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"Meine Feinde verteidigen"

Hassrede gegen Meinungsfreiheit

"Der einzige Weg, eine freie Gesellschaft gegen ihre Feinde zu verteidigen liegt darin, meine Feinde zu verteidigen". Der Satz stammt vom langjährigen Vorsitzenden der American Civil Liberties Union (ACLU), Aryeh Neier1 [1], der mit diesen Worten begründete, weshalb er - ein Jude, der als Kind vor den Nationalsozialisten fliehen musste - ausgerechnet das Recht amerikanischer Nazis verteidigte, in Skokie, einem von vielen Juden bewohnten Stadtteil Chicagos, zu demonstrieren. Für Neier war klar: Die Gefahr für die Demokratie, die von der Unterdrückung freier Meinungsäußerung durch staatliche Stellen ausgeht, ist vielfach höher, als die Gefahr durch "freiheitsfeindliche" Diskussionsbeiträge.

In der deutschsprachigen Debatte um Hassreden und Beleidigungen im Netz sucht man solche Stimmen derzeit noch vergebens. Angesichts rassistischer Hetze, zunehmenden Gewalt gegen Flüchtlinge, aber auch gewalttätiger Konfrontationen von Extremisten unterschiedlicher Lager - man denke nur an die "Hooligans gegen Salafisten" oder die Gaza-Demos im vergangenen Jahr - scheint sich ein breiter gesellschaftlicher Konsens für mehr Zensur und Verbote zu bilden.

Das Thema ist zum Dauerbrenner geworden: Eine zunehmend unübersichtlich werdende Menge an Veranstaltungen und Fachliteratur widmet sich ebenfalls dem Thema: Unter anderem verfasste zum Beispiel die Amadeu Antonio Stiftung (AAS) 2015 unter dem Titel "Geh Sterben!" eine Broschüre zum "Umgang mit Hate Speech im Internet".2 [2] Im deutschen Sprachraum erschien zuletzt im April 2016 das vielbeachtete Buch "Hass im Netz" der österreichischen Journalistin Ingrid Brodnig.3 [3]

Auf politischer Ebene hatte Justizminister Heiko Maas bereits im vergangenen Jahr eine Task Force zum Thema Hate Speech ins Leben gerufen und sich mit Plattformbetreibern auf einen Kriterienkatalog verständigt. Nun legt der Justizminister nach und wirft Facebook & Co. in einem Brief [4] vor, "das Ergebnis Ihrer Anstrengungen bleibt hinter dem zurück, was wir in der Task Force gemeinsam verabredet haben" und droht mit EU-weiten Regulierungen. Zugleich kam es vor wenigen zu ersten bundesweiten Hausdurchsuchungen wegen "Hassverbrechen im Internet".

Dabei wäre auch hierzulande eine kritische Debatte über die Gefahren neuer Gesetze dringend geboten, wie sie im englischsprachigen Ausland längst geführt wird: Als die Europäische Kommission vor einigen Wochen einen freiwilligen Verhaltenskodex [5] zum Umgang mit Hasskommentaren im Internet veröffentlichte, zogen sich maßgebliche NGOs wie Access Now und EDRi umgehend aus den Gesprächen mit der EU-Kommission zurück [6]: indem sich Facebook, Twitter, Microsoft, und Youtube zum Löschen bestimmter Inhalte nach Maßgabe "ihrer Regeln und Richtlinien und wo nötig auch Nationaler Gesetze"4 [7] verpflichteten, werde die "Privatisierung von Menschenrechten im Netz" betrieben, so die NGOs. Dies widerspräche der Grundrechtscharta der EU, die im Artikel 52 jede Art von Eingriffen in die Meinungsfreiheit ausdrücklich unter Gesetzesvorbehalt stellt.5 [8]

Auch der UN-Sonderberichterstatter zur Meinungsfreiheit, David Kaye, drückt in seinem diesjährigen Bericht seine "Besorgnis wegen der zunehmenden Verbreitung vager Gesetze [aus], die mit weit gefassten Verstößen auf Onlineinhalte zielen, und den Autoritäten unbegrenzte Möglichkeiten einräumen, jedweden Inhalt zu kriminalisieren, den sie für verwerflich halten".6 [9]

Als Stimme aus dem kulturellen Bereich widmet der Historiker Timothy Garton Ash7 [10] in seiner vor wenigen Wochen veröffentlichten rund 500 Seiten starken Monographie "Free Speech" ein ganzes Kapitel den Versuchen, Hassrede per Gesetz einzudämmen. Ash argumentiert, es habe sich gezeigt, dass die Anwendung solcher Gesetze in der Praxis "unberechenbar und oft unverhältnismäßig war. … Genau jenes Gleichheitsprinzip - insbesondere der Anspruch auf gleiche Behandlung durch den Staat - mit dem solcher Gesetze gerechtfertig werden, wird durch ihre willkürliche Anwendung untergraben."8 [11]

Wer seine Geschichte nicht erzählen kann, existiert nicht

In der oben erwähnten Broschüre der AAS erklärt deren Vorsitzende, Annetta Kahane, den Kampf gegen Hassrede zum "Kulturkampf der Gegenwart".9 [12] Da könnte sie Recht behalten, allerdings anders als sie glaubt: Die Trennung von Worten und Taten gehört historisch zu den Anfängen der europäischen Aufklärung und zu ihren Grundsäulen: Kugeln töten, Worte nicht - diese Sichtweise war und ist elementar für das Recht auf freie Meinungsäußerung. Was dagegen (zu) selten gesagt wird: Diese Sichtweise ist nicht zwingend, sie beruht auf einer gesellschaftlichen Verabredung: Systematisch sind Worte irgendwo zwischen Gedanken und Taten angesiedelt: Taten sind oftmals verboten und sollten es auch sein, Gedanken können nicht verboten werden.

Anders als unausgesprochene Gedanken bleiben Worte aber nicht folgenlos, das haben sie mit Taten gemein. Hetzreden haben in der Geschichte immer wieder zu Gewalttaten oder regelrechten Menschheitsverbrechen angestachelt, im Rahmen der Flüchtlingsdebatte lässt sich dies derzeit einmal mehr in all seiner Hässlichkeit beobachten. Wegen der sozialschädlichen Folgen, die bestimmte Reden ohne Zweifel haben können, war und ist die Redefreiheit in vielen Gesellschaften eingeschränkt oder schlicht nicht vorhanden: Blasphemie, aufstachelnde Reden gegen die Obrigkeit und ähnliches sind in den meisten Teilen der Welt verboten und waren es die meiste Zeit unserer Geschichte auch in Europa.

Jedoch: Menschen sind Sprachwesen, wie Salman Rushdie in seiner Rede zur Eröffnung der Frankfurter Buchmesse 2015 so eindringlich feststellte [13]: "Sie [die Menschen] existieren, indem sie sich ihre Geschichte erzählen." Oder umgedreht: "Wer seine Geschichte nicht erzählen kann, existiert nicht."

Die Kriminalisierung bestimmter Worte oder Reden kommt der Gedankenkontrolle so nahe, wie das in der Realität eben möglich ist: Ohne passende Worte fehlen uns die Mittel, unsere Umwelt auch nur gedanklich zu beschreiben, geschweige denn, uns über sie auszutauschen und zu neuen Gedanken anregen zu lassen. "Die Bedeutung der Redefreiheit", so der britische Wissenschaftsautor und Philosoph Kenan Malik [14], "liegt darin, dass sie die Voraussetzung bildet, jedwedes politische, soziale, moralische oder auch persönliche Problem zu durchdenken, den eigenen Horizont zu erweitern, die Standpunkte anderer zu verstehen und den eigenen Standpunkt zur Debatte zu stellen."

Die Durchsetzung der Redefreiheit als Grundrecht und Fundament einer demokratischen Öffentlichkeit war Ergebnis eines langwierigen sozialen Prozesses, an dessen Ende unsere heutigen Gesellschaften stehen, die das Wort eher in der Nähe des Gedankens sehen, als in der Nähe der Tat. Dieser Konsens fußt ausdrücklich nicht darauf, dass eine Rede als solche nie schädlich sein könne, sondern darauf, dass Redefreiheit Voraussetzung unseres Mensch-Seins ist. Der in der Debatte um Hassrede und Rassismus im Netz zum Ausdruck kommende Trend, Worte wieder stärker in die Nähe der Tat zu rücken, gräbt daher am Fundament der modernen Gesellschaft.

So heißt es bei der AAS: "Dabei steht die Sprache am Anfang: Hate Spech ist das motivierende Hintergrundrauschen zum gelebten Gewaltexzess. … Deswegen ist Sprache auch Handeln."10 [15] Ähnlich pointiert argumentierte auch die Netzfeministin Anne Wizorek in ihrem Vortrag auf der re:publika15 [16] zu ihrer Sicht auf die Meinungsfreiheit: "Durch Hate Speech im Netz wird Gewalt ausgeübt, es werden Menschen in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt und an der Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Geschehen gehindert."

In solchen Aussagen wird der Unterschied zwischen Worten und Taten systematisch verwischt: Worte, auch hasserfüllte Worte, können per se niemanden an irgendetwas hindern. Angst allerdings - etwa vor (Gewalt-)Taten, die den Worten folgen könnten - kann das, genauso wie die Taten selbst natürlich. Nicht Worte schränken Menschen in der Ausübung ihrer Freiheitsrechte ein, sondern die Gefahr oder Tatsache realer Gewalt und der Zweifel, ob Gesellschaft und Rechtsstaat potentielle Opfer erfolgreich schützen können.

Der Kampf gegen Hassrede als Instrument der Ausgrenzung

Für Demokratie, Freiheit, und vor allem für jegliche machtlose Minderheit ist die Unterdrückung der Redefreiheit immer schädlicher als das Aushalten der Freiheit mit all ihren Risiken: Schließlich sind es nicht die Mächtigen, die des Schutzes der Redefreiheit besonders bedürfen, sondern die Machtlosen: Insbesondere ihnen garantiert die Redefreiheit das Recht, jeden status quo infrage stellen zu dürfen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Wer mit Gesetzen gegen Hassreden oder -kommentare vorgehen will, muss aber definieren, was genau er meint - und es werden nicht die Machtlosen sein, die diese Grenzen definieren.

Im aktuellen Diskurs ist der Katalog zu verbietender Sprache politisch meist hochgradig einseitig, auch der Unterschied zwischen vulgärer, verunglimpfender Wortwahl und hasserfüllten Botschaften - die sich durchaus auch in harmlose Worte kleiden lassen - verschwimmt regelmäßig. Wer die Deutungshoheit innehat, übt sehr viel Macht aus: So forderte der Journalist Michael Seemann auf einer Tagung der Friedrich-Ebert Stiftung zum Thema "Wessen Internet? Geschlechterverhältnisse und Debatten im Netz", Plattformen wie Twitter müssten "eine klare Haltung gegenüber bestimmten gesellschaftlichen Strömungen" entwickeln und deutlich machen, dass manche dort einen "Safespace" hätten, andere, wie etwa "Maskus" (Männerrechtler) "keinen Safespace".11 [17] Für Diskussionsteilnehmer mit unterschiedlichen Ansichten sollen also unterschiedliche Freiheiten gelten.12 [18] Was im Gewand angeblich "neutralen" Engagements für eine zivile Diskussionskultur daherkommt, entlarvt sich als Strategie, den eigenen Standpunkten als einzig sagbaren durchzusetzen.

Auch in der Broschüre der AAS wird sehr genau definiert, gegen wessen Rede effektiver vorgegangen werden soll und wessen Rede "unproblematisch" ist: Hassrede heißt es dort, "kann nicht aus dem jeweiligen Kontext gelöst werden. Dieser Kontext ist meist von der nationalstaatlichen Ordnung geprägt. … Grundlage für Hate Speech ist immer eine bestehende Diskriminierung von Gruppen aufgrund von Hautfarbe, Gender, Sexualität, ethnischem Hintergrund oder Religion. Hate Speech funktioniert nur, wenn sie … in Einklang mit gesellschaftlicher Diskriminierung steht. Rassismus gegen Weiße zum Beispiel kann situativ stattfinden, hat jedoch keine gesellschaftliche Dimension. Entsprechend fallen abwertende Aussagen über Weiße (z.B. »Kartoffel«) nicht unter Hate Speech, da ihnen schlicht die gesellschaftlichen Konsequenzen fehlen."13 [19]

Wer so argumentiert, begibt sich auf extrem dünnes Eis: Was genau ist denn die "gesellschaftliche Dimension"? Was auf nationalstaatlicher Ebene gilt - etwa die Diskriminierung von Migranten bei der Wohnungssuche -, kann sich auf Schulhöfen und in Stadtteilen, in denen das Leben der jeweiligen Sprecher stattfindet, ganz anders darstellen. Gleiches gilt für die globale Ebene: Sind Muslime Angehörige einer "machtlosen und entrechteten Minderheit" (so etwa er amerikanische Cartoonist Garry Trudeau in einer Polemik gegen Charlie Hebdo, in der er dem Magazin Hassrede vorwirft14 [20]), oder handelt es sich um die Angehörigen einer mächtigen Weltreligion mit 1,5 Milliarden Gläubigen und Milliarden saudischer Petrodollars im Rücken?

Was ist mit einem deutschen Dschihadisten, der sich im Internet auf einer Webseite radikalisiert, die im Iran, dem vom IS kontrolliertem Gebiet oder in Afghanistan gehostet und über Umwege von Saudi-Arabien finanziert wird? Entscheidend für unseren Kontext sind nicht die Antworten auf diese Fragen, sondern die Tatsache, dass diese Fragen in einen offenen demokratischen Dialog hinein gehören und nicht Sittenwächtern überlassen werden dürfen, die anhand ihrer eigenen Weltsicht entscheiden, was überhaupt diskutiert werden darf.

Im Vergleich zur AAS argumentiert die österreichische Autorin Ingrid Brodnig angenehm unaufgeregt, doch auch sie schreibt, es sei "eben ein Irrtum, dass im Internet jede Stimme und jeder User gleich schützenswert ist". Eine Diskussionskultur, so eines ihrer Beispiele [21], "in der Verschwörungstheorien gleichrangig mit wissenschaftlichen Fakten behandelt werden, ist nicht schützenswert."

Dies scheint im ersten Moment einleuchtend, doch so Manches, was wir heute über unsere Überwachung durch Geheimdienste als Tatsache wissen, galt bis zu den Enthüllungen Edward Snowdens als "Verschwörungstheorie". Wissenschaftlicher Dialog beruht auf dem Wechselspiel zwischen These und Antithese, bestimmte Thesen, und seien sie noch so abstrus, von vornherein auszuschließen, schadet diesem Dialog. Und was hat das Vertreten möglicherweise abwegiger Vorstellungen mit Beleidigungen und Drohungen zu tun?

Die Broschüre Hate Speech [22] der "Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendschutz (AJS) Landesstelle NRW" definiert Sexismus eng als "Diskriminierung und Abwertung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts". Ausgeschlossen scheint dagegen zu, dass sich Sexismus auch gegen Männer richten könne, etwa im Kontext von Väterrechten nach Scheidungen, oder durch Aussagen wie "Ich bade in deinen Männertränen!".

Auch Brodnig nennt als weiteres Beispiel für "nicht schützenswerte" Diskussionskultur herabwürdigende Bezeichnungen für Frauen ("Schlampe") und übersieht die Einseitigkeit: Natürlich disqualifizieren derartige Ausdrücke den Sprecher für jede ernsthafte Debatte. Doch jeder, der sich - etwa auf Twitter - bereits einmal den Zorn aufgebrachter Netzfeministinnen und ihrer "Allys" zugezogen hat, weiß, dass Aggressivität und herabwürdigende Sprache keine Frage des Geschlechts sind:

Der amerikanische Filmregisseur Joss Whedon [23] (der sich durch seine vermeintlich sexistische Behandlung der Marvel-Figur "Black Widow" den Zorn vieler Netzfeministinnen zuzog) sei als prominentes Beispiel genannt. Auch der oben zitierte Journalist Michael Seemann (der die "Safe Spaces" forderte), greift selbst ab und zu tief ins Wörterbuch des Unmenschen, zum Beispiel wenn er über Twitter Nutzerlisten mit der Bemerkung [24] "menschlicher Abschaum zum Spamblocken" verbreitet oder den Holocaust verharmlost [25], indem er wissen lässt, er nehme "Maskus halt so ernst wie Holocaustleugner".

Vor einigen Wochen erst stand die britische Radiomoderatorin Julia Hartley-Brewer im Mittelpunkt einer hasserfüllten Kontroverse auf Twitter, nachdem ein Beitrag zum Terroranschlag in Orlando eskaliert war, bis der eingeladene LGBT-Aktivist bei laufender Sendung das Studio verlassen hatte.15 [26]

Der Wert der Vielfalt liegt in der Konfrontation

Fragt man heutzutage nach Macht und Ohnmacht, wirkt ein Verweis wie der auf die "nationalstaatliche Ordnung" angesichts der Vielfalt moderner Gesellschaften hoffnungslos aus der Zeit gefallen. Einwanderung, Individualisierung, Globalisierung prägen immer komplexere soziale Verhältnisse, die durch vielschichtige und vor allem bewegliche Machtstrukturen gekennzeichnet sind. Unter diesen Bedingungen lassen sich "Oben" und "Unten" oft nur schwer und vor allem nicht unabhängig vom jeweiligen Kontext bestimmen:

Der muslimische Einwanderer im Westen kann in vielfacher Hinsicht Opfer von Rassismus sein - versucht er aber, in seiner Familie und der islamischen "Community" die Regeln der Scharia durchzusetzen, wird er zum Täter. In vielen Teilen der Welt werden Frauen immer noch massiv unterdrückt, andererseits verfügen sie dank des Feminismus hierzulande über gut vernetzte, sehr einflussreiche Organisationen, die ihre Interessen bis auf die europäische Ebene vertreten. Wer Träger des Privilegs ist, hängt vom konkreten Thema ab.

Je mehr unterschiedliche Gruppen eine Gesellschaft ausmachen, desto unvermeidlicher wird es passieren, dass die Ansichten und Lebensweisen der einen Gruppe von Angehörigen der anderen als verletzend empfunden werden. Hierauf mit Einschränkungen der Meinungsfreiheit zu reagieren, errichtet überall Mauern: 2007 warb die Schwedische Evangelische Allianz auf großen Plakaten für die Beibehaltung der Ehe als Bund zwischen einem Mann und einer Frau. Die Plakate zeigten eine "Normalfamilie", der Text bestand aus drei Worten: "Mutter. Vater. Kinder."

Es folgte eine landesweite Debatte, in der prominente Politiker ein Verbot forderten, weil das Plakat ein Beispiel für "Hassrede" sei: Es könne von Alleinstehenden, Geschiedenen oder Homosexuellen als beleidigend empfunden werden.16 [27] Sicher, die Aussage des Plakats ist ohne Zweifel homophob - aber immerhin knapp zwanzig Prozent der Deutschen sind gegen die völlige Gleichstellung der "Homo-Ehe" und fast drei Viertel (72 %) sind der Meinung, "Ein Kind braucht ein Heim mit beiden: Vater und Mutter, um glücklich aufzuwachsen".17 [28] In welcher Gesellschaft landen wir, wenn wir dieses Segment der Bevölkerung zum Schweigen bringen, um die Gefühle eines anderen Segments nicht zu verletzen?

Richtig wäre der umgekehrte Weg: Wie Kenan Malik zu Recht schreibt, braucht eine vielfältiger werdende Gesellschaft nicht weniger, sondern mehr Meinungsfreiheit.18 [29] Das Positive, das Befreiende in der neuen Vielfalt liegt ja gerade nicht im unhinterfragten Nebeneinander, sondern darin, dass die Vielfalt uns mit neuen Perspektiven konfrontiert und uns hilft, aus dem Gefängnis der eigenen tradierten Vorstellungen auszubrechen. Das geschieht aber nur, wenn diese Vielfalt in einer vielfältigen Öffentlichkeit gelebt wird und aufeinandertrifft. Gelebte Vielfalt verträgt keine "Vorauswahl" an Meinungen, die wir zum Diskurs zulassen und solche, die wir nicht zulassen. Malik: "Zu akzeptieren, dass bestimmte Dinge nicht gesagt werden dürfen, bedeutet zu akzeptieren, dass bestimmte Formen von Macht nicht infrage gestellt werden dürfen."19 [30]

Echokammern zerstören den öffentlichen Raum

Dennoch stellt der Hass im Netz für die demokratische Debattenkultur ein großes Problem dar. Doch wer etwas dagegen unternehmen will, darf nicht zur Zensur greifen, sondern muss den Tribalismus der Netzgemeinde und ihre Echokammern ins Visier nehmen: In der Frühzeit des Internets dachte man, das Netz würde als großer "Gleichmacher" wirken: Die Zugangshürden zum öffentliche Raum würden sinken, körperliche Merkmale wie Geschlecht oder Hautfarbe in der digitalen Kommunikation keine Rolle mehr spielen, der öffentliche Raum selbst würde so demokratisiert werden: Tatsächlich zeigt sich jedoch immer deutlicher, dass Internetnutzer dazu neigen, sich in Gemeinschaften und Netzwerken Gleichgesinnter zu sammeln, "Echokammern" in denen die eigene Meinung wie ein Echo "zurückhallt".20 [31] Fast im Gegenteil zu dem, was erwartet wurde, fördert das Internet nicht den Kontakt zu anderen Meinungen, sondern reduziert ihn.

Die Folgen dieses neuen "Tribalismus" (Ash) könnten kaum dramatischer sein: Das Entstehen der modernen Demokratie hing eng mit der Urbanisierung und dem Entstehen öffentlicher Räume, Lebensstile und folglich auch Persönlichkeitsstrukturen zusammen, in denen die permanente Begegnung mit Anderen zum unvermeidlichen Alltag (am Arbeitsplatz, beim Freizeitvergnügen, auf der Straße) gehört. Der Rückzug in die Gemeinschaft Gleichgesinnter, wie ihn das Netz ermöglicht, stärkt den Confirmation Bias (also unsere Neigung, Informationen, die unsere Meinung bestätigen, ernster zu nehmen als widersprechende Informationen).

Dieses Auseinanderfallen des öffentlichen Raums befördert Radikalisierungsprozesse - wobei der konkrete Inhalt der Radikalisierung fast beliebig ist: Manche steigern sich in Verschwörungstheorien hinein, andere in Esoterik, religiösen Fundamentalismus, Rechts- oder Linksextremismus, Radikalfeminismus oder Antifeminismus. In einer zunehmend zerfaserten Öffentlichkeit wird die andere Meinung fast nur noch als Provokation wahrgenommen, nicht als legitimer Bestandteil einer demokratischen Debattenkultur.

Forderungen wie die von Michael Seemann nach mehr "Safe Spaces" sind deshalb nicht nur falsch: Solche Konzepte beschleunigen die Bildung von Echokammern weiter und sind das exakte Gegenteil dessen, was wir brauchen.21 [32]

Statt Zensur zu betreiben, müssen wir mit allen Mitteln - technisch, sozial und bildungspolitisch - der Zerstörung des öffentlichen Raums entgegenwirken. Technisch bedeutet dies, Strukturen zu schaffen, die die Konfrontation mit anderen Meinungen gezielt fördern: Zum Beispiel nützen die Kommentarfunktionen und "like"-Buttons vieler Plattformen derzeit vor allem den Vielschreibern und den Schreibern mit den aggressivsten Tönen.22 [33] Stattdessen sollte die Sichtbarkeit insbesondere jener Kommentare gefördert werden, die dem ursprünglichen Artikel widersprechen und erkennen lassen, dass sich der Kommentator Mühe gegeben hat (etwa anhand von Kriterien wie Textlänge, Wortwahl oder durch das Verlinken von Quellen).

Ob wir uns mit anderen Meinungen konfrontieren oder einigeln, ist letztlich auch eine Willensfrage. Wir müssen deshalb Medienkompetenz schulen, die dazu anleitet, im Internet die andere Meinung bewusst zu suchen. "Newsgroups", die neutral Meldungen zu ihrem jeweiligen Thema sammeln, eignen sich hierfür besser als eine weltanschaulich festgelegte Gemeinschaft von Aktivisten, zu welchem ehrenwerten Anliegen auch immer.23 [34] Medienkompetenz heißt aber auch, sich den Grenzen und Anforderungen des Mediums selbst bewusst zu sein: Keine noch so ausgefeilte Technik kann die direkte Begegnung mit einem Gegenüber in Fleisch und Blut ersetzen. Die digitale Kommunikation ist unverzichtbarer Bestandteil unserer vielfältigen Kommunikations- und Medienlandschaft, aber eben nur ein Bestandteil von vielen.

Schließlich sollte man sich auch über die Natur des öffentlichen Raums selbst keine Illusion machen: Er war noch nie von einer ausnehmend freundlichen Atmosphäre gekennzeichnet und stand klassisch in der Regel einer kleinen (Bildungs-)Elite offen. Meist erhielten Menschen, die hier regelmäßig auftraten, eine spezielle Schulung in Rhetorik, Autodidakten waren seltene Erscheinungen. Das Internet hat die Zugangshürde radikal gesenkt und den öffentlichen Raum demokratisiert. Nun wimmelt es von "Selbst-Berufenen", die zu allem und jedem ihre Meinung kundtun, egal wie viel oder wie wenig Ahnung und rhetorisches Geschick sich hinter ihren Worten verbirgt.

Das ist ihr demokratisches Recht, aber nun mischen sich vulgäres Gepöbel, geschickte Hetze und schlicht verunglückte Wortmeldungen von "Anfängern", die die Regeln der Debatte erst noch lernen müssen, zu einem manchmal schwer erträglichen Sammelsurium. Die Idee, dass der öffentliche Raum freundlicher werden müsse, ist eine Illusion, er war und wird nie ein Ort für Schüchterne sein. Noch immer und gerade in Demokratien wird hier um die Meinungshoheit gerungen, Macht und Einfluss verteilt. Eigentlich weiß jeder: Wer sich in der Öffentlichkeit exponiert, eventuell noch dazu mit kontroversen Thesen, wird nicht nur auf Freunde treffen, und er sollte wissen, worauf er oder sie sich einlässt. Wer Beschimpfung nicht aushält, sollte vielleicht einfach etwas Schöneres mit seiner Zeit anstellen.


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[5] http://europa.eu/rapid/press-release_IP-16-1937_en.htm
[6] https://netzpolitik.org/2016/hatespeech-verabredung-zwischen-eu-kommission-und-internetfirmen-ngos-kritisieren-willkuer/
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[13] http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buchmesse/themen/salman-rushdie-redet-zur-eroeffnung-der-frankfurter-buchmesse-13854267.htmlauchschon2009;http://www.nzz.ch/nur-wer-seine-geschichte-erzaehlen-kann-existiert-1.2161321
[14] https://kenanmalik.wordpress.com/2016/05/25/connectedness-and-disconnectedness/
[15] https://www.heise.de/tp/features/Meine-Feinde-verteidigen-3458547.html?view=fussnoten#f_10
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[22] http://www.ajs.nrw.de/wp-content/uploads/2016/06/160617_HateSpeech_WEB2.pdf
[23] https://storify.com/Astojap/wehdon-twitter-hate
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