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Mindestlohn: Armut, neu definiert

In der besten aller Wirtschaften drehen die Kapitalisten so lange an der Lohnschraube, bis es selbst dem Staat zu viel wird. Wohlstand bricht bei den Niedriglöhnern damit allerdings nicht aus

Das war doch mal eine gute Nachricht im Bundestags-Wahlkampf: "Aus Respekt vor der Arbeit: 12 Euro Mindestlohn - bessere Bezahlung für 10 Mio." plakatierte die SPD vieltausendfach in der Republik. Andererseits: Sage und schreibe zehn Millionen Arbeitnehmer bekommen derzeit nicht mal zwölf Euro die Stunde. Und noch mal einige Millionen mittelbar Betroffene in den Haushalten kommen hinzu, sind ja nicht alle Singles.

Wie kann das sein in einem der reichsten Länder der Erde? Oder ist es gar kein Widerspruch - Reichtum und niedrige Löhne bedingen einander? Und was heißt eigentlich "Respekt vor der Arbeit"? Ein wohlfeiles Dankeschön dafür, dass man malocht, obwohl man dafür fast nichts bekommt?

Moment mal, ist das dieselbe SPD, die vor fast 20 Jahren mit der "Agenda 2010", "Hartz IV" und der "Entfesselung des Arbeitsmarkts" viele Menschen in gerade die prekären Verhältnisse gestürzt hat, die sie nun als "Partei der Gerechtigkeit" beklagt? Und war es nicht ein gewisser Olaf Scholz, der in seiner Eigenschaft als SPD-Generalsekretär laut Berliner Tagesspiegel 2003 zu diesen Beschlüssen erklärte, sie seien "vernünftig, ausgewogen und deshalb auch zulässig" [1]?

Gut, auch eine Partei wie die SPD darf, passt es gerade, die Vergangenheit ruhen lassen. Und wenn damit ein Punkt gegen den politischen Hauptgegner CDU gemacht werden kann, warum nicht? Außerdem: Bekanntlich versprechen die Parteien vor der Wahl eine Menge. Was dann schließlich in der Regierung umgesetzt wird, ist eine andere Sache.

So weit, so abgezockt in puncto Wahlversprechen. Dennoch darf man der SPD die Sache mit dem Mindestlohn durchaus abnehmen. Das meint sie schon ernst - und ist dabei in zahlreicher Gesellschaft: Die Grünen wollen auch auf 12 Euro erhöhen, sogar ganz schnell, die Linken toppen das generös mit der Forderung nach einem Euro mehr, also 13 Euro - und selbst CDU und FDP sehen das Problem eines aktuell zu niedrigen Kurses, wollen eine Korrektur aber nicht verfügen, sondern der bisher dafür zuständigen Mindestlohn-Kommission überlassen.

Dieses Gremium ist aber auch mit Vertretern der Arbeitgeber besetzt, neben denen von Gewerkschaften und aus der Wissenschaft. Und eben die Kapitalseite war es bisher, die eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns abwehrte.

Zu viel von zu wenig Lohn - aber dagegen kämpfen will der DGB nicht

Die letzte Anhebung am 1. Juli des Jahres brachte 9,60 Euro die Stunde. Für den DGB kein Zustand:

Von 9,60 Euro je Stunde kann niemand, weder auf dem Land und schon gar nicht in den Ballungsräumen der Großstädte, seine Miete bezahlen, seinen Kindern eine Klassenfahrt oder jetzt im Sommer eine Ferienreise ermöglichen. Löhne unter 12 Euro machen arm trotz Arbeit und sorgen letztlich für Altersarmut.

DGB, 30.Juni 2021 [2]

Typisch Gewerkschaft: Die katastrophale Lage der eigenen Leute schildern - und im Leben nicht daran zu denken, dagegen ernsthaft vorzugehen. Einen entsprechenden Arbeitskampf gegen diese angeprangerte Existenznot eines Teils der arbeitenden Bevölkerung plant der DGB daher nicht. Das hatten die Gewerkschaften auch nicht im Sinn gehabt, als die Agenda 2010 anstand.

Einige Gewerkschafter arbeiteten sogar in der "Hartz-Kommission" mit, und im Bundestag stimmten sehr viele Abgeordnete mit DGB-Mitgliedsausweis für die Reformen. Erst als die außerparlamentarischen Proteste immer heftiger wurden, fand man markige Worte - ohne ihnen allerdings Taten folgen zu lassen (vgl. "Kritik, Demonstrationen, die Haltung des DGB und die (Selbst)Zerstörung der SPD [3]").

Dabei zählen zu den aktuellen Niedriglöhnern viele ordentliche Ausbildungsberufe: Friseure, Bäcker, Floristinnen, Kfz-Mechatroniker, Angestellte in Arztpraxen, Anwaltskanzleien, Geschäften und Firmenbüros.1 [4] Und für diese Berufe gibt es Tarifverträge, also gewerkschaftlich unterschriebene Mindestlöhne bereits.

Diese Tarife zeigen in den Branchen den Unternehmen zuverlässig an, wie wenig sie ihren Beschäftigten zahlen dürfen - mit dem Segen der Gewerkschaft. Eine stabile Kalkulationsgrundlage für das Kapital, außerdem verhindern Flächentarife unnötige Konkurrenz der Unternehmen um das Personal, indem sie sich bei Löhnen und Gehältern gegenseitig überböten.

Die Kehrseite: Die Tarifparteien müssen sich auch an die Verträge halten. Da wird die Freiheit der Arbeitgeber, an ihren Mitarbeitern jederzeit und ohne Limits zu sparen, nun einmal eingeschränkt. In der Abwägung zwischen Für und Wider der Mitgliedschaft im tarifgebundenen Arbeitgeberverband haben sich seit der Jahrtausendwende immer mehr Unternehmen für den Austritt entschieden.

Wenn es eine Chance auf Lohndrückerei gibt, nutzen Unternehmen sie

Aktuell sind nur noch rund die Hälfte der Unternehmen tarifgebunden. Die Zahl der Löhne und Gehälter unterhalb der Mindestlöhne in den Tarifverträgen fällt entsprechend hoch aus - rund zehn Millionen eben. Die SPD mit ihrem Arbeitsminister Hubertus Heil wird da schon richtig gerechnet haben. Aber was stört denn aus ihrer Sicht und der der übrigen Parteien an diesem Zustand?

Dass die Unternehmen eiskalt jede Gelegenheit nutzen, ihren Beschäftigten so wenig wie nur irgend möglich zu zahlen? Dass sie damit den Gegensatz rücksichtslos ausreizen zwischen dem Betrieb, der Geld hat, Leute für seinen Gewinn schuften zu lassen, und denen, die darauf angewiesen sind, für diesen fremden Gewinn arbeiten zu dürfen? Dann wäre ja eine ziemlich prinzipielle Kritik am Kapital fällig. Denn offenbar handelt es sich um einen systematischen Umgang mit den Arbeitnehmern, keine Ausnahme.

Nein, mit einer solchen Kritik haben die Bundestagsparteien natürlich nichts am Hut. Lange galt ein gesetzlicher Mindestlohn auch als verpönt. Da paarte sich eine verräterische Sorge der Politik mit der Furcht der Gewerkschaften vor dem Verlust von Gestaltungsmacht: Würde eine allgemein verbindliche Untergrenze nicht viele Arbeitsplätze kosten, weil die Unternehmen dann die mit einem Schlag teureren Beschäftigten entließen? Was doch einem wirtschaftswissenschaftlich gebildeten Menschen einleuchten müsste!

Der arme Betrieb könnte dann halt nicht anders... Die Gewerkschaften wiederum fürchteten um ihre Bedeutung, wenn nicht mehr alle Löhne und Gehälter sie, sondern einige der Staat bestimmte. Zumal damit das Eingeständnis verbunden wäre, dass sie es nicht geschafft haben, ihre Mitglieder vor Dumping-Löhnen zu bewahren.

Bessere Bedingungen schaffen - nicht für die Arbeitnehmer, sondern für die Firmen

In beiden Perspektiven kamen seltsamerweise die unter dem zu wenigen Geld fürs Leben leidenden Menschen überhaupt nicht vor. Dabei wurde die Ideologie ja nicht aufgegeben, dass man mit einer normalen Vollzeitbeschäftigung in diesem Deutschland sein Auskommen haben müsste.

Doch der Staat litt nicht am Dementi durch die Realität wachsender Verarmung. Sondern die umfassenden Reformen des Arbeitsmarkts durch die rot-grüne Bundesregierung 2003 hatten zum Ziel, "Deutschland bis Ende des Jahrzehnts bei Wohlstand und Arbeit wieder an die Spitze zu bringen" (Regierungserklärung Bundeskanzler Gerhard Schröder am 14. März 20032 [5]).

Es ging darum, für die Wirtschaft bessere Bedingungen zu schaffen mit "Agenda 2010", "Hartz IV" und weiteren Programmen: weniger Steuern; Senkung der betrieblichen Lohnnebenkosten durch Erhöhung der Sozialabgaben der Beschäftigten; Lockerung des Kündigungsschutzes; mehr Möglichkeiten für befristete Arbeitsverhältnisse und Leiharbeit; Druck auf Arbeitslose, auch schlechtere Stellen anzunehmen.

Tatsächlich hat die allgemeine Verbilligung der Arbeit die erwünschte belebende Wirkung entfaltet - auf die Wirtschaft. Die Unternehmen haben das staatliche Sonderangebot gern angenommen und weidlich genutzt. Millionen Betroffene indes sind unter das offizielle Existenzminimum gerutscht.

Was aus Sicht des Staates zwei bedenkliche Effekte nach sich zieht: Die Niedriglöhner stocken ihr mageres Einkommen mit Leistungen aus dem Sozialgesetzbuch auf. Und das würde wohl dann auch im Alter so bleiben, weil die Rente selbst für ein noch so bescheidenes Leben nicht reichen würde. Beides belastet nun zusätzlich die Sozialversicherungen, anstatt sie zu entlasten.

Aus Sicht der Sozialpolitiker durfte dies kein Dauerzustand werden: Dass nun sehr viele Menschen trotz Vollbeschäftigung auf staatliche Unterstützung angewiesen sind und entsprechend wenige Beiträge in die Sozialversicherungen einzahlen. Und damit der Staat die Billiglöhne der Betriebe subventioniert.

Direkt hinter der "Armutsgefährdungsgrenze" beginnt das "selbstbestimmte Leben"

Deshalb korrigierte der Staat die negativen Wirkungen auf seinen Sozialhaushalt: Seit 2015 gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn. Wie viel Euro pro Arbeitsstunde nun zum Leben reichen muss, erörtert seither eine eigens hierfür eingerichtete Mindestlohnkommission, besetzt mit Vertretern der Arbeitgeber, der Gewerkschaften und der Volkswirtschaftslehre.

Ihre alle zwei Jahre aktualisierte Empfehlung geht dann an den Bundesarbeitsminister. Die Finanzkontrolle Schwarzarbeit der Zollverwaltung ist dafür zuständig, die Einhaltung des Mindestlohns zu überwachen. Allzu intensiv wurde zumindest in den ersten Jahren nicht kontrolliert. Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft erhielten 2017 rund 1,3 Millionen Arbeitnehmer den Mindestlohn nicht [6].

Aber ohnehin hatte die Große Koalition verständnisvoll den Unternehmen eine Übergangsphase zugestanden - damit sie sich behutsam in ihrer Geschäftskalkulation auf die neue Bedingung einstellen konnten. Irgendwie muss das im Verlauf der Jahre auch gelungen sein. Denn ein größerer Abbau von Arbeitsplätzen aufgrund des Mindestlohns ist nicht eingetreten, es lässt sich auch mit ihm ordentlich Gewinn erzielen.

Andererseits sichert der aktuell gültige Mindestlohn allerdings immer noch nicht das anerkannte Existenzminimum. Für den DGB ist daher klar [7]:

Die Forderung nach 12 Euro entsteht nicht im luftleeren Raum. Gemäß der Armutsgefährdungsgrenze gilt ein Betroffener als arm, wenn er weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens des Landes verdient. Mit dem aktuellen Mindestlohn von 9,60 Euro erzielt man ein Einkommen unterhalb dieser Armutsgrenze.

Falls nun eine neue Bundesregierung einen auf 12 Euro angehobenen Mindestlohn für circa zehn Millionen Menschen beschließt - das soll nun den entscheidenden Unterschied ausmachen zwischen existenzbedrohender Armut und "selbstbestimmtem Leben heute und im Alter"3 [8]? Und ob, rechnet die Süddeutsche Zeitung vor4 [9]:

Wer heute als Verkäuferin, Kellner oder im Bürojob Mindestlohn bekommt, verdient in Vollzeit 1.600 Euro monatlich - vor Abzügen. Bei zwölf Euro wären es 2.000 Euro. Jeder, der Kinder versorgt oder in Ballungsräumen Miete bezahlt, würde das spüren

Ein paar Euro mehr für die Ideologie von der guten Vollbeschäftigung

Circa 400 Euro im Monat brutto trennen also Armut von ordentlichem Leben. Aber wäre nicht mit 500 Euro noch ein Kino- und ein Restaurantbesuch mehr drin, mit 600 Euro vielleicht sogar ein kleiner Urlaub? Und könnte man nicht mit 800 Euro mehr in eine halbwegs anständige Wohnung ziehen? Man merkt: Die richtige Höhe des Betrages ermitteln zu wollen, verfehlt das Thema. Denn wenn es nach den Bedürfnissen der Betroffenen ginge, kämen ganz andere und viel höhere Einkommenssprünge heraus.

Beim Mindestlohn geht es jedoch nicht darum. Sondern der Bedarf der Wirtschaft nach möglichst billigen Arbeitskräften soll in Einklang gebracht werden mit dem staatlichen Anspruch an ein Lohnniveau, das ein Minimum an Existenz ermöglicht - und an Beiträgen für die Sozialversicherungen.

Jeder, der in Vollzeit beschäftigt ist, bekommt gutes Geld und kann davon in Deutschland ordentlich leben. Diese Ideologie lässt sich der Staat vielleicht bald sogar einen Mindestlohn von 12 Euro die Stunde kosten.


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https://www.heise.de/-6207287

Links in diesem Artikel:
[1] https://www.tagesspiegel.de/politik/was-jetzt-vorliegt-ist-verlaesslich/398750.html
[2] https://www.dgb.de/presse/++co++428b52b0-d986-11eb-8dd9-001a4a160123
[3] https://www.heise.de/tp/features/Kritik-Demonstrationen-die-Haltung-des-DGB-und-die-Selbst-Zerstoerung-der-SPD-4972494.html?seite=3
[4] https://www.heise.de/tp/features/Mindestlohn-Armut-neu-definiert-6207287.html?view=fussnoten#f_1
[5] https://www.heise.de/tp/features/Mindestlohn-Armut-neu-definiert-6207287.html?view=fussnoten#f_2
[6] https://www.diw.de/de/diw_01.c.635473.de/mindestlohn__nach_wie_vor_erhalten_ihn_viele_beschaeftigte_nicht.html
[7] https://www.dgb.de/themen/++co++5010367a-ed7a-11e4-a12e-52540023ef1a
[8] https://www.heise.de/tp/features/Mindestlohn-Armut-neu-definiert-6207287.html?view=fussnoten#f_3
[9] https://www.heise.de/tp/features/Mindestlohn-Armut-neu-definiert-6207287.html?view=fussnoten#f_4