Menschen als "Waffe"?

Flüchtlinge im belarussischen Grenzgebiet nahe Polen. Bild: rbc.ru

Was uns die Flüchtlingskrise an der polnischen Grenze über westliche Werte lehrt

"Gott bewahre Polen vor der Invasion dieser Heuschrecken", kommentierte jüngst ein polnischer Leser eines führenden Nachrichtenportals unter einem Artikel unter dem Pseudonym "Ona". Als "Heuschrecken" werden derzeit jene Migranten aus dem irakischen Teil Kurdistans, aus Syrien oder dem Libanon verunglimpft, die sich der polnischen Grenze von belarussischer Seite nähern.

Ein anderer User mit dem Benutzernamen "realista" weiß, was zu tun ist: "Schießt sie wie Hunde ab! Schickt Scharfschützen und schießt auf jeden, der sich der Grenze nähert." Die Administratoren der Webseite hielten es nicht für nötig, die Hasskommentare zu entfernen. Mehr noch, die beiden Einwürfe führen die Liste der Postings mit den meisten Likes an.

Die beiden Beispiele stammen nicht von einem rechten Blog oder aus einem rechtsextremen Telegram-Chat. Zu finden sind die Kommentare unter einem Beitrag des polnischen Wirtschaftsportals forsal.pl, laut Wikipedia eine der reichweitenstärksten Nachrichtenseiten des Landes mit den Schwerpunkten Wirtschaft und Finanzen mit Millionen Aufrufen monatlich.

Anlass für die Kommentare war ein Artikel, in dem die These aufgestellt wird, Russlands Präsident Wladimir Putin wolle Europa mit Migranten überschwemmen, "um eine neue militärische Offensive in der Ukraine oder im Nahen Osten zu starten". Das Nachrichtenportal berief sich dabei auf General Roman Polko, einen ehemaligen Kommandeur der Spezialeinheit Grom:

An der Grenze zu Weißrussland haben wir es mit einer Invasion grüner Männchen wie auf der Krim zu tun (…). Daher sollte die Nato seiner Meinung nach in dieser Frage Stellung beziehen, da die Ostgrenze Polens auch die Grenze des Bündnisses ist. (…) "Die Ostgrenze Polens ist die Ostgrenze der Nato. Das Bündnis sollte klar und deutlich betonen, dass es nicht zulässt, dass grüne Männchen hier eindringen, wie auf der Krim. Internationale Konventionen besagen, dass ein Grenzschutzbeamter oder ein Soldat mit einer Waffe, aber ohne Uniformabzeichen, wie ein gewöhnlicher Bandit behandelt werden kann und dass eine solche Warnung ausgesprochen werden sollte, dass diese dünne rote Linie bereits überschritten wurde", sagte General Polko. Seiner Meinung nach ist die Haltung der Nato in dieser Frage umso notwendiger, als viele Flugzeuge mit Migranten Weißrussland unter anderem aus dem Gebiet des Nato-Mitglieds Türkei ist.

forsal.pl

Warum werden Mordaufrufe toleriert?

Unabhängig von dieser Ansicht des polnischen Militärs stellt sich mit Blick auf das Forum die Frage, weshalb von einer eigentlich seriösen Nachrichtenquelle Mordaufrufe toleriert werden. Eine der möglichen Antworten könnte lauten, dass das Schüren fremdenfeindlicher Hysterie den Interessen der herrschenden polnischen Politklasse dient, wobei sich Hass auf Migranten leicht mit Hass auf Russland und Putin verbinden lässt.

Polnische Politiker geben dabei rhetorisch die Richtung vor, indem sie Migranten und Flüchtlinge wiederholt als "hybride Waffe" bezeichnen und die Ansammlungen friedlicher Zivilisten an der Grenze - überwiegend Männer im jüngeren und mittleren Alter, aber auch viele Familien mit Frauen und Kinder - als Instrument eines militärischen Kräftemessens sehen.

Die rechtskonservative polnische Führung stellt sich als Retterin des Abendlandes vor einer bevorstehenden Invasion der Barbaren dar. Es sollen künftig 50 Millionen kommen, warnte der polnische Premier Mateusz Morawiecki seine westlichen Nachbarn zuletzt.

Nun soll ein Zaun entlang der ganzen polnisch-belorussischen Grenze aus dem Boden gestampft werden, die Nato tritt auf den Plan. Das bedeutet: Gelder, Hilfsprogramme und eine weitere Militarisierung des ganzen Gebiets. Wer erinnert sich da noch an den Streit Polens mit EU um Rechtsstaatlichkeit und Umgang mit Homosexuellen?

SZ: Auch deutsches Papier bezeichnet Menschen als "hybride Waffen"

Die Entmenschlichung von Migranten ist aber keine allein polnische Erfindung. Der Aufbaustab "Strategie-, Analyse- und Resilienz-Zentrum" (SAR) legte noch im April dem deutschen Außenministerium und dem Verteidigungsministerium ein Geheimpapier vor, das Migranten als künftige "hybride Waffe" in der Hand des "belarussischen Diktators" Alexander Lukaschenko bezeichnet. Das entsprechende Vokabular hat die deutsche Politik seitdem übernommen.

Nun ähneln sich die Erzählungen, die der deutsche Außenminister Heiko Maas, Zeitungen wie die FAZ oder die EU-Kommission bereits seit mehreren Wochen gebetsmühlenartig wiederholen: Belarus führe einen "hybriden Krieg" gegen die EU und setze dabei Migranten als Waffen ein. Polen müsse sich gegen diesen Angriff verteidigen und dürfe dabei auf uneingeschränkte Solidarität Deutschlands und der EU zählen.

Es ist deshalb kein Zufall, dass einflussreiche deutsche Medien, die sonst überall in der Welt präsent sind, keine Korrespondenten nach Belarus schicken, sondern aus Polen berichten, obgleich dessen Regierung und Sicherheitsbehörden das Grenzgebiet für Journalisten gesperrt haben.

Folgerichtig stützen sie in ihren Berichten überwiegend auf Meldungen des polnischen Militärs. Bei allen anderen Flüchtlingskrisen waren aber vor allem die deutschen Journalisten nah am Geschehen, um eigene Einschätzungen zu liefern.

Dementsprechend konnten deutsche Journalisten nicht vor Ort überprüfen, ob polnische Sicherheitskräfte Migranten am 16. November mit ätzenden Chemikalien für Schädlingsbekämpfung besprüht haben. Mehr als hundert Menschen, darunter zwei Dutzend Kinder sollen dabei nach Angaben russischer Medien Verletzungen erlitten haben; belarussische Behörden hätten daraufhin ein Ermittlungsverfahren eröffnet.

Müssen wir das Leid aushalten?

Die Bilder der mutmaßlich unter dem Chemiewaffenangriff leidenden Menschen schafften aber nicht ins deutsche Fernsehen. Doch auch wenn sie es auf die deutschen Bildschirme geschafft hätten, sollte sie die deutsche Gesellschaft – um mit Sachsens Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) zu sprechen – aushalten können.

Es gibt auch hierzulande aber noch Stimmen, die die Strategie der Entmenschlichung in Bezug auf Flüchtlinge durchschauen. So widersprach die Linken-Abgeordnete Andrea Johlige dem brandenburgischen Innenminister nach dessen Vorwurf einer "hybriden Kriegsführung". Damit würden ohne Not falsche Assoziationen geweckt:

Das assoziiert Krieg. Wir sind nicht im Krieg. Wenn schutzsuchende Menschen als Waffen in der hybriden Kriegsführung gebrandmarkt werden, dann entmenschlicht das und rechtfertigt Notstand und außergewöhnliche Maßnahmen.

Aber solche Stimmen stellen derzeit Minderheitsmeinung dar.

Gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention, die auch Polen unterzeichnet hat, darf das Land Asylsuchende nicht bestrafen, auch nicht für einen "irregulären Grenzübertritt".

Nun verletzt Polen die UN-Konvention vor aller Augen und bekommt dafür selbst von den Vereinten Nationen kaum Kritik. Eine Vertreterin Internationale Organisation für Migration <x>floh an der belarussisch-polnischen Grenze regelrecht vor den Fragen eines Reporters, als er sie über den polnischen Chemikalien-Angriff gegen Migranten, Journalisten und weißrussische Grenzschützer befragte.

Gespielte Betroffenheit hier, Härte und Gleichgültigkeit dort. Man kann zwar nicht sagen, dass Flüchtlinge und Migranten in Europa grundsätzlich unerwünscht sind. Fakt ist aber, dass das Verfahren gegen den ehemaligen italienischen Vize-Premier und Innenminister Matteo Salvini für das, was jetzt Polen tut – Verhinderung der Migration – noch immer läuft.