Er klassifiziert die deutsche Nibelungentreue zu allen israelischen Verbrechen als historisch begründet und als Machtverhältnis. In Anlehnung der Knesset-Rede Angela Merkels von 2008 (S. 31) sei die israelische Sicherheit deutsche Staatsräson.

Jede Distanzierung oder auch nur entfernte Kritik daran sei ein Rückgriff auf den Antisemitismus der als überwunden imaginierten dunkelbraunen Vergangenheit.

Die in Deutschland diskutierte Gretchenfrage der palästinensischen Staatswerdung wird so zu einem "europäischen Geschichtsraum des Judenhasses und der Judenverfolgung" (S. 33) umgedeutet. Jegliche Kritik an Israel und seinem Handeln wird unter das pauschale Verdikt des Antisemitismus gestellt, das durch eine akademisch fragwürdige Definition von Antisemitismus vermittelt wird.

Delegitimierende Definition

Die Protagonisten von "Eretz-Israel", einem großisraelischen jüdischen Nationalstaat auf dem Territorium Ägyptens, des Libanon, des Flickenteppichs Palästina und aktuell auch Syriens, stützen Propaganda wie reale Macht – so Lüders – auf 2 Säulen.

Auf dem Schutz durch die Weltpolizei USA und auf der unteren Ebene auf der "Notwendigkeit, jeden politischen Versuch zu unterlaufen, der Israel delegitimieren, d.h. zu einem Kompromiss zwingen könnte" (S. 39). Ob der Parteicoup gegen Jeremy Corbyn oder die Anti-BDS-Kampagne, die Ihra-Definition von Antisemitismus wird dazu benutzt.

Dieses weltweit oft staatsoffiziell gewordene Narrativ setzt Antisemitismus mit Kritik an Israel gleich. Eine Blaupause für woke Cancel-Culture, repressiv-rassistische Law-and-Order-Politik und ein vorzeitiges Ende der Debatte vor dem Hintergrund eines völkermörderischen Krieges um Gaza-Stadt.

Ein gigantischer politischer Erfolg der Pro-Israel-Lobby, getragen von den Botschaften, dem "Hasbara-Netzwerk" und seinen Lobbyorganisationen.

In Deutschland mit verheerenden Folgen: Die angeschlagene Erinnerungskultur wird auf eine Gleichsetzung von Judentum und Nationalstaat Israel getrimmt. Der produzierte Philosemitismus, der sich "Zensur, Hexenjagd und Diskursverengung" (S. 49) zunutze macht, trägt so gerade nicht zu einem Friedensprozess im In- und Ausland bei. Vergebung wird so zur Unterstützung neuer Verbrechen.

Der deutsche Konsens, der auf geheimdienstlichen, diplomatischen, militärischen, wirtschaftlichen und politischen Zweckverbindungen mit dem israelischen Staat beruht, untergräbt so einen Beitrag zur Beendigung des Krieges und zu einer sicheren Lösung für beide (!) Seiten.

Den Kritikern des Gesagten wird entgegen allen (in der Arbeit minutiös dokumentierten) Tatsachen der Beruf, das gesellschaftliche Ansehen und die Reputation zerstört. Es bleibt zu hoffen, dass dem Autor dieses Schicksal erspart bleibt.

Die falsche Seite der Geschichte

In den folgenden Kapiteln breitet Lüders die brutale Entstehungsgeschichte des israelischen Projekts aus. Gespickt mit Zahlen, Daten und Fakten stellt er vergangene Pogrome gekonnt in Beziehung.

Entgegen der verbreiteten Annahme, nach dem 7. Oktober habe eine Schuldumkehr stattgefunden, ordnet Lüders die Ereignisse des 7. Oktober in den realen Kontext der Perspektivlosigkeit und Geschichtlichkeit von Unterdrückung und geronnener Entrechtung der palästinensischen Bevölkerung ein.

Mit dem klaren Bekenntnis, dass der individuelle Terror der Hamas abzulehnen und eine Perversion ist, betreibt Michael Lüders im besten Sinne soziologisch-politische Ursachenforschung.

Auf seiner Homepage und insbesondere mit seinen unregelmäßig und anlassbezogen erscheinenden Podcast-Episoden auf YouTube schafft der Politikwissenschaftler Kontextwissen ohne moralische Keule und Denkverbote.

Wenn die Bundesregierung in Person von Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) zum Befreiungstag von Auschwitz 2024 fordert, dass es wichtiger denn je sei, die Erinnerungskultur gerade nach dem 7. Oktober hochzuhalten, dürften sich Michael Lüders die Nackenhaare aufstellen.

Der Nahost-Experte fordert zu Recht, dass sich die Bundesrepublik als zweitgrößter Waffenlieferant Israels "dringend mit den Realitäten vor Ort auseinandersetzen" und ihre Politik überdenken müsse.

Doch das politische Berlin hat sich bisweilen gegen eine vernünftige Lektüre und für die falsche Seite der Geschichte entschieden.

Von Halberstadt nach Berlin

Die Gründungsphase des BSW war eine große Überraschung. Neben dem Ukraine-Russland-Konflikt und der Publizistin Gabriele Krone-Schmalz holte das Wagenknecht-Lager für den Brandherd Naher und Mittlerer Osten Michael Lüders an Bord. Inzwischen füllt Lüders im Wahlkampf Säle in der Provinz und tritt vor Ort mit gewohnt messerscharfem Verstand auf.

Neben seinem Engagement im erweiterten BSW-Parteivorstand wurde der gebürtige Bremer im sachsen-anhaltinischen Halberstadt auf den aussichtsreichen Listenplatz 1 für die Bundestagswahl gewählt. Je nach Wahlausgang ist es also nicht ganz unwahrscheinlich, dass aus dem Publizisten ein Berufspolitiker wird. Lüders' Kampf gegen die deutsche Verklärung Israels hätte dann einen neuen Schauplatz.

Zusammen mit dem erfahrenen Fabio de Masi könnte Lüders mit ihrem außenpolitischen, US-kritischen und friedenspolitischen Kurs neue Akzente setzen.

Es bleibt abzuwarten, ob und wie sich der politische Kurs des BSW entwickeln wird und wie viel reale Gegenmacht durch die Autoren erzeugt werden kann. Der Schritt von der kritischen Publizistik in ein machtpolitisches Haifischbecken mit opportunistischen Fallstricken ist riskant, aber in der gegenwärtigen Situation folgerichtig.