zurück zum Artikel

Militärstrategien: Wie die atomare Bedrohung zugenommen hat

Lockheed Martin F-35. Bild: Robert Sullivan

Nicht erst seit dem russischen Angriff auf die Ukraine ist die Gefahr einer nuklearen Konfrontation konkreter geworden. Eine Debatte darüber steht aus

Der Brigadegeneral a. D. und ehemalige militärpolitische Berater von Angela Merkel, Erich Vad, steht mit seiner Warnung nicht alleine, etwaige Lieferungen schwerer Waffen an die Ukraine könnten den "Weg in den dritten Weltkrieg" ebnen [1].

Dennoch werden solche Stimmen derzeit von der Kritik an Bundeskanzler Olaf Scholz‘ Zögern in dieser Frage übertönt: Er sei ein Zauderer, wie es die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Bundestag, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, formulierte. Und: Der Bundeskanzler habe "Ladehemmungen" [2].

Die Boulevardzeitung Bild berichtete vom Nato-Außenministertreffen [3]: "Nachdem die Lieferung schwerer Waffen aus Sorge vor einer Eskalation des Konflikts bislang nicht zur Debatte stand, hatten die Nato-Außenminister bei ihrem am Mittwoch in Brüssel einen Kurswechsel eingeläutet."

Demgegenüber hatten westliche Partner der Regierungen der Ukraine seit der umstrittenen Installierung einer Nato-freundlichen Führung im Jahr 2014 nach Informationen der aktuellen Kiewer Regierung "bereits 1,5 Milliarden US-Dollar an militärischer Hilfe zur Verfügung gestellt [4]".

Diese Zahl ist vermutlich zu tief angesetzt. Bereits die US-Regierung unter Präsident Barack Obama (2009-2017) trug nach 2014 mit Waffenlieferungen zur Verschärfung des Konflikts um die Ukraine bei, wie 2015 in der Frankfurter Rundschau zu lesen war [5]:

Nach Darstellung der New York Times sind Außenminister Kerry, Noch-Verteidigungsminister Chuck Hagel und Generalstabschef Martin Dempsey inzwischen offen für eine Debatte über die Lieferung von Waffen wie Aufklärungsdrohnen und Panzerabwehrraketen. (...) Eine Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrates (...) deutete (...) an, dass darüber nun in Washington diskutiert werde: "Obwohl wir uns weiterhin darauf konzentrieren, eine Lösung mit diplomatischen Mitteln zu erreichen, prüfen wir immer auch andere Optionen, die möglicherweise Raum für eine Verhandlungslösung schaffen."

Frankfurter Rundschau, "USA erwägen Waffenlieferungen", 02.02.2015

Die USA prüften also bereits vor acht Jahren nicht-diplomatische Mittel, also militärische Gewalt, im Ukraine-Konflikt. Das macht die Bedeutung von Nato-Manövern wie "Rapid Trident", die schon vor Jahren in der Ukraine stattfanden, verständlicher:

Der Schnelle Dreizack unterstützt die Interoperabilität zwischen der Ukraine, den Vereinigten Staaten, der Nato und den Mitgliedsländern der Partnerschaft für den Frieden. (...) Der Schnelle Dreizack ist Teil des US-Europäischen Befehls- und Trainingsprogramms, das entwickelt wurde, um die gemeinsame, kombinierte Interoperabilität mit den verbündeten und Partnernationen zu verbessern.

konjunktion.info, 06.05.2014 [6]

Ukraine: Risiko durch Atomkraft und Krieg

Dies findet in einem Staat statt, der circa 60 Prozent seines Stroms in Atomkraftwerken produziert und in dem der US-amerikanische Konzern Westinghouse Electric an einer weiteren Nuklearisierung beteiligt [7] ist. Die parallel dazu verlaufende Militarisierung steigert die Gefahr einer nuklearen Katastrophe [8] auch unterhalb Schwelle zum Atomkrieg.

Neben der Bewaffnung der Armee der Ukraine haben Nato-Staaten, allen voran Großbritannien und die USA, eigene Aktivitäten entfaltet, die Sorgen vor einem Atomkrieg berechtigt erscheinen lassen. Der britische Stopwar-Blog berichtete schon vor Kriegsbeginn [9]:

Trotz wiederholter Warnungen des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, dem zufolge die USA Spannungen an der Ostgrenze der Ukraine befördern, hat die US-Luftwaffe vier B-52-Bomber mit nuklearen Ressourcen (capabilities) nach Großbritannien entsandt. Ein Beamter bestätigte, dass der Einsatz zumindest teilweise mit den jüngsten militärischen Aktivitäten Russlands zusammenhängt. (...) Das US-Militär spielte den Vorgang herunter und erklärte, es handele sich um eine "seit langem geplante Mission der Bomber Task Force".

stopwar.org.uk, 15.02.2022

Dieser Vorgang bettet sich in eine oft übersehene Entwicklung ein: Einen Monat vor Kriegsbeginn machte das US-Magazin Newsweek einige Details publik [10], die darauf hindeuten, dass ungeachtet aller Betonung von Menschenrechten und Verweisen auf eine – wie es seitens der Nato heißt – wertebasierte Militärpolitik Pläne bestehen, die einen nuklearen Schlagabtausch zumindest billigend in Kauf nehmen:

Die nukleare Option folgt der Strategie der Abschreckung möglicher Angreifer, auch in Europa, wie es das großangelegte Manöver "Global Lightning" im vergangenen Jahr verdeutlichte, mit dem Szenario einer angenommenen russischen Invasion in den baltischen Staaten, die schließlich zum Einsatz von Atomwaffen führte.

Newsweek, "As Russia-Ukraine Tensions Rise, U.S. 'Stress Tests' New Nuclear War Plan", 29.01.2022

Die Eskalation der Atomkriegsgefahr ist entsprechend schon seit längerem Teil der Nato-Strategie: 2014 fand im nordrhein-westfälischen Kleve eine Strategiekonferenz der Nato-Strategieschmiede JAPCC statt, die von einem großen Krieg in Europa ausgeht [11], der nahe der russischen Westgrenze entbrennt, etwa im Baltikum, der Ukraine oder in Georgien:

Die zwei Jahrzehnte lang geltende Annahme, dass es in Europa keinen größeren Krieg geben wird, ist anzuzweifeln (is in some doubt).

Air & Space Power in Nato, Seite 141

Die Konferenz forderte vor diesem Hintergrund einen angemessenen Mix aus nuklearen und nicht-nuklearen Fähigkeiten (appropriate mix of nuclear and conventional capabilities).

Air & Space Power in Nato, Seite 70

Atomwaffen: Nato einigte sich 2017 auf "Rahmen für Abschreckung"

Eine Folgekonferenz, die 2017 in der Messe Essen stattfand, erklärte, dass eine Strategie der konventionellen Abschreckung zu kostspielig sei:

lternativ dazu könnte eine Senkung der Nuklearschwelle und die Wiedereinführung von nuklearen Mittelstreckenkräften in Betracht gezogen werden.

Air & Space Power in Nato, Seite 13 [12]

Die Option eines Nuklearkrieges erscheint einigen Militärs als finanziell günstigere Alternative. Das wird immer konkreter, wie Mitte 2020 ein Bericht der Frankfurter Allgemeinen Zeitung deutlich machte [13]:

Bei der Nato ist britisches "Understatement" angesagt. Wie beiläufig kündigte der Generalsekretär Jens Stoltenberg am Dienstag an, die Verteidigungsminister würden Entscheidungen zu "Abschreckung und Verteidigung" treffen, "einschließlich unserer Antwort auf neue nuklearfähige Raketen aus Russland". (...) Es klang wie Routine, tatsächlich war es jedoch ein Einschnitt. Von "substantiellen und bedeutsamen Schritten" sprach ein Eingeweihter. Die Allianz habe sich auf einen "Rahmen für die Abschreckung" geeinigt, wie es ihn seit den Sechzigerjahren nicht mehr gegeben habe. Also seit der heißesten Zeit des Kalten Krieges und der nuklearen Konfrontation zwischen den Supermächten. Leider könne man aber nicht mehr verraten, denn die Pläne seien streng geheim.

FAZ, "Die Nato kann früher mit Atomschlägen drohen", 17.06.2020

Die Nato-Nuklearstrategie steigert die Spannungen, sie bringt Europa näher an die Unbewohnbarkeit infolge eines nuklearen Infernos – und sie wird der Bevölkerung als Sicherheitspolitik teuer verkauft.

Die im Frühjahr dieses Jahres anstehenden Nato-Tagungen werden die Forderungen für Aufrüstung und Abschreckung weiter in die Öffentlichkeit tragen. Organisationen der Friedens- und Umweltbewegung sind gefordert, sich zu diesen Strategemen, die eine finale Katastrophe in Kauf nehmen, zu verhalten. Es gilt: Peace for Future.


URL dieses Artikels:
https://www.heise.de/-6721089

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.nordkurier.de/politik-und-wirtschaft/ex-merkel-berater-warnt-bei-waffenlieferungen-vor-drittem-weltkrieg
[2] https://www.n-tv.de/politik/Strack-Zimmermann-Scholz-koennte-Ladehemmung-haben-article23262448.html
[3] https://www.bild.de/politik/ausland/politik-ausland/ukraine-krieg-nato-chef-stoltenberg-waere-bereit-kiew-auf-jahre-mit-waffen-belie-79713224.bild.html
[4] https://www.dw.com/de/wer-liefert-welche-waffen-an-die-ukraine/a-60744954
[5] https://www.fr.de/politik/erwaegen-waffenlieferungen-11162568.html
[6] https://www.konjunktion.info/2014/05/manoever-in-der-ukraine-ist-die-nato-von-sinnen/
[7] https://taz.de/Verzoegerung-beim-Sarkophag-Neubau/!5497483/
[8] https://taz.de/Neue-Atomreaktoren-in-der-Ukraine/!5817755/
[9] https://www.stopwar.org.uk/article/amid-ukraine-crisis-us-deploys-nuclear-ready-b-52-bombers-to-uk/
[10] https://www.newsweek.com/russia-ukraine-tensions-rise-us-stress-tests-new-nuclear-war-plan-1674324
[11] http://www.japcc.org/wp-content/uploads/Future_Vector_II_web.pdf
[12] https://www.japcc.org/wp-content/uploads/JAPCC_Conf_2017_Proceedings_screen.pdf
[13] https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/die-nato-kann-frueher-mit-atomschlaegen-drohen-16819571.html