Militärische Lage der Ukraine: "Können Volk und Partner nicht ewig belügen"
Selenskyj (li.) grüßt Saluschnyj (re.) – die Harmonie ist vorbei. Bild: president.gov.ua, CC BY 4.0
Präsident Selenskyj stößt auf heftigere Kritik. Militärische Lage erscheint aussichtslos. Wie das in Europa wahrgenommen, in Deutschland aber oft ignoriert wird.
Die Winteroffensive der Ukraine ist bislang erfolglos geblieben, ein Scheitern zeichnet sich ab. Während dieser Umstand in den politischen Diskurs Deutschlands kaum Eingang findet, stellt sich die Erkenntnis im europäischen Ausland ein.
"Der politische Waffenstillstand in der Ukraine ist beendet", schreibt der spanische Journalist Cristian Segura in der Tageszeitung El País. Die Ukraine, fügt Segura an, "blickt einer düsteren Zukunft auf dem Schlachtfeld entgegen".
Der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, erhebt schwere Vorwürfe gegen Präsident Selenskyj und beschuldigt ihn, zu viel Macht an sich zu ziehen und das Land auf einen autoritären Weg zu führen. El País verweist auf ein selten kritisches Interview im deutschen Nachrichtenmagazin Der Spiegel: Man würde sich nicht mehr von Russland unterscheiden, wenn alles von der Laune eines einzigen Mannes abhänge.
Die politische Landschaft der Ukraine, bereits durch die russische Invasion am 24. Februar 2022 erschüttert, stehe vor neuen Umbrüchen, schätzt der Ukraine-Kenner Segura ein. Klitschko, der seit neun Jahren Kiews Bürgermeister ist und einst als Präsidentschaftskandidat antrat, habe in zwei Interviews eine neue kritische Phase im politischen Leben des Landes eingeläutet.
Klitschko nutze die wachsende Unzufriedenheit in der Gesellschaft und kritisiere Selenskyj dafür, dass er das Land nicht angemessen auf die russische Invasion vorbereitet habe. In einem Interview mit dem Schweizer Nachrichtenportal 20min.ch äußerte Klitschko: "Die Leute fragen sich, warum wir nicht besser auf diesen Krieg vorbereitet waren, warum Selenskyj bis zum letzten Moment geleugnet hat, dass er kommen würde (...) oder (wie) die Russen so schnell nach Kiew kommen konnten."
Isoliert Selenskyj das Parlament?
Der ehemalige Schwergewichtsboxchampion und Oppositionsführer beklagte auch, dass Selenskyj die Macht monopolisiere und die Regierung sowie die Rada, das ukrainische Parlament, in dem seine Partei die absolute Mehrheit hat, in den Hintergrund dränge. Klitschko betonte, dass in der zunehmend zentralistisch geprägten Ukraine die einzige Gegenmacht die Stadträte seien.
Der Spiegel, dessen Berichterstattung sich in diesem Punkt zuletzt sichtlich geändert hat, führte ebenfalls ein Gespräch mit dem Abgeordneten Oleksiy Honcharenko, der prominentesten Stimme der Europäischen Solidarität, der größten Oppositionspartei der Ukraine.
Honcharenko kritisierte Selenskyj für seine unritterliche Kontrolle über die Medien, insbesondere über die Nachrichtensendungen, die nach Beginn des Krieges geschaffen wurden: "Der Anführer fühlt sich wohl damit, dass es keine Kritik gibt und er einen Großteil der Medien kontrolliert."
Inmitten des für die Ukraine nicht gut laufenden Krieges mehren sich zudem die Anzeichen dafür, dass es zu einem ernsthaften Zerwürfnis zwischen der Selenskyj-Führung und der Armee gekommen ist. Es verdichteten sich die Hinweise, dass es zu einem Vertrauensbruch zwischen Präsident Selenskyj und seinem Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj gekommen ist, schrieb die Ukrainska Pravda unlängst.
Schon seit einiger Zeit schien das Verhältnis belastet. Doch nach offener Kritik Saluschnyjs an politischen Entscheidungen der Regierung scheint der Bruch nun immer offenkundig.
Ukraine: Verteidigungsminister Saluschnyj kritisiert Selenskyj
Gegenüber dem US-Verteidigungsminister Lloyd Austin habe Saluschnyj beklagt, das Präsidialamt mische sich zunehmend in seine Kompetenzen ein. Die Zeitung zitierte mehrere Vertraute des Generals, denen zufolge Saluschnyj von der politischen Führung übergangen werde. Statt mit ihm als Oberbefehlshaber kommuniziere Präsident Selenskyj derzeit direkt mit dem Kommandeur der Landstreitkräfte, Oleksandr Syrskyi, und mit dem Chef der Luftwaffe, Mykola Oleshchuk.
Im November vergangenen hatte der General gegenüber The Economist erklärt, es gebe keine Anzeichen dafür, dass sich die Lage an der Front zugunsten der Ukraine verändern würde und sich das Land auf einen langfristigen Krieg einstellen müsse.
Klitschko zu Selenskyj-Gegenspieler Saluschnyj: "Er hat die Wahrheit gesagt"
Selenskyj wies die Behauptungen von Saluschnyj öffentlich zurück und argumentierte, die Front sei nicht festgefahren, und die Ukraine brauche keine negativen Nachrichten. In diesem Streit unterstützte Klitschko den General: "Er hat die Wahrheit gesagt", sagte Klitschko im Gespräch mit der 20min.ch. "Manche wollen die Wahrheit vielleicht nicht hören, (aber) wir können unser Volk und unsere Partner nicht ewig belügen."
Auf die Frage, ob er Präsident werden wolle, vermied Klitschko eine Antwort und erklärte, dass er in der gegenwärtigen Situation Selenskyj gegenüber loyal bleiben müsse. Bei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen hätten der derzeitige Präsident und seine Partei, der Diener des Volkes, laut Umfragen nach wie vor eine breite Unterstützung.
Die Präsidentschaftswahlen müssen im März 2024 abgehalten werden. Die Wahlen zur Erneuerung des Parlaments hätten im Herbst stattfinden sollen, aber nach der Verfassung kann eine Wahl nicht unter Kriegsrecht abgehalten werden. El País schreibt dazu:
Im Sommer diskutierte Selenskyjs Team, ob es eine gute Idee sei, nach der Verfassungsreform Präsidentschafts- und Parlamentswahlen abzuhalten. Doch obwohl Selenskyj die Wahl wahrscheinlich gewinnen würde, zeigen Umfragen, dass die Bevölkerung aufgrund der Herausforderungen, die die Mehrheit der Stimmen einschränken würden, nicht zu den Urnen gehen will, z. B. weil die von Russland besetzten Gebiete nicht wahlberechtigt wären und auch Millionen von Ukrainern, die ins Ausland gezogen sind, nicht wählen dürften.
Geldgeber drängen auf Demokratie
Doch in den Vereinigten Staaten – neben der Europäischen Union Kiews wichtigster finanzieller und militärischer Unterstützer – würde immer entschiedener eine Stärkung der Demokratie gefordert.
Für Selenskyj bestehe das Problem darin, dass seine Zustimmungswerte immer weiter sinken, je mehr Zeit vergeht. Der Economist veröffentlichte letzte Woche eine Umfrage, die nur 30 Prozent Unterstützung für Selenskyj ergab, verglichen mit 70 Prozent für Saluschnyj.
Der Economist berichtete auch, dass Saluschnyj von der ukrainischen Präsidentschaft unter Druck gesetzt wurde, seine öffentlichen Interviews einzuschränken. Quellen, die dem Oberbefehlshaber nahestehen, sagten dieser Zeitung im April letzten Jahres, dass das Büro des Präsidenten von Saluschnyj verlangte, nicht mit den Medien zu sprechen, um seine Popularität einzuschränken.
Unterdessen untergraben nach dem Bericht von El País Korruptionsfälle und schlechte militärische Ergebnisse an der Front Selenskyjs Popularität. Die im Juni begonnene ukrainische Gegenoffensive ist gescheitert, und der Feind rückt an den Fronten von Donezk und Charkiw vor.
Umfragen zufolge ist die Bevölkerung es leid, Opfer zu bringen, um weiter gegen Russland zu kämpfen. Sowohl Klitschko als auch Honcharenko sind nationalistischere Politiker als Selenskyj und noch weniger geneigt, Russland irgendetwas zuzugestehen.
Widersprüchliche Umfragen in Ukraine
Aber es gibt auch andere Politiker, die die Aufnahme von Friedensverhandlungen befürworten und die zunehmend an Bekanntheit gewinnen. Der prominenteste von ihnen ist Oleksij Arestowytsch, ein ehemaliger Vertrauter von Selenskyj.
Entscheidungen, die auf Vernunft und nicht auf Emotionen beruhen, sind schwer zu treffen, solange russische Truppen in der Ukraine bleiben. Laut einer Gallup-Umfrage vom Oktober letzten Jahres sind 60 Prozent der Bevölkerung dafür, so lange zu kämpfen, bis die Russen aus dem gesamten Gebiet vertrieben sind, darauf verweist auch der spanische Journalist Segura.
Unterstützt werden solche Umfragen von Berichten über russischen Gräueltaten. Viral ging zuletzt ein Video der Hinrichtung von zwei ukrainischen Soldaten, die sich in einem Schützengraben an der Front ergeben hatten.
Die ukrainische Armee hat die Aufnahmen bestätigt, und die ukrainische Staatsanwaltschaft hat eine Untersuchung wegen eines möglichen Kriegsverbrechens eingeleitet.