Machtwechsel in Syrien: Wenn die Falschen für die Richtigen gewinnen

Landkarte Syrien mit Händen darauf. Auf den Ärmeln Flaggen der Türkei, EU, USA und Israel

… dann werden sie schon auch richtig sein: Islamisten stürzen al-Assad, und der Westen jubelt. Als Dank bombardieren das Land USA, Israel und die Türkei. Wie passt das zusammen?

Jetzt ist der "Gewaltherrscher" also weg. Unter dieser Bezeichnung firmierte Baschar al-Assad seit Jahren in hiesigen Medien und nun ein letztes Mal (etwa Deutsche Welle und WDR).

"Die grausame Diktatur ist kollabiert", postet EU-Präsidentin Ursula von der Leyen auf X. Der französische Präsident Emmanuel Macron und der britische Premier Keir Starmer nennen die gestürzte Regierung "barbarisch".

Bundeskanzler Olaf Scholz stimmt in die Begeisterung ein: Assad habe "sein eigenes Volk auf brutale Weise unterdrückt, unzählige Leben auf dem Gewissen und zahlreiche Menschen zur Flucht aus Syrien getrieben, viele kamen auch nach Deutschland".

Wenn Gewaltherrscher "Gewaltherrscher" rufen

Eine Träne muss man sicher nicht einem Politiker nachweinen, der mit Polizei, Justiz, Geheimdiensten und Militär seine Herrschaft bestritten hat. Und der Widerstand mit ebendiesen Gewaltmitteln bekämpft hat.

Nur mutet es seltsam an, wenn die wesentlich mächtigeren Gewaltherrscher dieser Welt einem Baschar al-Assad das vorwerfen, was für sie in ihrem herrschaftlichen Alltag selbstverständlich ist: Schließlich gründet ihre Macht auch auf den beschriebenen Gewaltmitteln, und sie bekämpfen erbittert jeglichen ernsthaften Widerstand. Das kann tatsächlich furchtbare Ausmaße annehmen.

Da schenken sich die Staaten dieser Welt allerdings nichts. Sie organisieren sich alle mit Gewalt, was sonst. Insofern ist "Gewaltherrscher" ein Pleonasmus, zwei Begriffe, die das Gleiche bezeichnen. "Barbarisch" und "grausam" trifft auf sie alle zu, wenn es um den Erhalt ihrer Macht geht – gegen innere und äußere Feinde.

Und war es nicht "barbarisch" und "grausam" von den USA, ein ohnehin von Bürgerkrieg und Erdbeben erschüttertes Land 2019 mit noch verschärften Wirtschaftssanktionen weiter in Elend und Hungersnot zu stürzen? Mit Folter, Hinrichtungen, Menschenrechtsverletzungen kennen sich die nun besonders jubelnden USA, Israel und Türkei ebenfalls bestens aus.

Bestrebungen von Volksgruppen, sich vom Staat abzuspalten, werden mal unterstützt, wie im Kosovo, mal unterbunden, wie in Irland oder Spanien.

Ebenso Aufstände: Es gibt die begrüßenswerten wie in Libyen oder in der Ukraine. Und die abzulehnenden, wie in Afghanistan oder im Jemen. Es kommt eben darauf an, ob dies den machtpolitischen Interessen der maßgeblichen Staaten – in diesen Beispielen des westlichen Lagers – nützt oder schadet.

Die falschen Verbündeten? Dann ist ein Aufstand willkommen

Im Falle Syriens war die Entscheidung der genannten Nationen: Es nützt, denn Al-Assad und seine Baath-Partei haben die falschen Verbündeten – Russland und Iran. Und die Türkei konnte ihr Sonderinteresse ausleben, im Bürgerkrieg eine Partei, die Kurden, zu attackieren.

Denn ein Kurdenstaat in der Nachbarschaft ist der Albtraum für den türkischen Gewaltherrscher. Dagegen haben die USA und Israel nichts einzuwenden. Mit der zynischen Einschränkung Washingtons, die Kurden in ihrer Funktion als Gegenmacht gegen Al-Assad und vor allem als wirkungsvolle Kämpfer gegen die Restbestände des "Islamischen Staats" nicht allzu sehr zu schwächen.

Die Anzahl der in Syrien aktiven Gewalthaber vollständig aufzulisten, gleicht beinahe der Quadratur des Kreises. Das geht seit Beginn des Bürgerkrieges 2011 so und gilt seit dem Machtwechsel umso mehr.

Dabei hilft es nur etwas, zwischen den Akteuren zu unterscheiden, die einen heimischen Hintergrund haben und jenen, die ausländischen Mächten zugehörig sind. Denn die Verbindungen zwischen diesen beiden Gruppen gestalten sich vielfältig. Deren gleiche wie konträre Interessen ebenso – was die Sache so unübersichtlich und kompliziert macht.

Fast unmöglich: Alle in Syrien aktiven Gewalthaber auflisten

Ein kurzer Überblick über die aktuellen Hauptdarsteller hilft bei der Orientierung:

  • Die bisherige Herrschaft in Syrien unter Präsident Baschar al-Assad mit ihrer "Syrisch-Arabischen Armee" (SAA)
  • Die siegreichen Aufständischen Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS)
  • Die kurdischen "Demokratischen Kräfte Syriens" (SDK)
  • Die türkisch unterstützte "Syrische Nationalarmee" (SNA)
  • Die "Freie Syrische Armee" (FSA)
  • Der "Islamische Staat" (IS)
  • Sonstige marodierende Milizen, Plünderer, Deserteure usw.
  • Russland
  • Türkei
  • Iran
  • USA
  • Israel
  • Deutschland, Frankreich, Großbritannien, die Europäische Union, China – also alle sonstigen Mächte, die im Nahen Osten ihre Vorstellungen von einer ihnen passenden Ordnung zur Geltung bringen wollen.

Das "Böse" ist weg – aber hat es ein "Guter" ersetzt?

Die aus dem Ukraine-Krieg hierzulande beliebte Scheidung zwischen "Gut" und "Böse" gestaltet sich deshalb in Syrien schwierig. Der verhasste Herrscher ist weg, es lebe die neue Herrschaft? Nicht, dass der siegreiche HTS einen islamistischen Staat begründen möchte. Allzu friedlich, demokratisch und säkular ging es schließlich bisher nicht im syrischen Norden, in Idlib zu, wo der HTS bereits das Sagen hatte.

Und der HTS steht noch auf der Terroristen-Liste einiger Staaten, darunter die USA und die Türkei, wegen seiner Ursprünge als Ableger von al-Qaida. Außerdem war da doch was mit den Taliban in Afghanistan? Sie werden weiterhin nicht vom Westen anerkannt, sind offenbar die "bösen" Islamisten. Ganz zu schweigen vom IS, der immer noch einige, wenn auch kleine Teile von Syrien besetzt.

Die wirklich mächtigen und sich für die Region zuständig fühlenden Nationen sind daher misstrauisch. Doch die USA und Großbritannien können sich bereits vorstellen, HTS von der Terroristen-Liste zu streichen. So schnell werden die "Bösen" zu "Guten", wenn Staaten sie für ihre politischen Interessen benutzen wollen.

Erst einmal Fakten schaffen durch massive Zerstörungen

Einstweilen jedoch bombardieren die USA Stellungen der IS, die Türkei die kurdische Region, befeuert weitere Attacken gegen sie durch die SNA, und Israel nutzt die Gelegenheit, ein für alle Mal sämtliche Rüstungsbestände der bisherigen syrischen Herrschaft zu vernichten.

Die völkerrechtswidrig annektierten Golanhöhen werden natürlich für immer zu Israel gehören, tönt es aus Jerusalem.

Vorsorglich marschiert die israelische Armee von dort in die Pufferzone ein und rückt weiter auf syrisches Gebiet vor. Die dort stationierte UN-Truppe wird einfach überlaufen. Die Botschaft Israels an die neuen Machthaber: Widerstand ist zwecklos, denkt nicht mal dran. Die israelische Sicherheit wird daher folgerichtig mit der Zerstörung potenzieller Gegenwehr verteidigt.

Ein aufblühendes Syrien? Wen interessiert das?

Sieht so der Dank aus, dass sich das syrische Volk befreit hat? Endlich, nachdem jahrelang der Westen mit den USA an der Spitze alles unterhalb eines Krieges unternommen hatte, al-Assad zu stürzen? Jetzt haben die bösen Russen auch noch im Nahen Osten einen Verbündeten verloren, und der mindestens ebenso böse Iran seine "Achse des Widerstands" gegen Israel. Da könnte doch nun ein neuer Marshallplan für Syrien starten, mit viel Geld für den Wiederaufbau und einen demokratischen Vorzeigestaat in der Region?

Das würde ein ernsthaftes Interesse der vermögenden Nationen an Syrien voraussetzen. Derzeit sieht es danach nicht aus. Zumal diese bedeutenden Staaten gar nicht darin einig sind, was mit Syrien geschehen soll.

Dauerbrenner Washingtons: In Syrien sind die Falschen an der Macht

Den USA ist hauptsächlich daran gelegen, dass das Land als Verbündeter für Russland nun auf immer ausfällt. Schließlich hatte Russland Syrien lange unterstützt – gegen die vielen Versuche der USA, die Regierung von Baschar al-Assad zu stürzen. Diese Attacken hatten lange vor dem Ausbruch des Bürgerkrieges begonnen, reichen sogar bis in die 1950er-Jahre zurück.

Damals inszenierte die CIA diverse Putschversuche. Auch danach ging es immer wieder um die Weigerung Syriens, sich in eine vom US-Verbündeten Israel dominierte Nahostordnung einzufügen. Mit Russland und dem Iran als Unterstützer fiel die al-Assad-Regierung dann endgültig in Ungnade.

Das negative Interesse der USA

Wie die neuen Machthaber vom HTS mit den beiden verbliebenen Militärbasen der Russen umgehen, dürfte maßgeblich die US-amerikanische Haltung zu ihnen beeinflussen.

Ein weiteres rein negatives Interesse Washingtons: Der IS darf nicht durch den Machtwechsel wieder Oberwasser bekommen. Das warten die Amis allerdings nicht ab, sondern bombardieren IS-Stellungen vorsorglich. Ihre Militärstützpunkte behalten die USA bis auf Weiteres.

Die Türkei bombt ebenfalls weiter – gegen die von Kurden verwaltete Region im Nordosten, unterstützt dabei die Syrische Nationalarmee (SNA). Auch die einst starke, nun dezimierte Freie Syrische Armee (FSA) arbeitet dem türkischen Ziel, die Kurden zu bekämpfen, aus dem Süden zu.

Schon zu Zeiten Baschar al-Assads griff die türkische Luftwaffe und Armee die kurdische Region ständig an. Über diese Verletzung des Völkerrechts und eigentlich Krieg ohne Kriegserklärung gegen den syrischen Staat verlor im wertebasierten Westen kaum jemand ein kritisches Wort. Schließlich schwächte die Türkei dadurch Syrien. Und ein Interesse an einem kurdischen Staat hat hierzulande auch keiner.

Der Türkei geht es um Krieg gegen die Kurden und Einfluss in Nahost

Allerdings sollte es die Türkei auch nicht übertreiben. Denn die USA haben die Kurden dabei unterstützt, den "Islamischen Staat" in Syrien niederzuringen. Dafür waren die Kurden gut – aber eben nur dafür.

Israel schaut sich das einstweilen aus einer buchstäblich anderen Perspektive an: Dieser Staat zerstört vom Südwesten aus alle Gewaltmittel der gestürzten Herrschaft. Damit die neuen Machthaber nicht auf die Idee kommen, sie in die Waagschale gegen Israel einzusetzen – sprich: über ernsthafte Gegenwehr zu verfügen.

Es geht also noch mehr kaputt in Syrien als während des Bürgerkrieges. Drei mächtige Staaten setzen ihre negativen Sicherheitsinteressen durch.

Die USA ihr Interesse an einem für Russland dauerhaft ausfallenden Verbündeten und einem ebenso dauerhaft unbedeutendem Islamischen Staat. Die Türkei an der Zerstörung der Kurdischen Region und wachsendem Einfluss im Nahen Osten durch die unterstützte neue Herrschaft des HTS und Israel am endgültigen und irreversiblen Niedergang einer einstigen ernsthaften Bedrohung seiner Sicherheit.

Alle Staaten verteidigen sich – wer bedroht denn dann deren Sicherheit?

"Sicherheit" bedeutet für diese – wie für alle anderen machtvollen Nationen–, ihre Interessen gegen potenziellen oder tatsächlichen Widerstand anderer Nationen durchzusetzen. Je umfangreicher und weiträumiger diese Interessen beschaffen sind, desto mehr müssen solche waffenstarrenden Länder ihre Interessen verteidigen – mit der Androhung oder Anwendung von ökonomischer Erpressung und militärischer Gewalt.

Dies zum logischen Rätsel, warum es ständig zu Konflikten und Kriegen kommt – obwohl doch alle Staaten sich nur verteidigen und um ihre Sicherheit besorgt sind.

Bei alldem versuchen Zaungäste der Weltpolitik, einen lohnenden Einfluss auf das Geschehen zu bekommen. Frankreich und Großbritannien haben sich mit ihrer Luftwaffe zwar im Bürgerkrieg eingeschaltet gegen al-Assad. Sie sind indes aktuell aus dem Spiel, unterstützen aber den Machtwechsel und warten ab.

China hält sich einstweilen heraus, und "hofft, dass alle beteiligten Parteien von den grundlegenden Interessen des syrischen Volkes ausgehen und so schnell wie möglich eine politische Lösung zur Wiederherstellung der Stabilität in Syrien finden werden".

Deutschland applaudiert und will profitieren …

Deutschland kann kein militärisches Engagement vorweisen, entsprechend nicht als relevanter Akteur mitbestimmen, wie es in Syrien weitergeht. Doch Kanzler Scholz freut sich über die Ereignisse, mahnt eine "sichere Lebensweise" an, "Demokratie" und "dass Menschen unterschiedlicher Religionen zusammenleben können". Was ein hiesiger Politiker eben so sagt, der seinen Staat für das beste Modell hält.

Sein Parteikollege und Noch-Verteidigungsminister Boris Pistorius äußert sich da wieder einmal deutlich zackiger1: Es sei eine Situation dort entstanden, die "wir als Chance begreifen können und müssen".

Er besucht die 100 im nordirakischen Erbil, an der Grenze zu Syrien stationierten Bundeswehrsoldaten und sagt schon mal an, dass Deutschland und die EU in Zukunft "zu mehr Stabilität in der Region beitragen (wollen), auch mit militärischen Mitteln".

Merke: Wer in der Weltpolitik mitmischen will, benötigt nun einmal ein respektables Militär. Und das nicht nur zu Hause, sondern überall, wo die Musik spielt. Das ist Friedenspolitik à la SPD.

… mit mehr Bundeswehr in Nahost und massenhafter Abschiebung

Wenn doch jetzt friedliche und gar demokratische Verhältnisse eintreten, wie der Bundeskanzler hofft, können die vielen hierzulande geflüchteten Syrer zurückkehren! Da werden feuchte Träume von Herrschaften wahr, die für die hiesige Wirtschaft unnütze Flüchtlinge endlich loswerden wollen.

Asylverfahren für Syrer werden also gestoppt. Über Hunderttausenden von ihnen hängt nun eine Art Damoklesschwert: Werden wir abgeschoben in ein Land, das gar keine Existenzgrundlage für uns bietet? Abgesehen von der weiter grassierenden Gewalt.

Al-Assad ist weg – doch die Kämpfe in Syrien gehen weiter

Das Zerstörungswerk in Syrien hört auch deshalb nicht auf, weil sich ein Souverän über Land und Leute, mit definierten Grenzen und gültigen Pässen, noch gar nicht gebildet hat. Der HTS gebietet nur über einen Teil Syriens. Die anderen Regionen okkupieren die Kurden, türkische Einheiten, die USA, Israel und der IS. Und Russland hat noch seine beiden Militärstützpunkte in Hmeimim und in Tartus am Mittelmeer.

Außerdem ist der HTS ein Zusammenschluss von Rebellengruppen, die in der eingenommenen Provinz Idlib mit der Bevölkerung nicht zimperlich umgegangen sind. Berichte der Vereinten Nationen listen unter anderem auf: Hinrichtungen, Folter, Gewalt gegen Frauen, Kinder als menschliche Schutzschilde, Selbstmordattentäter, Unterdrückung von Kritik und Diskriminierung religiöser Minderheiten.

Von der wertebasierten und feministischen Bundesaußenministerin Baerbock hat man dazu bisher noch keinen Aufschrei vernommen. Sind halt die guten Islamisten, siehe oben.

Die Sicherheit des Westens wird auch in Syrien verteidigt

Wie auch immer, der Westen jubelt. Sein Sicherheitsinteresse hat sich im Fall Syrien so buchstabiert: weg mit einem Bündnispartner der Feinde Russland und Iran. Dem wurde nun Genüge getan.

Jetzt geht es darum, dieses Ergebnis zu festigen. Also auch die beiden verbliebenen russischen Stützpunkte sollten fallen. Der neue Machthaber HTS sollte das unterstützen und nicht auf die Idee kommen, in der falschen Richtung Beziehungen aufzubauen.

Wenn doch, müssten USA & Co sich erneut verteidigen. Denn zur weltweiten Sicherheit des Westens gehört ein Naher Osten, der der Ausbeutung des Kapitals und dem ihn schützenden Einfluss der erfolgreichen Staaten vollständig zur Verfügung steht.

Dieses Prinzip gilt auch im Falle Syriens. Der HTS sollte das beherzigen, wenn er an der Macht bleiben will. Für die Syrer unter welcher Herrschaft auch immer sind das keine guten Aussichten.

Aber um das gemeine Volk geht es nun einmal nicht bei Sicherheit und Verteidigung. Schlimmer: Die Untertanen müssen mit Leib und Leben dafür herhalten, wenn der Staat, dessen Pässe sie haben, sie zur Verteidigung in den Krieg zieht.