Migration und Asylrecht: Entgrenzte Debatte um Abschottung
Ex-Linke rechnet manipulativ, CDU-Politiker nutzt Schockwirkung von Dschihadisten-Demo in Essen. Warum war dieser Aufmarsch überhaupt erlaubt? Ein Kommentar.
Von der Ex-Chefin der Linksfraktion im Bundestag über den Ex-Minister mit CDU-Parteibuch bis zur AfD versuchen sich gefühlt alle mit dem Thema "irreguläre Migration" und deren Eindämmung zu profilieren.
Ob es der Antisemitismus ist oder die soziale Schieflage – im Zweifel liegt scheinbar immer ein Großteil der Schuld bei denjenigen, die rechtlich und ökonomisch am schwächsten sind und im Zweifel aus dem Land geworfen werden können.
Allein deshalb scheint die politische Klasse zumindest einige von ihnen zu brauchen – sonst käme ja irgendwann heraus, dass ohne sie nicht alles gut wird. Wer diese Funktion (altmodisch: Sündenbockfunktion) erfüllen soll, hat natürlich idealerweise kein Wahlrecht. Aber der Reihe nach.
Sahra Wagenknecht, die erst vor wenigen Wochen aus der Partei Die Linke ausgetreten ist und bald ihre eigene Partei gründen will, erweckte zuletzt im ARD-Talk mit Sandra Maischberger den Eindruck, Rentnerinnen müssten neidisch auf die finanziellen Leistungen für Asylsuchende sein.
Faktenferne Neiddebatte
"Pro Geflüchteten kostet es den Staat 20.000 Euro pro Jahr. Das sind im Monat 1.700 Euro", betonte Wagenknecht. "Erklären Sie mal einer Rentnerin, die ihr Leben lang hart gearbeitet hat, die zwei Kinder großgezogen hat, die von 1.700 Euro Rente nur träumen kann, diese Ausgaben."
Dass dies nicht der Betrag ist, den Asylsuchende monatlich als Lohnersatzleistung ausgezahlt bekommen, ließ Wagenknecht zunächst unter den Tisch fallen: Das Asylbewerberleistungsgesetz stellt die Betroffenen finanziell sogar schlechter als Personen oder Bedarfsgemeinschaften im Bürgergeld-Bezug – und auch die erhalten keine monatlichen Überweisungen von 1.700 Euro pro Kopf, sondern weit weniger.
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Der Regelsatz für Alleinstehende beträgt aktuell 501 Euro plus Mietkosten, die in kleineren oder größeren Städten variieren können – selbst in Berlin-Mitte liegt hierbei der Richtwert für einen Single-Haushalt allerdings nur bei 426 Euro, in Hamburg bei 543 Euro und in Deutschlands teuerster Großstadt München bei 781 Euro.
Aber das nur am Rande – schließlich leben Asylsuchende meist erst einmal gar nicht in Wohnungen, sondern in Sammelunterkünften, die trotz schlechterer Wohnqualität und Mangel an Privatsphäre oft mehr Kosten verursachen, unter anderem für Wachpersonal.
Asylsuchende erhalten auch nicht 501 Euro pro Monat als Regelsatz, sondern insgesamt 401 Euro, davon stehen ihnen aber nur 182 Euro als Geldleistung zu – der Rest gegebenenfalls als Sachleistung. Erst nach 18 Monaten Aufenthalt steigen die Leistungen auf Bürgergeld-Niveau.
Das soll aber in Zukunft erst nach 36 Monaten der Fall sein – so lautet eines der Ergebnisse des sogenannten Flüchtlingsgipfels von Bund und Ländern, der diese Woche im Kanzleramt stattfand. Diese Änderung soll zum 1. Januar 2024 in Kraft treten. Außerdem will die Bundesregierung Möglichkeiten prüfen, Betroffene in Zukunft gleich außerhalb der EU auf den Ausgang ihrer Asylverfahren warten zu lassen.
Die Ergebnisse des Bund-Länder-Treffens werden in linken Kreisen als Zugeständnisse an die AfD kritisiert; sie reichen den meisten anderen politischen Mitbewerbern der Ampel-Bundesregierung aber noch nicht.
Nachdem Wagenknecht mit ihrem Rentnerinnen-Beispiel den uninformierten Teil des TV-Publikums zur Neiddebatte eingeladen hatte, ließ sich der CDU-Politiker und Ex-Gesundheitsminister Jens Spahn im ZDF-Talk mit Markus Lanz nicht lange bitten und sprach jene Zielgruppe an, der es wichtig ist, moralisch auf der richtigen Seite zu stehen und aus der deutschen Geschichte gelernt zu haben.
Dschihadisten-Aufmarsch als willkommene Horrorshow?
Als Schock-Beispiel für unerwünschte Wirkungen von Migration wählte er den Islamisten-Aufmarsch am vergangenen Freitag in Essen. Dort war allen Ernstes ein "Kalifat" als Lösung des Israel-Palästina-Konflikts propagiert worden – bärtige Männer dominierten mit "Allah-u akbar"-Rufen; Geschlechtertrennung wurde praktiziert und Flaggen erinnerten an die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS).
Angemeldet hatte das Spektakel die "Generation Islam". Sicherheitsbehörden gehen aber davon aus, dass auch Mitglieder der verbotenen "islamischen Befreiungsfront" Hizb ut-Tahrir anwesend waren.
Spahn sprach bei Lanz von "importiertem Antisemitismus", der nicht "angeboren", sondern "angelernt" sei: "Wir haben sehr starke Migration gehabt - in den letzten Jahren, aber auch schon in den Jahren davor - aus einem kulturell geprägten Raum, wo eben Antisemitismus auch Teil der Alltagskultur ist, am Mittagstisch, in zu vielen Moschee-Gemeinden, abends, wo man unterwegs ist."
Antisemitische Demonstrationen fänden "auf deutschen Straßen" jeden Tag statt "Wir sagen alle: 'Nie wieder ist jetzt und das muss aufhören!' Aber es hört nicht auf." Angesichts dessen müsse man über die Themen Versammlungsrecht, Strafrecht und Einbürgerung diskutieren: "Die Konsequenz muss doch sein, dass wir niemanden mehr einbürgern, der nicht das Existenzrecht Israels anerkennt."
Die Frage ist aber, warum der gespenstische Aufmarsch in Essen überhaupt erlaubt war und ohne polizeiliches Eingreifen stattfinden konnte – ein Umstand, der angesichts der demagogischen Asyldebatte fast schon zu Verschwörungstheorien einlädt. Die Rechtsgrundlage für ein Verbot müsste eigentlich vorhanden gewesen sein.
In Berlin waren weit harmlosere Versammlungen verboten
Schließlich hatte die Berliner Polizei zuvor weitaus harmlosere Versammlungen zu dieser Thematik verboten, etwa eine angemeldete Kundgebung unter dem Motto "Jüdische Berliner:innen gegen Gewalt in Nahost – Gegen den Mord an unseren Mitmenschen in Gaza, jüdische und palästinensische Menschen haben das gleiche Recht zu leben" sowie "jegliche Ersatzveranstaltungen" im Zeitraum von sieben Tagen.
Nach Polizeiangaben vom 13. Oktober geschah dies nach "Bewertung aller Umstände und Erkenntnisse sowie der Abwägung sämtlicher Interessen – insbesondere dem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit".
Manche Aktivisten der Palästina-Solidarität gaben sich in Social-Media-Diskussionen sogar überzeugt, dass es eine bewusste Entscheidung gewesen sei, Dschihadisten freien Lauf zu lassen und gemäßigte Versammlungen sowie reine Friedensdemos zu verbieten, um ihr Anliegen in der deutschen Öffentlichkeit zu diskreditieren.
Diese Spekulation muss niemand teilen – es kann auch einfach eine Fehleinschätzung gewesen sein. Vielleicht waren die Zuständigen in Essen der Meinung, dass in Berlin über das Ziel hinaus geschossen wurde und eine liberalere Herangehensweise nötig sei, damit sich Muslime nicht unter dem Radar der Sicherheitsbehörden radikalisieren.
Fakt ist aber, dass die Bilder des islamistischen Mobs nun entsprechend genutzt werden, um Gesetzesverschärfungen sowohl im Versammlungs- als auch im Asyl- und Einbürgerungsrecht zu fordern.