Nukleare Teilhabe: Deutschlands riskantes Atomspiel
Deutschland rüstet atomar auf. Die nukleare Teilhabe wird ausgeweitet. Was das für die Sicherheit in Europa bedeutet, lässt aufhorchen.
Seit fast 80 Jahren kennt die Menschheit mit Atombomben eine ihrer zerstörerischsten Waffen. Im Kalten Krieg schürten sie täglich Ängste, heute sind sie im Bewusstsein vieler Menschen in den Hintergrund gerückt. Dabei ist die Gefahr eines atomaren Krieges nach wie vor existent.
Die Informationsstelle Militarisierung (IMI e.V.) in Tübingen hat im Dezember ein Schwerpunkt-Heft mit dem Fokus auf aktuelle Entwicklungen um Atomwaffen herausgegeben.
Die Beiträge befassen sich mit der nuklearen Teilhabe-Doktrin der Nato, atomaren Ambitionen Deutschlands und der EU, russischer und US-amerikanischer Nuklearpolitik, der Gefahr eines Atomkrieges "aus Versehen", den Langzeitfolgen von Atomexplosionen und weiteren Fragestellungen.
Atomwaffen: Politische Interessen Deutschlands und der EU
Wie hat sich die deutsche Debatte über den Einsatz und Besitz von Atomwaffen entwickelt? Hiermit setzt sich Xanthe Hall, Abrüstungsreferentin der Internationalen Ärzte gegen Atomkrieg (Ippnw) in ihrem Beitrag zur nuklearen Teilhabe auseinander.
Die Bundesrepublik strebte bereits 1958 die Ausrüstung der Bundeswehr mit atomaren Trägersystemen an. In den 1970erjahren waren etwa 3.500 Atomwaffen in Westdeutschland stationiert. Der Nato-Doppelbeschluss von 1979, die Stationierung von Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern vorsehend, führte zu großen Protesten. Mit dem Beschluss des INF-Vertrages wurden sie 1987 wieder abgezogen.
Nichtsdestotrotz wurden nie alle Atomwaffen der Nato aus Deutschland abgezogen. Versuche der Außenminister Joschka Fischer 1998 und Guido Westerwelle 2010, die Erstschlagdoktrin der Nato zu ändern, blieben erfolglos.
US-Außenministerin Hillary Clinton erklärte 2010: "Solange es Atomwaffen gebe, müsse die Nato ein nukleares Bündnis bleiben."
Mit Aufkündigung des INF-Vertrages 2019 und der Stationierung neuer Atombomben und atomwaffenfähiger Kampfflugzeuge gewinnt die Frage nach Atomwaffen auf deutschem Boden an Brisanz. Hall empfiehlt ein Ende der nuklearen Teilhabe der Nato und einen Beitritt Deutschlands zum Atomwaffenverbotsvertrag.
Der Beitrag der IMI-Referentin Claudia Haydt befasst sich mit Ambitionen Deutschlands und der EU, über Atomwaffen zu verfügen. Während der Europaparlamentswahlen 2024 fragte SPD-Spitzenkandidatin Katharina Barley, ob eine EU-Atombombe für eine gemeinsame europäische Armee relevant sein könne. Seit dem Nato-Gipfel in Washington 2024 wird geplant, ab 2026 Mittelstreckenraketen in Deutschland zu stationieren, die auch atomar aufgerüstet werden können.
Haydt kritisiert das wachsende Risiko eines Atomkrieges durch die Stationierung der Mittelstreckenraketen wegen kurzer Vorwarnzeiten und höherem Risiko für Missverständnisse. Auch sie sieht im Beitritt zum Atomwaffenverbotsvertrag eine Perspektive, um einen Schritt zur atomaren Abrüstung zu gehen.
USA und Russland im atomaren Konflikt
Welche Nuklearpolitik können wir im kommenden Jahr von den Vereinigten Staaten erwarten? Regina Hagen, Referentin des Netzwerks Friedenskooperative, untersucht in ihrem Beitrag die Atompolitik des designierten US-Präsidenten Donald Trump und betrachtet dafür insbesondere seine Politik in der ersten Amtszeit. Sie konstatiert, dass die Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen seit 1945 ein parteiübergreifender Bestandteil von US-Außenpolitik ist.
In seiner ersten Amtszeit stellte Trump das Abkommen zwischen den USA und Iran infrage, was letztlich eine erhöhte Urananreicherung des Irans beförderte.
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Mit der Aufkündigung des INF-Vertrages 2019 trug die US-Administration zu einem verschärften atomaren Wettrüsten zwischen den USA und Russland, aber auch anderer Länder wie China, bei. Die Modernisierung und Vergrößerung des atomaren Potenzials der USA spiele auch im Project 2025 eine Rolle, so Hagen.
Auch von russischer Seite sei eher mit einem erhöhten atomaren Risiko zu rechnen, wie Wolfgang Schwarz in seinem Beitrag feststellt.
Der Ersteinsatz von Atomwaffen wird seit der Änderung der russischen Nukleardoktrin vom 25. September 2024 nicht nur bei Angriffen mit Massenvernichtungswaffen oder existenziellen Bedrohungen durch konventionelle Streitkräfte vorgesehen, sondern bereits bei Angriffen eines nichtnuklearen Staates unter Beteiligung einer Nuklearmacht und bei konventionellen Angriffen, die eine kritische Bedrohung für die russische Souveränität darstellen.
Auch bei massiven Abschüssen von Luft- und Raumfahrtmitteln über russischem Territorium sowie bei Aggressionen gegen Verbündete wie Belarus kann der Einsatz russischer Atomwaffen erwogen werden.
Atomkrieg aus Versehen und Langzeitfolgen
Wie kann es zu einem unbeabsichtigten Einsatz von Atomwaffen kommen? Karl Hans Bläsius, Professor für Informatik an der Hochschule Trier, geht dieser Frage in seinem Beitrag nach.
Hardware- und Softwarefehler und Bedienungsfehler in nuklearen Frühwarnsystemen können zu Fehlalarmen führen.
Eine politisch angespannte Atmosphäre kann das Risiko einer Fehlinterpretation weiter befördern. Die zunehmende Komplexität und Geschwindigkeit moderner atomarer Waffensysteme und die damit verbundene Verkürzung von Entscheidungszeiten kann das Risiko eines versehentlichen Atomkrieges erhöhen. Bläsius plädiert folglich für Maßnahmen zur Minimierung atomarer Risiken.
Wie wirken sich Atomwaffenexplosionen auf Umwelt und Gesundheit aus? Victoria Kropp, Vorstandsmitglied des Bundes für soziale Verteidigung (BSV e.V.) befasst sich in ihrem Beitrag mit dieser Frage.
Die US-Atomtests auf den Marshallinseln zwischen 1946 und 1958 zeugen von hoher Strahlenbelastung, verheerenden Umweltauswirkungen, einer Verseuchung von Böden und Lebensmitteln sowie einer Kontamination der Gewässer.
Ferner würde ein globaler Atomkrieg, so Kropp, die weltweiten Temperaturen senken und die Agrarproduktion drastisch reduzieren – mit Todesfolgen in Milliardenhöhe.
Alternativen zum Atomkrieg
Weitere Beiträge setzen sich unter anderem mit der Geschichte der Kernspaltung und der atomaren Aufrüstung konventioneller Waffen auseinander. Auch Analysen zur Entwicklung in der Bundeswehr und der deutschen Rüstungsindustrie sind im Heft enthalten.
Gibt es einen Ausweg aus der drohenden nuklearen Krise? Juliane Hauschulz und Aicha Kheinette von der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen (Ican) skizzieren in ihrem Beitrag Deutschlands Haltung zum Atomwaffenverbotsvertrag. Jenes UN-Abkommen, das Besitz, Herstellung und Einsatz von Atomwaffen verbietet, wurde seit 2021 von 94 Staaten unterzeichnet. Mit Indonesien hat sich der bevölkerungsreichste Nicht-Atomwaffenstaat angeschlossen.
Deutschland hat den Vertrag bisher nicht unterzeichnet. Die Bundesregierung nimmt als Beobachterin an den Vertragskonferenzen teil. Der Vertrag gewinnt an Unterstützung weltweit und es bleibt zu hoffen, dass auch die Bundesregierung sich ihm anschließen wird – "für eine friedliche und sichere Welt für alle Menschen".